Wo Kinder wieder lachen können

Kein Land nimmt aktuell mehr Flüchtlinge auf als Deutschland. Wie geht eine Kleinstadt damit um, wenn ein Viertel der Bevölkerung plötzlich Syrer sind?

Von Peter Hossli (Text) und Joseph Khakshouri (Fotos)

aufmacherNuri ist sechs Jahre alt, hat dunkle Kuller­augen – und weiss sich zu helfen. «Halt!», ruft sie und stoppt die Schaukel mit ihren kleinen Fingern, zwängt sich zwischen zehn Kindern in den vollen Korb. «Jetzt kannst du anschieben!» Von hinten zieht Jakob (10) die Schaukel hoch, lässt sie los. Die Schar jauchzt und johlt: «Schneller!»

Wenige Tage zuvor weinten die Kinder noch. Am Budapester Bahnhof, unter Brücken, auf Gummibooten. Sie hatten Angst, waren müde, ihre Füsse schmerzten. Von Syrien kamen sie auf der Balkanroute nach Europa. Jetzt sind sie in Deutschland, «in Sicherheit», so Nuris Vater, ein Automechaniker aus Damaskus. Die Kinder sind nun dort, wo sie wieder lachen können.

Mit ihnen lacht Ellwangen, eine idyllische Stadt in Baden-Württemberg. In einer alten Kaserne hat sie eine Landeserstaufnahmestelle (LEA) eingerichtet. Knapp 3600 Flüchtlinge sind hier untergebracht, davon 850 Kinder. Das sind siebenmal mehr als geplant. Bald dürften es 4000 sein – in einer Stadt mit 12 000 Einwohnern.

Und doch geht es gut. «Dieses spiessige katholische Kaff wird endlich lebendig», sagt ein Teilnehmer des Flüchtlingsgipfels in der Stadthalle. Rund 250 Menschen kamen, adrett gekleidet, viele Männer tragen Krawatte. Sachlich reden sie über Sorgen und Nöte. «Wir packen das menschlich an, nicht parteipolitisch», sagt Berthold Weiss (53). Der schlaksige Schwabe leitet die LEA. «Die Situation ist schon heftig, niemand hat mit solchen Zahlen gerechnet.» Aber er sagt: «Deutschland ist reich, wir verkraften das.»

Ein Schloss thront über Ellwangen. Die Innenstadt ist herausgeputzt. In den Gaststuben hängt das Kruzifix. Man hat Zeit für einen Flirt mit der Bäckersfrau oder dem Metzger.

Nun schieben syrische Mütter ihre Babys durch dieses Idyll. Syrische Männer loggen sich im Stadtkern mit Smartphones ins kostenlose WLAN ein. Es sei «etwas gewöhnungsbedürftig gewesen», sagt Apotheker Richard Krombholz. «Aber diese Menschen stören niemanden.» Sie seien in Not. «Es gehört sich, ihnen zu helfen.» Gewalt gegen Flüchtlinge gab es bisher nicht. Hassausbrüche gibt es nur auf Facebook.

Ellwangen sei «pragmatisch und bodenständig», erklärt der parteilose Oberbürgermeister Karl Hilsenbek (57) die Offenheit. «Viele hatten ein Aha-Erlebnis, als sie sahen, dass Flüchtlinge ihren Müll selber einsammeln.» Er weiss aber: «Die Spitze ist noch nicht erreicht, jetzt ist die Solidarität in Europa gefragt.»

Die deutsche Gründlichkeit müsse flexibler werden, so Bundeskanzlerin Angela Merkel (61). Ellwangen zeigt, wie das geht. Jedes Bett in der Kaserne ist belegt. In Gängen stehen Pritschen, auf der Fussball­wiese Zelte. An einem Freitagmorgen entschied LEA-Leiter Weiss, die Kantine als Schlafsaal zu nutzen. Er liess die Küche herausreissen, und am selben Abend schliefen dort 200 Menschen. In zwei Turnhallen nächtigen 900 Personen. Ist das noch menschenwürdig? «Wir haben überhaupt keine Wahl, die Menschen sind ja da.»

Die meisten Flüchtlinge in Ellwangen kamen in München an: Die Behörden registrierten sie dort, nahmen ihnen Fingerabdrücke, fotografierten sie. Ein Computer teilte sie nach einem festen Schlüssel einer LEA zu. In Ellwangen bleiben sie drei Wochen und reisen dann in andere Bundesländer. «Syrer sind besonders beliebt», sagt Weiss. Sie sind gut ausgebildet, arbeiten gerne.

Khalid Ibrahim (28) sitzt auf einem Etagenbett in der ehemaligen Kantine. Er spricht perfekt Englisch, in Damaskus unterrichtete er Geografie. «In Deutschland fühle ich mich sicher, jetzt will ich so schnell wie möglich wieder arbeiten.»

Der Teenager Ibrahim Handosh (14) will studieren. Er floh aus dem kriegsversehrten Aleppo. Ohne Eltern. «Sie hatten nur Geld für einen», sagt er. «Sie schickten mich und hoffen, ich schaffe es.» Was will er werden? «Ein deutscher Ingenieur!»

Er ist hungrig, stellt sich vor der Mensa in die Reihe fürs Mittagessen. Eine Stunde wird er warten. «Wir versuchen, die Wartezeiten zu verkürzen», sagt Küchenchef Heiko Pichl (50). Jeden Tag serviert er drei Mahlzeiten für 3600 Menschen, und jeden Tag werden es mehr. «Es gibt nichts Schöneres, als Menschen satt zu machen.» Heute tischt er Rindsfleisch mit Sauce auf, Bohnen und Nudeln, dazu Brot, Tee und Wasser. «Nein, nein, kein Foto», sagt ein Syrer, der an der Theke ansteht. Noch immer hat er Angst.

Hanadi löffelt dem zwei Monate alten Fajr weichen Brei. Sie flüchtete aus Damaskus, als ihr Sohn einen Monat alt war. Hielt ihn auf dem Boot von der Türkei nach Griechenland, trug ihn über viele Grenzen, schützte ihn in Bussen und Zügen. «Es hat sich gelohnt – Fajr hat in Deutschland eine gute Zukunft.»

Nur Flausen im Kopf haben Amira (9) und Anin (10). Die beiden Mädchen trafen sich in Ellwangen und sind jetzt beste Freundinnen. Sie kichern: «Das Essen hier? Ist schlecht!»

Mancher Deutsche sieht die Flüchtlinge als Chance. Um die Überalterung zu stoppen, braucht ihr Land jährlich 400 000 Zuwanderer. Da sind gut ausgebildete Handwerker und Akademiker aus Syrien willkommen. Kein Thema ist im erzkatholischen Ellwangen ihr Glaube. «90 Prozent der Flüchtlinge sind Mus­lime», sagt Weiss. «Und doch unterstützen uns die christlichen Kirchen enorm.» Niemand fordere eine Moschee auf dem Areal der Kaserne. «Hätten wir eine Moschee, wäre sie mit Betten belegt.»

Mohammad Altatan (30) hat Glück: Er hat ein Bett in der Kaserne, zusammen mit fünf anderen Männern. Er übersetzt auf Kurdisch, Arabisch und Englisch. Nun lernt er Deutsch. Vor einem Monat floh er. Für die Reise zahlte der Programmierer 5000 Franken. Frau und Tochter blieben in Syrien, er hatte zu wenig Geld für sie. «Sobald ich Asyl habe, hole ich sie.» Der kräftige Kerl unterdrückt die Tränen. «Ich vermisse beide.»

Immerhin ist sein Bruder da: Nihan Altatan (26) ist Tierarzt, behandelt Kühe und Pferde, aber auch Hunde und Katzen. Mehrere Schlepper brachten ihn nach Deutschland. In Ser­bien stahl ihm die Polizei 900 Franken. Nun möchte er nach Stuttgart, Hannover oder Ulm. «Weil dort die Universitäten so gut sind.» Und in die Schweiz? «Nein, mir gefällt es in Deutschland, hier können wir viel schneller arbeiten als in der Schweiz.»