So tickt die Spenden-Industrie

Bei Schweizer Hilfswerken löst das Erdbeben in Nepal eine Euphorie aus. Sie wissen: Katastrophen bringen viel Geld in die Spendenkassen.

Von Peter Hossli

Die Glückskette bittet am Fernsehen und im Radio um Geld. Caritas inseriert. World Vision und Unicef legen der Presse Flugblätter bei. Das Ziel ist bei allen gleich: Möglichst viel Geld für die Opfer des verheerenden Erdbebens in Nepal zu sammeln.

Der Einsatz lohnt sich. Bilder und Geschichten aus Nepal erschüttern, und das ist für die Schweizer Hilfswerke ein Segen. Naturkatastrophen bringen ihnen weit mehr Geld als Kriege und Terror. Für Erdbebenopfer öffnen die Schweizer das Portemonnaie rascher als für im Mittelmeer aufgefischte Somalis und Syrer. Firmen wie Swisscom, Securitas und Aldi werben mit ihren Nepal-Spenden. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (54) besucht die Sammelzentrale. «Bei Naturkata­strophen ist die Bereitschaft zu spenden viel grösser als bei Kriegen», sagt Georg von Schnurbein, Professor am Centre for Philanthropy Studies der Universität Basel. «Spenden ist sehr emotional», sagt Glückskette-Sprecherin Daniela Toupane. «Die Motivation ist stets persönlich.» Viele spendeten, wenn sie eine Betroffenheit spürten. «Die Solidarität ist bei Naturkatastrophen grösser als bei Kriegen», bestätigt Toupane. «Naturkatastrophen berühren mehr, weil wir morgen selbst davon betroffen sein könnten.»

Aber kaum von Gewalt. «Kriege gelten als menschengemacht, in der Wahrnehmung sind die Opfer selber schuld», so von Schnurbein. Wichtig sei Verbundenheit: «Nepal ist ein beliebtes Ferienland für Schweizer, als Bergland fühlen wir uns ihm
verbunden.»

Spenden-Marketing
Seit 2003 steigt das Spendevolumen in der Schweiz stetig an, von 1071 Millionen Franken im Jahr 2003 auf 1691 Millionen 2013. Höhepunkt war das Jahr 2005 mit 1709 Millionen Franken nach dem Tsunami in Südostasien. «Ereignisse treiben Spendenaufkommen», sagt von Schnurbein. Katastrophenjahre seien stets gute Spendenjahre. Wenn sie am richtigen Ort passierten. «Vergleichbare Unglücke in muslimischen Ländern bringen in der Schweiz weniger Spenden», so von Schnurbein.

Zahlen sprechen Bände. Für den Tsunami sammelte die Glückskette 227 Millionen Franken. Für die Flüchtlingskrise in Syrien – die grösste humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg – sind es weniger als 20 Millionen Franken. Obwohl fast gleich viele Menschen umkamen. Zwar nahmen 2014 Spenden für Flüchtlinge zu. Sie belegen bei den Gründen aber den letzten Platz, so das Forschungsinstitut GFS Zürich.

Der Spendermarkt ist hart umkämpft. Werbeagenturen mischen mit. Ist eine Organisation bei einer Katastrophe präsent, gilt sie als agil. Kaum hatten die Nachrichten aus Kathmandu die Schweiz erreicht, legten Hilfswerke los. Nicht nur Rettungsexperten flogen nach Nepal, sondern viele Marketingleute. Auf Webseiten publizierten sie ergreifende Fotos, richteten Nepal-Konten ein.

Geld liegt brach
Mit Floskeln buhlen sie online um Bares: «Die Schäden an Häusern, Strassen, Strom- und Wasserversorgung sind immens», so Fastenopfer. Vom «schlimmsten Erdbeben seit über 80 Jahren» spricht Caritas. Die Bevölkerung? Sie lebt «in Angst und Schrecken». Konkrete Projekte aber gibt es noch wenige.

Die Zahl der vermeldeten Toten zeigt, wie aktuell ein Hilfswerk wirbt. In Nepal sei sie «inzwischen auf 3200 gestiegen», schreibt die Heilsarmee. Fastenopfer will 5000 Tote gezählt haben. Bei Caritas sind es 7500, bei World Vision «mehrere Tausend». Nepals Regierung ging gestern von 7673 Toten aus.

Hilfswerke nutzen unseren Impuls, sofort helfen zu wollen. Dabei ist es für Soforthilfe bereits zu spät. In der Regel gibt die Glückskette 15 Prozent des gesammelten Geldes für rasche Hilfe aus, 70 Prozent gehen in den Wiederaufbau, der Rest ist nötig, um Projekte zu beenden.

Das Gros vergibt die Glückskette langfristig. Doch noch immer sind Gelder nicht verteilt, die nach dem Tsunami 2004 oder dem Erdbeben in Haiti 2010 gesammelt wurden.

Warum Leid uns berührt – ein Kommentar