Ein All für zwei

Die 51-jährigen Astronauten-Zwillinge Scott und Mark Kelly proben die Reise zum Mars.

Von Peter Hossli

markscottDie Reise zum Mars beginnt in New Jersey. In der amerikanischen Kleinstadt Orange kommen am 21. Februar 1964 die eineiigen Kelly-Zwillinge zur Welt. Zuerst Mark, sechs Minuten nach ihm der jüngere Scott.

Jetzt, im Alter von 51, sollen die beiden glatzköpfigen Brüder der Menschheit eine neue Frontier öffnen: zum Planeten Mars.

Dazu verbringt Scott ein Jahr in der Internationalen Raumstation (ISS), die in 400 Kilometern Entfernung um die Erde kreist. Bruder Mark, ebenfalls Astronaut, ist der Gegenpart am Boden. Er gibt Blut-, Stuhl- und Urinproben ab, trifft Psychiater. Wissenschaftler der Nasa wollen wissen, wie verschieden sich Körper und Psyche im All und auf der Erde ver­halten. Ideal für die Forscher: Als eineiige Zwillinge haben die Kelly-Brüder identische Gene.

Die neue Grenze
Noch schaffen es nur Maschinen auf den Mars. Einer bemannten Reise zum 225 Millionen Kilometer entfernten Roten Planeten steht der Mensch selbst im Weg. Unser Körper hat sich der Schwerkraft der Erde angepasst. In der Schwerelosigkeit aber schrumpfen Knochen und Muskeln, flattert das Herz, verformen sich die Augen, verdunkelt sich die Psyche. Enorm ist auch die radioaktive Strahlung.

Eine Reise zum Mars ist lange, neun Monate dauert sie. Hundert Tage müssen Mars-Besucher bleiben, bevor sie zurückfliegen. So lange war noch nie ein Mensch im All.

Am 27. März hob Scott Kelly in Kasachstan ab. Mit einer Geschwindigkeit von 28 164 Kilometern pro Stunde kreist er um die Erde – bis im Frühling 2016. Zurück lässt er zwei Töchter und seine Freundin Amiko Kauderer (41). Seit fünf Jahren sind die beiden ein Liebespaar. Jetzt muss die Liebe ein Jahr lang echte Distanz ertragen. Kelly und Kauderer telefonieren, sie können sich – zwar verwackelt – per Videokonferenz sehen, E-Mails schicken und empfangen. Der Astronaut, der zum vierten Mal im All ist, hat eine Bibliothek an Bord, gefüllt mit Filmen und Büchern. Regelmässig erhält er neue Folgen von Fernsehserien. Am liebsten schaut er jedoch alte «Seinfeld»-Folgen.

Ständig ist Scott in Kontakt mit Mark. Der Zwilling auf Erden schickt zuweilen Fotos von Mahlzeiten ins All – wohl um Scott eifersüchtig zu machen. Mark, schon vier Mal im Weltall, wäre selbst gern oben.

Meist unterzieht sich Scott medizinischen Tests. Mit einem Ultraschallgerät lässt er sich die Augen vermessen, um zu erkennen, wie sich sein Sehvermögen verändert. Er nimmt den Puls, misst den Sauerstoff im Blut, prüft, wie schnell Zellen altern. Zudem untersucht er seine Ausscheidungen. Denn die Nasa erhofft sich Aufschlüsse von der Entwicklung der Darmflora im All. Längst gelten die Bakterien, die unsere Verdauung steuern, als zentral für Befinden und Verhalten des Menschen.

Viele Astronauten klagen im Weltall über Trübsal und erhöhten Stress. Zudem reduziert sich das Denkvermögen in anhaltender Schwerelosigkeit. Fehler im All aber sind tabu. Sie können tödlich enden. «Es geht mir ziemlich gut», sagte Scott Kelly unlängst in einem Video-Interview mit Yahoo News. Mehrmals täglich setzt er Tweets ab: oft atemberaubende Fotos von der Erde.

Ein Oltner schaut zu
Der in New York lebende Schweizer Fotograf Marco Grob (50) verfolgt das Zwillings-Experiment. Er schlug dem US-Nachrichtenmagazin «Time» vor, Scott und Mark zu begleiten. Die Nasa, sonst verschlossen, liess ihn näher ran als je ­einen Journalisten zuvor.

Grob, in Olten SO aufgewachsen, fotografierte und filmte Scott bei den Vorbereitungen und dem Training in Houston, bei der Abschiedsparty in New York, der Reise zum Weltraumbahnhof Kosmodrom im kasachischen Baikonur. Nicht die Raketen und die Maschinen interessieren den Fotografen, «sondern die Menschen, die Isolation, die Trennung zwischen Kelly und seiner Familie».

Regelmässig publiziert er auf der Website von «Time» multimediale Geschichten. Zwei Jahre lang beschäftigt ihn das Projekt. «Im Laufe des Prozesses sind wir enge Freunde geworden», sagt Grob über die Zwillings-Astronauten. Er fotografierte, wie Mark seinem Bruder hilft, den Raumanzug anzuprobieren. Er tauchte mit Scott, war in der Kapsel der Sojus-Rakete, die ihn zur Weltraumstation flog. «Je näher der Lift-off kam, desto nervöser sind wir alle geworden», erzählt Grob.

Beim Start war er 600 Meter entfernt. «Das war brutal», sagt der Fotograf. «Ein Freund von dir wird auf dieses mit Kerosin gefüllte Ding geschnallt – und einer zündet die Kerze an.» Er klammerte sich an den Produzenten «und weinte wie ein Schulbub», als die Rakete in den Nachthimmel zischte und es in Baikonur kurz taghell wurde. Die Wucht des Starts ging ihm nahe, so Grob. «Ich träumte schlecht.»

Kurz vor dem Start interviewte er Kelly ein letztes Mal, klatschte ihn ab, befahl ihm: «No bullshit» – mach da oben ja keinen Mist!

Mehrmals täglich prüft Grob auf seinem Computer, wo sich die Raumstation gerade befindet. Die beiden schicken einander E-Mails und Grob kann Filme anfordern, die Kelly oben dreht und der Schweizer in New York für «Time» verarbeitet.

Für den Schweizer schliesst sich ein Kreis. Die erste Mondlandung 1969 gehört zu seinen frühesten Erinnerungen. Als Bub bangte er um die Astronauten von Apollo 13, die im April 1970 beinahe ums Leben kamen. Mittlerweile hat er alle noch lebenden amerikanischen Astronauten getroffen – und erzählt nun ein neues Kapitel. Wie Menschen den Mars erobern.

Die Raumstation
Washington – Im November 1993 schloss der damalige US-Präsident Bill Clinton ein Abkommen mit Russland über eine ständig bemannte Raumstation. Später schlossen sich die Europä­ische Weltraumorganisation sowie Kanada, Japan und Brasilien an. 1998 begann der Aufbau. Seit November 2000 leben ständig Menschen in der Raumstation. Aktuell sind es neben Scott ­Kelly ein weiterer Amerikaner, drei Russen und ein Japaner. In 92 Minuten kreist die Internatio­nale Raumstation einmal um die Welt.

Der Schweizer
New York – Der Oltner Fotograf Marco Grob begleitet das Zwillings-Experiment während zwei Jahren. Er filmt und fotografiert Scott und Mark Kelly für das Webportal des US-Nachrichtenmagazins «Time». Grob, der heute in New York lebt, publiziert bis Ende März zehn Episoden. Die ersten beiden Teile von «A Year in Space» gibts hier.