Wir glauben, weil wir es können

Die meisten Menschen der Welt glauben an eine höhere Macht. Obwohl sie unfassbar ist. Warum eigentlich? Wie die Wissenschaft die Religion erklärt – und was Gott mit Big Mac zu tun hat.

Von Peter Hossli

Es duftet nach Weihrauch. Eine enge Treppe führt hinab zur Grotte. Am Boden liegt ein silberner Stern. Eine Koreanerin kniet nieder, sie gerät in Ekstase.

Wo vor ihr der Stern liegt, soll einst Jesus geboren sein, auf einem Hügel in Bethlehem.

Beweisen lässt sich das freilich nicht. Genauso wenig wie die Wunder, die Jesus vollbracht haben soll. Oder dass er der Sohn Gottes ist. Dass Gott überhaupt existiert. Und doch hat der Ort für Christen etwas Magisches. Wie Mekka für Muslime. Der Ganges für Hindus. Die Klagemauer für Juden.

Je nach Studie glauben zwischen 90 und 98 Prozent aller Menschen an höhere Mächte. Nie gab es eine Gesellschaft, die sich nicht um Gott oder Götter organisiert hat. Obwohl das im Widerspruch steht zur Welt von iPhone und Raumfahrt.

Zu fast allem liefern Wissenschaftler greifbare Antworten. Den Glauben ans Unfassbare haben sie trotzdem nicht abgelöst, wie es immer hiess.

Warum ist das so?

Weil wir glauben können.

Religion ist eine menschliche Erfindung, sagen Biologen, Historiker und Psychiater. Eine Erfindung aber, die Anklang findet, da sie Bedürfnisse abdeckt: nach Ordnung, tiefer Liebe und echten Beziehungen, nach Nähe und der Akzeptanz des eigenen Todes.

Gott und Fastfood

Menschen glauben, weil sie sich in Jahrtausenden jene Eigenschaften zugelegt haben, die den Glauben an eine imaginäre Macht zulassen. Erklären lässt sich dies mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882), der zentralen Erkenntnis über unsere Art. Nicht die Stärksten überleben, nicht die Intelligentesten, schrieb der Naturforscher. Sondern jene, «die sich am ehesten dem Wandel anpassen können». Eines der vielen Nebenprodukte ständiger Anpassung? Der Glaube an Gott. Genauer: die Fähigkeit, an Gott zu glauben. Als «soziales Überlebensrezept» bezeichnet US-Psychiater J. Anderson Thomson darum die Religion.

Thomson vergleicht das Bedürfnis nach Gott mit dem Verlangen nach Fastfood. Die Lust auf Fett und Zucker entwickelten Menschen in der Not. Hatten unsere hungrigen Vorfahren mal genug zu essen, langten sie so richtig zu. Um sich für die nächste Hungersnot abzusichern. Da Zucker, Salz und Fett rare Güter waren, verliehen sie ihnen grösste Glücksgefühle.

Noch heute bereiten der Biss in den Big Mac und der Schluck Coca-Cola einen Rausch. Obwohl wir nicht mehr Hunger leiden. Die Sucht nach Junk ist ein übrig gebliebenes Nebenprodukt der Evolution – wie die Fähigkeit, an Gott zu glauben.

Vor 60 000 Jahren verliessen die ersten Menschen Afrika. Um das zu schaffen, mussten sie Gruppen bilden, zusammenarbeiten, zu sozialen Wesen werden. Einzelgänger wären untergegangen. Sie lernten, sich in andere einzufühlen, wähnten sich mit ihnen in Sicherheit.

Nichts ist lebenswichtiger als Bindung. Sie beginnt im Mutterleib, setzt sich nach der Geburt fort, ermöglicht Freundschaften, Liebe und Familie. Milliarden von Neuronen sind im Hirn für Bindungen reserviert. Zu Mutter und Vater, zu Geschwistern, zu Liebhabern und Lebenspartnern, den eigenen Kindern. Alle diese Beziehungen helfen, Gefahren auszuhalten, Ängste abzustreifen, Stress zu erdulden.

Die Beziehung zu Gott ist eine Weiterentwicklung davon – und doch ist sie etwas anders. Zumal wir dieses göttliche Wesen nie sehen, nie berühren, weder riechen noch hören. Es ist eine imaginäre Beziehung.

Eine solche führen zu können, ist ebenfalls eine Folge der Evolution. Durch Anpassungen lernten wir, Nähe zu Personen zu empfinden, die nicht da sind, an die wir trotzdem denken, die wir vermissen, nach denen wir uns sehnen. Das erlaubt, Bindungen über eine längere Zeit einzugehen, sie zu erhalten – und somit sicherer durchs Leben zu gehen.

Chemie im Kopf

Könnten wir das nicht, würde das soziale System zusammenbrechen. Diese «entkoppelte Kognition» ist laut Psychiater Anderson der Schlüssel zur Religion. Gott ist der imaginäre Freund, wie die meisten Kinder ihn erfinden, um neben den Eltern eine weitere Bindung zu haben.

Vom lateinischen religare kommt das Wort Religion. Es bedeutet «binden».

Zentral für Religionen sind Rituale. Unsere Vorfahren haben sie erfunden und verfeinert. Sie merkten: Tanzen, Singen und Trance machen glücklich. Nun wissen wir, warum: Sie setzen im Hirn chemische Stoffe frei. Diese regeln Freude, Liebe, Vertrauen und Bindung. Sie stärken das Selbstvertrauen, wie es Sex und Berührungen können. Deshalb fühlt sich Verliebtheit so gut an, messen wir der Liebe spirituelle Eigenschaften bei. Fehlen uns diese Botenstoffe, spüren wir Trauer. Zuweilen führen wir sie uns medikamentös zu.

Im Laufe der Zeit lernten wir, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Also das Innenleben anderer zu lesen, eine eigene Gedankenwelt zu entwickeln. Diese Trennung von Geist und Körper ist ebenfalls nötig, um Religion zuzulassen. Das Streben nach Ordnung ist eine weitere Eigenschaft, die uns die Evolution eingeimpft hat. Religion kann Ordnung schaffen.

Menschen überleben zudem, weil sie erlebtes Ungemach verdrängen können. Oft indem sie sich belügen oder selbst betrügen. Ohne diesen Selbstbetrug könnten wir Gott nicht akzeptieren.

Letztlich spendet Glaube Trost – angesichts der Tatsache, dass wir alle endlich sind, das Universum aber unendlich ist.