Widmer-Schlumpf nahe am Rücktritt

Personen, die der BDP-Bundesrätin nahestehen, rechnen mit einem Rücktritt. Zu heftig ist der Triumph der SVP in ihrem Heimkanton Graubünden. Und zu schwach der Rückhalt in den Mitteparteien.

Von Joël Widmer und Peter Hossli

ews12Heute vor einer Woche, es ist Wahltag. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (59) ist im Schnellzug von Zürich nach Bern unterwegs, sitzt in der ersten Klasse, allein. Sie kommt um 11.30 Uhr in Bern an, hat einen Rollkoffer dabei und eine Akten­tasche. Tritt sie heute auf? «Nein, aber ich äussere mich öffentlich, wenn die Zeit gekommen ist.» Welchen Wahlausgang erwartet sie in Graubünden? «Dazu hätte ich schon etwas zu sagen – aber ich will jetzt nicht.» Sie tönt, als wüsste sie bereits: Es kommt nicht gut.

Und so kam es auch: Ihre Partei, die Bündner BDP, konnte zwar den Sitz im Nationalrat retten. Sie sackte aber auf 14,5 Prozent Wähleranteil ab. Die Bündner SVP dagegen hat sieben Jahre nach ihrer Neugründung nun mehr als doppelt so viele Wähler.
Und was für Widmer-Schlumpf noch bitterer sein muss: Magdalena Martullo-Blocher (46), die Tochter ihres Intimfeindes Christoph Blocher (75), wurde gewählt.

Das Bündner Resultat habe die Felsbergerin «durchgeschüttelt», sagt einer, der Widmer-Schlumpf sehr gut kennt. Ihr Kanton, ihre Heimbasis, hat sich von ihr abgewendet – und dem Zürcher Blocher-Clan den Vorzug gegeben.

Widmer-Schlumpf steht vor dem Rücktritt. Wenn die Mitteparteien nicht schnell ein starkes Zeichen zur Zusammenarbeit setzen, tritt sie im Dezember nicht mehr zur Wahl an, sagt eine Person aus dem nahen Umfeld der Bundesrätin. Und an einem ent- und geschlossenen Auftreten von CVP, BDP und GLP mangelte es in den letzten Tagen an allen Ecken und Enden.

Es gibt aber weitere Gründe, die bei Widmer-Schlumpf die Lust auf vier weitere Jahre in der Regierung dämpfen. Mit der SVP-FDP-Mehrheit im Nationalrat erachtet sie laut Insidern das Politisieren als «ungemütlich».

Dazu kommt, dass in den Medien der Sukkurs fehlt. Die bürgerlichen Chefredaktoren – und davon gibt es einige – plädierten nach der Wahl postwendend für zwei SVP-Bundesräte. Und sogar Zeitungen, die ihr wohlgesinnt sind, haben sie schon aufgegeben. So publizierte der «Tages-Anzeiger» gestern eine seitenfüllende Bilanz, die sich wie ein Abschiedsbrief liest, und einen Leitartikel, der sich mit der Regierungszusammensetzung in der Nach-Widmer-Schlumpf-Ära befasst.

Alle Zeichen stehen auf Rücktritt. Und daran ändert kaum etwas, dass viele davon ausgehen, dass Widmer-Schlumpf in einer Kampfwahl im Parlament dank des Ständerates nochmals gewählt würde. Das sagt auch alt SP-Nationalrat Andrea Hämmerle (68), der 2007 ihre Wahl in den Bundesrat orchestriert hatte. «Ich bin in Anbetracht ihres Leistungsausweises der Meinung, dass sie nochmals gewählt werden kann – und gewählt werden soll.» Zudem hätte es bei den Wahlen nur einen Rechtsrutsch im National-, nicht aber im Ständerat gegeben. «Dieses Wahlergebnis spricht nicht gegen die Wiederwahl von Widmer-Schlumpf.»

Auch viele FDPler sind von ihrer fachlichen Qua­lität überzeugt. Widmer-Schlumpf ist die wohl intelligenteste Bundesrätin der neueren Geschichte. Sie kann Chefbeamten im Finanzdepartement Paroli bieten. Sie diskutiert mit Nationalbank-Präsidenten auf Augenhöhe. Und macht bei Tagungen des Interna­tionalen Währungsfonds eine gute Falle. Sie paukt Reformen durch. Sie behält in Krisen die Kontrolle.

Doch nun scheint die kühle Rechnerin auf ihren Bauch zu hören, meint ein Insider: Nächsten Samstag an der Delegiertenversammlung der BDP wird sie wohl ihren Rücktritt erklären.