Europas Schande in Belgrad

Mitten in der serbischen Hauptstadt hausen Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Umständen. Und warten auf ihre Weiterreise.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

familieZur Flucht gehört die Angst. Und Hassan (40) hat riesige Angst. Er kauert auf dem Boden des Busbahnhofs von Belgrad, es ist kurz nach acht Uhr morgens. In der Nacht kam er in der serbischen Hauptstadt an. Im Arm schläft Tochter Haula (10), «mein Baby», wie er sagt. Hinter ihm sitzt seine Frau Nahid (41), das Haar hat sie mit einem Kopftuch bedeckt.

Und weil sich Hassan fürchtet, lügt er den Reporter an. «Ich stamme aus Syrien», sagt er zuerst. Später korrigiert er sich: Aus dem Irak ist er geflohen. Da derzeit vor allem Syrer auf der Balkan-Route unterwegs seien, habe er gelogen. «Iraker fallen eher auf, niemand will auf dieser Reise auffallen, wir wollen nur überleben», sagt Hassan.

Deshalb verliess der Automechaniker mit seiner Familie die irakische Hauptstadt. Er ist Sunnit wie die Schergen des Islamischen Staates (IS). Ein IS-Kommandant habe ihn erpresst: «Entweder du kämpfst mit uns, oder wir entführen Haula.»

Sofort packte er, floh in die Türkei, nahm das Schiff nach Griechenland, den Zug nach Mazedonien, Busse nach Ser­bien. Nun kauft er seiner Familie Bustickets zur ungarischen Grenze. Vor diesem Abschnitt fürchtet er sich. «Die Ungarn sind nicht nett zu Flüchtlingen», sagt er. Eine Aussage, die auf der Balkan-Route die Runde macht.

Hassan will nach Deutschland, dort könne er Autos reparieren. Und seine Tochter Me­dizin studieren. Ärztin will sie werden. «Mein Baby ist klug, Deutschland braucht Ärzte.»

Elf Euro kostet das Billett zur Grenze. Platz im Bus hat es erst wieder morgen, die Nacht muss die Familie in Belgrad verbringen. Vater und Tochter hinken, sie haben Blasen an den Füssen. In zehn Minuten erreichen sie den Stadtpark hinter der Busstation. Mitten in Belgrad, wo sich die Schande Europas auf der Grösse eines Fussballfeldes ausbreitet. Wo einst serbische Prostituierte ihre Körper feilboten, hausen nun Flüchtlinge: Es ist heiss, es ist schmutzig, es stinkt. Menschenunwürdig.
In der nördlichen Ecke des Parks sitzen Afghanen, im Westen Syrer, der Süden gehört den Irakern. Wer ein Zelt hat, spannt es auf, die meisten übernachten unter freiem Himmel. An einem Brunnen waschen sich abwechselnd Frauen und Kinder, dann Männer. An Bäumen trocknen Kleider. Ein Afghane bittet den Reporter um eine Flasche Wasser. Es fehlt an allem, an Esswaren, Windeln, an medizi­nischer Versorgung.

Obwohl sich die ser­bische Regierung bemüht, in dieser Krise gut dazustehen. Sie registriert die Flüchtlinge, sie sorgt für ihre Sicherheit, lässt täglich Tausende Menschen in die Europä­ische Union reisen.

lilianaFür Hassan und Nahid kostete die Odyssee aus dem Irak nach Serbien je 1600 Euro. «Die Hälfte für meine Tochter.» Das Geld sei gut investiert. «Mein Baby muss eine Zukunft haben.» Ein Zukunft, die auf wenig baut. Alles, was die Familie besitzt, steckt in zwei Taschen. Haula hat ihre Puppe in einem rosaroten Rucksack versorgt, ihre Augen leuchten. Die drei sitzen auf einer Holzbank, Hassan bleibt wach, Mutter und Tochter schlafen unruhig.

Der Park ist ein Bazar für Informationen. «Stimmt es, dass Ungarn Fingerabdrücke nimmt?», will Lashkari Ahmadi (26) wissen, ein Englischlehrer aus Kabul. «Ja», sagt ein Syrer. «Schicken die Deutschen mich zurück, wenn die Ungarn mich registrieren?» – «Es kommt da­rauf an, wo du um Asyl bittest», erklärt der Syrer. «Ich frage in Deutschland.»

Deutschland: Es ist das Sehnsuchtsland in Belgrad. Wenige reden von der Schweiz. «In der Schweiz musst du beweisen, dass du nicht wegen des Geldes kommst», weiss Ahmadi. «Ich hatte einen guten Job, ich floh, weil sie mich töten wollten.»

Die Fussballtore in der Mitte des Platzes dienen als Wäscheständer. Zum Spielen liegt zu viel Müll auf dem Boden. Täglich trägt die serbische Stadtangestellte Liliana (59) Abfall weg, zusammen mit zehn anderen. «Früher reichte eine Person», sagt sie. Sie mag sich nicht beklagen. «Wenn ich das sehe, muss ich heulen. Alle diese Kinder haben keine Zukunft.»

sofjaSie zeigt auf ein Baby, das an der Brust ihrer Mutter saugt, auf Kleinkinder mit ungewaschenen Haaren und schmutzigen Kleidern, die in gleissender Hitze schlafen. Zwei bleiche afghanische Buben werfen sich einen verbeulten Ball zu. Seit Tagen haben sie nichts mehr gegessen. «Zwei Drittel der Menschen sind krank oder verletzt», sagt Sofja Manjak (26), sie studiert in Belgrad Medizin, misst bei Flüchtlingen die Temperatur und den Puls. Viele haben Durchfall, Infekte in den Ohren, ihre Füsse und Beine sind geschunden vom langen Marsch durch Europa. Warum hilft die Studentin? «Es ist mein Beruf zu helfen.»

Ein alter Mann mit weissen Haaren greift sich eine Hacke. Nader (55) kehrt Abfall weg. Er arbeitete als Ingenieur in Kabul, vor einem Monat floh er, gestern kam er in Belgrad an. «Und jetzt will ich mich nützlich machen», sagt er. «Die Sauerei ist ja von uns.» Er will nach Dänemark oder Holland, vielleicht Skandinavien. Wenn er die Reise überlebt. Nader leidet an Nierenkrebs, eine Niere hat er verloren. Die Medikamente, die er schlucken muss, sind ihm letzte Nacht gestohlen worden. Eine serbische Ärztin verspricht, die Pillen rasch zu bringen. Er wartet geduldig. «Ich möchte nicht in Belgrad sterben», sagt Nader.

Obwohl alle nur warten, ist die Stimmung nervös. Die Angst geht um. Eine Gruppe von Afghanen setzt sich auf den Fussballplatz, alles Männer, alle mit verängstigten Augen. «Reporter? No reporter! No English! No talk.» Sie wollen nichts sagen.

Mohammad (29) redet. Der Afghane mit den schönen dunklen Augen hat ein Tuch auf den Boden gelegt für seine drei Kinder Nahid (9), Daniel (1) und Fatima (3). Mutter Fatime (28) telefoniert mit Verwandten in Iran. Sie sagen ihr, wo sie hingehen sollen. «Sie verfolgen die Ereignisse auf der Balkan-Route im Internet», sagt Fatime. «Sie bringen uns in Sicherheit.» Sie redet Farsi. Ein Pakistani übersetzt auf Urdu, eine serbische Pakistanerin übersetzt für den Reporter auf Englisch. So gross ist die Welt in Belgrad.