Bloss nicht Weihnachten!

Debatte über Werte ohne die Werte zu kennen: Gebe es so viel Getöse um Kopftuch und Schleier, wären die Kirchen nicht so leer?

Von Peter Hossli, Marcel Odermatt, Ruedi Studer

Ja, sein Chef besuche am 24. Dezember die Messe, sagt der Sprecher des Bundesrats. Minuten später zieht er die Aussage zurück. Privatsache sei, wie der Minister besinnlich feiere.

In vier Tagen feiert das Christentum die Geburt Jesu, und wir befreien das Fest der Liebe so gut wie möglich von christlichen Bezügen und Werten. Nicht mehr schöne Weihnachten wünscht der Kollege im Büro. Sondern frohe Festtage. Neuenburg verbannt eine Krippe mit Maria, Josef und dem Christkind aus der Innenstadt. Auf hiesigen Weihnachtsmärkten schmoren Frühlingsrollen und Thai-Curry. Kinos wie Hallen­bäder sind am 25. Dezember geöffnet. Statt mit der Familie am Tannenbaum zu feiern, verreist mancher in die Tropen.

Das Fest? Ein gottloser Umsatz-Treiber.

Und das in einem Jahr, in dem Religion eine prägende Rolle wie schon lange nicht mehr spielte. Leitartikler beschäftigten sich mit Sunniten und Schiiten, dem Glauben von Syrern, Irakern, Eritreern.

O so fröhlich sind die Karten aller Bundesräte, aber gänzlich befreit von Weihnachtszeit. Obwohl sechs von sieben einer Landeskirche angehören. Nur Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (55, SP) ist konfessionslos. Alain Berset (43, SP) und
Doris Leuthard (52, CVP) sind römisch-katholisch. Ueli Maurer (65, SVP), Eveline Widmer-Schlumpf (59, BDP), Didier Burkhalter (55, FDP) und Johann Schneider-Ammann (63, FDP) sind Protestanten.

«Eine Neujahrs-, keine Weihnachtskarte» will Aussenminister Burkhalter verschicken. «Die Empfänger leben überall auf der Welt, auch in Gegenden ohne Weihnachts­feiern», sagt sein Sprecher.

Die abtretende Finanzministerin Widmer-Schlumpf schmückt ihre Karte mit einer Fotografie der Rhätischen Bahn in winter­licher Umgebung. «Auch Schnee ist ein weihnächtliches Thema», lässt sie ausrichten.

Zum Fest der Freude und des Friedens verschickt Armeeminister Maurer jeweils Bilder bewaffneter Soldaten. Nach dem Kampfjet Gripen 2013 schmückt nun ein Gebirgsinfanterist die Grussbotschaft. Damit beziehe er sich nicht auf Weihnachten, sondern auf das Departement, sagt ein VBS-Sprecher.

Auf der Karte von Kulturminister Alain Berset jazzt Comic-Figur Micky Maus. Justizministerin Sommaruga zeigt zwei spielende Kinder im Herbstwald.

Zwar sind Kirche und Staat in der Schweiz nicht vollständig getrennt. Wie nebensächlich Reli­gion ist, veranschaulicht aber die jüngste Bundesratswahl. Die einst protestantische SVP nominierte mit Thomas Aeschi (36, ZG) und Norman Gobbi (38, TI) zwei Katholiken. Ein Protestant erhielt den Zuschlag, Guy Parmelin (56, VD). Bei der Befragung der Kandidaten aber spielte die Konfession keine Rolle. «Wir haben die Kandidaten genau durchleuchtet, aber nach der Kirchenzugehörigkeit fragten wir sie nicht», erklärt SVP-Präsident Toni Brunner (41).

Was eine Errungenschaft einer aufgeklärten Gesellschaft ist. Ob und wie jemand religiös ist, geht keinen etwas an. Doch wie steht es mit religiöser Toleranz? Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen der Angst vor dem Islam und der eigenen Distanz zum Christentum? Gebe es so viel Getöse um Kopftuch und Schleier, wären die Kirchen nicht so leer? Eine Mehrheit des Volkes verbot 2009 den Bau neuer Minarette, aber nur eine kleine Minderheit besucht die Messe, selbst an Weihnachten.

Treffend redete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (61, CDU) im vergangenen September in Bern darüber: «Es ist doch komisch, uns zu beklagen, dass Muslime sich besser auskennen im Koran als Christen in der Bibel.» Europäer beriefen sich gerne auf jüdisch-christliche Werte. Aber kaum ein Kind könne Pfingsten erklären. Die Person des Jahres: «Statt Muslime anzugreifen, müssten wir selbst wieder mal in die Kirche.»