Professor Mahnfinger

Macht hat in der Politik, wer Umfragen macht. Und die sind in der Schweiz nicht gut, sagt Professor Gilbert Casasus.

Von Peter Hossli (Text) und Marco Zanoni (Foto)

gilbert_casasusEs steht schlecht um die Demokratie der Schweiz. «Umfragen beeinflussen Abstimmungen und Wahlen, im Vergleich zu anderen schneiden wir nicht gut ab.» Das sagt Gilbert Casasus (58), Professor für Europastudien der Universität Freiburg. «Die Schweiz hat eine Umfragenkultur im Frühstadium.» Er betont: «Umfragen sind eine Achillesferse unserer Demokratie.»

Mächtig seien die Meinungsforscher: «Sie beeinflussen jeden Wahlkampf – und dessen sind sie sich durchaus bewusst», sagt Casasus. «Es sind Strippenzieher, sie geben den Politikern die Richtung vor.» Besonders mächtig? Politikwissenschaftler ­Claude Longchamp (58), Leiter des Instituts Gfs, mit Dauerauftrag der SRG. «Alle schauen auf die Gfs-Umfragen», sagt Casasus. Ob in den Zeitungen, der SRF-«Arena» oder am Radio. «Bei jeder Debatte werden Gfs-Studien rege zitiert.»

Mit Folgen. Wer noch nicht weiss, wie er abstimmt oder wählt, orientiert sich an der Mehrheit der Umfrage. Denn: «Jeder ist gerne Sieger. Umfragen können Meinungen monopolisieren.»

Oder sie verhindern sie, wie im Februar 2014 bei der Masseneinwanderungs-Initiative. «Aufgrund der Umfragen gingen viele von einem klaren Nein aus – und blieben der Urne fern.» Es gab ein knappes Ja. «Umso wichtiger wären solide Umfragen gewesen.»

Aktuell heikel: Die SRG finanziert Gfs-Umfragen zur Abstimmung des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen. Dieses betrifft die SRG. «Ein klarer Interessenkonflikt», sagt der Professor. «Aber es gibt keine Alternative – und hierin liegt die ganze Problematik.»

Drastisch die Fehlleistung bei der Familien-Initiative der CVP. Fünf Wochen vor der Abstimmung ging Gfs von 52 Prozent Nein aus. Gfs-Chef Longchamp prophezeite einen Rückgang auf 44 Prozent. Das Resultat: 24 Prozent Ja. «Eine Katastrophe für Umfragen», so Casasus. «Es mangelt an Professionalität, die Meinungsforschung in der Schweiz entspricht nicht modernen politischen Ansprüchen.»

gilbert_casasus2Casasus nennt Gründe: «Der Markt ist klein, es fehlt die Konkurrenz.» Weder Parteien noch Medien seien bereit, die teure Dienstleistung zu bezahlen – obwohl sie für Parteien in anderen Ländern ein zentrales Instrument sei. Longchamp widerspricht. «Von Monopol keine Spur», sagt der Meinungsforscher. «Die Gfs-Umfragen machten nicht einmal die Hälfte der Veröffentlichungen aus.»

Was macht Longchamp falsch? «Es ist für ihn nicht einfach, da Abstimmungen komplexer sind als Wahlen. Ja und Nein verschieben sich mehr als die Bindung zu einer Partei», sagt Casasus. Aber: «Lange fehlte Longchamp die notwendige Infrastruktur, er erklärte seine Methode kaum, das hat er etwas korrigiert», so Casasus. «Er befragte oft die gleichen, das geht angesichts des veränderten Verhaltens an der Urne nicht.»

Schutz der Bürger
Einst galt: Arme wählen und stimmen links, Reiche rechts. Auf dem Land leben Rechte, in der Stadt Linke. «Das ist alles aufgebrochen, die Arbeit komplexer geworden, ein einziges Institut kann das nicht leisten.»

Einen repräsentativen Querschnitt müssten die Befragten bilden, erklärt Casasus. «Weil sich die Gesellschaft heute rasch ändert, braucht es ständig aktualisierte Daten, der Querschnitt darf nicht ein oder sogar zwei Jahre alt sein.»

Weil die Misere so gross sei, will Casasus dringend ein staatliches Kontrollorgan – und mehr Transparenz. Das erhöhe den Schutz der Bürger. «Auf jeder Dose steht, was wir essen», sagt er. «Wir konsumieren täglich politische Informationen – und wissen nicht mal, wie sie zustande kamen.»

Generell fehlten die Spezialisten. «Perfekt ist eine Mischung aus Statistikern, Mathematikern, Politologen, Soziologen und Geografen.» Das Geschäft beleben sollten daher ausländische Institute. «Schweizer anerkennen selten, wenn andere etwas besser machen als wir.» Gerade bei Umfragen seien die Deutschen, die Franzosen, die Amerikaner aber besser. «Warum reist nicht einmal eine Kommission des Natio­nalrats in die USA oder Frankreich und schaut, wie das dort gemacht wird?»

Nach den Sommerferien lohne es sich, Umfragen für die Wahlen im Herbst anzuschauen. «Noch sind die Resultate nicht gut genug.» Dann zeige sich etwa, ob der Fall Markwalder negative Folgen habe für die FDP.

Oft betonen Politiker, sie politisierten mit dem Herzen – nicht nach Umfragen. «Eine typische politische Verlogenheit», so Casasus. «Erfolgreiche Politiker sind meist Umfragefanatiker. Umfragen zeigen ihnen, wie das Volk denkt und wie sie selbst ankommen.»

Claude Longchamp über Gilbert Casasus
Herr Casasus ist uns bisher als Kulturhistoriker Europas und Stadtethnologe, nicht aber als Demoskopie-Spezialist aufgefallen. Er hat sich noch nie mit seinem Verbesserungsvorschlag an uns gewendet. Die Politik hat sich in den letzten fünf Jahren stets gegen staatliche Kontrollen ausgesprochen. Das entspricht ganz dem schweizerischen Staatsverständnis.