Erstarren wir in Angst, gewinnen die Terroristen

Europa hat schon einmal gelernt, mit Terror zu leben – das geht wieder

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Foto)

flughafen1Schon wieder – das sagte sich mancher, als am Dienstag in Brüssel drei Bomben explodierten und 31 Menschen starben.
Vor vier Monaten töteten Terroristen in Paris 130 Personen. Vor 15 Monaten starben auf der Redaktion des Satireblatts «Charlie Hebdo» elf. «In jeder europäischen Stadt ist ein Anschlag möglich», sagt Ex-US-Spion Ali Soufan (44). «Jederzeit.»

Schon wieder? Terror ist die neue Normalität. Selbstmordattentate? Gibt es mitten in Europa.

Es wird unser Leben verändern, aber es hält uns nicht vom Leben ab. «Erstarren wir in Angst, gewinnen die Terroristen», so Soufan. «Wir werden uns daran gewöhnen», sagt der Schweizer Konfliktforscher Kurt Spillmann (78).

Mit Terror umzugehen, ist Routine geworden. Journalisten erzählen die Anschläge in Brüssel nach demselben Drehbuch, das sie schon zweimal in Paris verwendet haben. SonntagsBlick und der deutsche «Spiegel» sind diese Woche bereits wieder mit anderen Titelgeschichten am Kiosk.

Schritten nach «Charlie Hebdo» die Staatschefs noch Arm in Arm durch Paris, reiste diese Woche kaum jemand nach Brüssel.
Das Berner Bundeshaus leuchtete im November in den Farben der Trikolore, als Zeichen der Solidarität mit Paris. Auf belgische Farben verzichtete die Bundeskanzlei diese Woche. Man wollte nicht eigens Lampen aufbauen.

Noch im November wimmelte es auf Facebook und Twitter von französischen Flaggen. Im Januar 2015 wollte jeder «Charlie sein». Brüssel löst weniger Solidarität aus. Abgestumpft sind wir nicht. Aber wir wissen, was Soufan sagt: «Es wird weitere Anschläge geben, die Terroristen aber können Europa niemals bezwingen.»

terror

Es ist nicht das erste Mal, dass Europa lernt, mit Terror zu leben. Mehr Menschen als heute starben in den Terrorwellen der 70er- und 80er-Jahre. Sie rollten über London, Nordirland, Madrid, Bologna, das Baskenland. Israel lebt mit Terror. New York lag am 11. September 2001 in Schutt und Asche. Heute ist die Stadt robust, steht am Ort des zerstörten World Trade Centers ein weitaus höherer Wolkenkratzer.

Anpassung im Kopf
Sicher, es gibt Einschränkungen und Anpassungen. Eine erste ist bereits passiert – im Kopf. Längst ist allen klar: Nicht mehr nur in ­Istanbul und Beirut können Bomben platzen, sondern in Berlin, Brüssel und sogar in Bern.

Mehr fürchten müssen wir uns aber nicht. Rein rational ist die Terrorgefahr gering, sind Zigaretten für das Leben gefährlicher als Dschihadisten. Der Klimawandel ist teurer und tödlicher, und er wird mehr Flüchtlinge zu uns treiben als der Islam. «Brüssel überlebt die Terroranschläge, wird aber vielleicht überflutet werden», kommentierte letzte Woche die «New York Times». Der Meeresspiegel, so eine Studie, steigt schneller an als bislang erwartet.

Mehr Überwachung
Ja, wir werden unsere Privatsphäre ein Stück weit preisgeben. Europäische Gesetzgeber dürften es nationalen Geheimdiensten erlauben, Daten von EU- und auch Schweizer Bürgern auszutauschen. Es darf nicht sein, dass Terroristen rascher und freier reisen als Informationen über sie. Folglich wachsen Sicherheitsapparate. Gute Aussichten auf Spionage-Jobs hat, wer Arabisch spricht und Syrien-Rückkehrer infiltriert.

Videokameras – in Jerusalem, New York und London allgegenwärtig – werden uns künftig auf Schritt und Tritt filmen. Noch weiter gehen wird die Überwachung der digitalen Kommunikation. Vor Fussballspielen und Konzerten, in Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen dürften sich Personenkontrollen häufen.

Europa ist offen. Wer will, besteigt in Istanbul einen Bus, zeigt in Griechenland den Pass, reist dann unbesehen nach Brüssel. Nun werden EU-Länder wohl wieder Passkontrollen einführen. Was Grenzübertritte langwieriger macht. Angesichts der Gefahrenlage scheint das aber akzeptabel.

Am Zürcher Flughafen patrouillierten gestern Polizisten mit geladenen Maschinenpistolen. Es seien mehr als üblich, so eine Sprecherin des Bundesamts für Zivilluftfahrt. «Wir haben weitere Massnahmen ergriffen.» Welche, das sagt sie nicht – «weil das geheim ist».

Reisen ändert sich
Fest steht aber: Reisen wird sich erneut verändern, wie es das seit nunmehr vierzig Jahren tut. Einst entführten Terroristen Passagierjets. Später schmuggelten sie Bomben in Koffern in Flugzeuge. Längst muss Gepäck durch empfindliche Scanner. Mittlerweile ziehen wir bei Kontrollen Schuhe aus, legen Gürtel ab, verzichten auf Sackmesser und Wasserflaschen, nehmen Laptops aus der Aktentasche, gehen sogar durch Nacktscanner.

Brüssel könnte europäischen Flughäfen aber bringen, was in Asien und Afrika längst real ist: Wer nicht fliegt, hat am Flughafen nichts verloren. Wer fliegt, wird früh kontrolliert. Beim Flughafen in Erbil im Nordirak etwa gibt es erste Kontrollen mehrere Kilometer vor dem Terminal. Bevor ein Passagier in Erbil eine Maschine betritt, ist er sechs Mal untersucht worden.

In Istanbul, Moskau oder Beirut werden Passagiere und ihr Gepäck gleich beim Terminaleingang geprüft. In Tel Aviv stoppen bewaffnete Beamte Autos vor der Zufahrt zum Flughafen. Uniformierte wie zivile Polizisten bewachen das Gelände. Reisende werden lange befragt, Kameras zeichnen alles auf.

Folgen für die Wirtschaft
Für den Flughafen Zürich hätte das weitreichende Folgen. Er ist Shoppingcenter wie Bahnhof. Beide müssten schliessen, um Anschläge wie in Brüssel zu verhindern. Terror wirkt sich auf die Wirtschaft aus, jedoch weniger drastisch, als es in den ersten Tagen und Wochen nach Attentaten vorhergesagt wird. Die Sicherheitsbranche boomt, finanziert mit Steuergeldern. Zwar erlebt die Reisebranche zwischenzeitlich einen Einbruch, der ist aber rasch wettgemacht.

Die Welt sich dreht weiter. Börsenkurse fallen nach Anschlägen, erholen sich aber wieder. Als falsch erwiesen sich Untergangsprognosen nach 9/11. Wenige Jahre später waren Immobilien in New York teurer und Löhne höher.

Spätere Anschläge der Al Kaida in Madrid und London wirken sich weniger auf Finanzmärkte aus. Weil nur noch wenige die Fassung verlieren.

Wichtige Schweizer
Schweizer Diplomaten – nach Ende des Kalten Kriegs in den Hintergrund gedrängt – dürften an Bedeutung gewinnen. Zumal eine Koalition aus Nato-Staaten nicht ausreicht, den islamistischen Terrorismus einzudämmen. Iraner müssen mit Saudis reden, Türken mit Russen, alle mit den Kurden. Nur mit Hilfe der islamischen Länder lässt sich der Terror stoppen. Um sie an einen Tisch zu bringen, können Schweizer Unterhändler zentrale Dienste leisten.