Egoistischer Auftritt im Stadtrat

Geld scheint Geri Müller wichtiger als die Staatsräson. Kehrt er deshalb auf politische Parkett zurück?

Von Peter Hossli

badenGestern Samstag, bei strahlendem Sonnenschein in Baden AG. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (58) spricht in der beflaggten Stadtpfarrkirche zum Gedenken an 300 Jahre Frieden von Baden. Hier wurde der letzte von drei Friedensverträgen unterzeichnet, die den Spanischen Erbfolgekrieg beendeten.

Der Festakt erinnert an alte Zeiten, als «Glanz und Ansehen die Stadt erfüllte», so der Aargauer Landammann Roland Brogli. Als er Badens «Kultur der Offenheit» betont, hört man leises Kichern. Wohl wegen jenes Mannes, der fehlt: Stadtammann Geri Müller (53). Er ist krankgeschrieben, erwies der Bundesrätin seine Ehre nicht. Morgen kehrt er zurück – und eröffnet um acht Uhr die Sitzung des Stadtrats. Im Laufe der Woche nimmt der Nationalrat der Grünen an der beginnenden Herbstsession teil.

Es ist ein freudloses Comeback, bei dem es letztlich um Geld geht. Faktisch ist Müller in Baden entmachtet. Der Stadtrat hat ihm alle Ressorts entzogen.

Mitte August war publik geworden, dass Müller mit einer 33-jährigen Studentin Nacktfotos austauschte – er fotografierte sich hüllenlos in seinem Büro im Stadthaus. Um die Sache zu ver­tuschen, habe er sein Amt missbraucht, spekulierte die «Schweiz am Sonntag». Ein schlimmer Vorwurf, der sich rasch zerschlug.

Müller liess sich nach einer Pressekonferenz und einem Auftritt im «Club» von SRF krankschreiben. Er verzog sich in die Innerschweiz.

Der Badener Stadtrat aber wollte klärende Worte. Letzten Montag kam es zu einer entscheidenden Aussprache im siebenköpfigen Gremium. Danach entband die Ratsmehrheit Müller von allen Aufgaben – und verlangte seinen Rücktritt. Das überraschte. Anfänglich hatten sich sogar die linken Stadträtinnen noch hinter ihn gestellt.

Seither rätselt Baden: Was ist passiert? Gibt es neues Material gegen ihn? Hinweise für einen Amtsmissbrauch?

Alle reden, aber niemand lässt sich zitieren. Recherchen zeigen: Nicht politische Gründe oder belastende Fakten veranlassten das Umdenken im Stadtrat. Es war Müllers Gebaren bei besagtem Treffen. Bei den anderen Stadträten fiel er durch.

Sie erwarteten reichlich Reue. Müller zeigte davon wenig.

Er fragte die drei Kolleginnen und drei Kollegen nicht direkt, ob er ihr Vertrauen noch habe. Er mochte sich nicht erinnern, dass er angeboten hatte, sich der Vertrauensfrage zu stellen. Den Stadträten sass einer gegenüber, der sich als Opfer sah. Der nicht an Baden dachte, sondern an sich selbst. Der nicht reden, sondern sich retten wollte. Die Stadträte wunderten sich: Kann er den für das Kollegium wichtigen Teamgeist leben?

Als privat stufen die Räte die Fotos ein. Enttäuscht sind sie über Müllers mangelnde Einsicht, dass er die Sache nicht einfach aussitzen kann – sondern Konsequenzen ziehen müsste. Baden zuliebe legten sie ihm den Rücktritt nahe. Bei Neuwahlen könne er sich wieder aufstellen. An der Urne würde das Volk entscheiden, ob es ihm noch vertraue. Müller  lehnte ab. Obwohl es die auf­gebrachte Stadt beruhigt hätte.

«Es ist staatspolitische Pflicht, eigene Interessen hinter öffentliche zu stellen», so ein Badener Politiker. Müller aber klammert sich an ein Amt, das ihm jährlich 260 000 Franken Lohn bringt. Bleibt er bis 2017, erhält er mit Ruhegehalt 1,13 Millionen Franken. Dabei hat er kaum noch etwas zu tun.
Dafür müssen die andere Räte mehr erledigen – und dürften eine Lohnaufbesserung fordern. Müllers Gehalt bleibt unangetastet.

Das mangelnde Bewusstsein für Baden irritierte die Stadträte. Sie sehen Müllers Verteidigung – mit einem Rücktritt schaffe er ein Präjudiz für Denunzianten – als Ausrede, sich Pfründe zu sichern.

Baden, einst heimliche Hauptstadt der Eidgenossen, ist stolz auf seine politische Tradition. «Baden hat eine Würde, Baden hat Geschichte, diese Stadt verdient es nicht, was hier geschieht», sagt ein Alteingesessener. Müller fehle die staatspolitische Verantwortung. Die Stadt ist geteilt, wie eine Umfrage zeigt.

Frauen sind eher gegen ihn. «Was er macht, ist miserabel», meint eine Passantin (85). «Mit einem Rücktritt wäre alles vom Tisch. Nun denkt der Ammann nur ans eigene Geld.»

Schweigende Frauen
Was Müller getan habe, sei «sehr verletzend für Frauen», sagt SP-Nationalrätin Yvonne Feri (48, AG). «Das Selfie interessiert mich nicht, Sexismus aber zeigt sich in den Aussagen über andere Personen.»

Nicht akzeptabel sei Müllers frivoler Chat über seine Badener Sekretärin und die syrische Sozialministerin Kinda al-Shamat (40).

An ihm «bedienen» könne sich die Sekretärin, schrieb er im Chat.

Nach einem Treffen mit al-Shamat in Damaskus fantasierte Müller, dass ihre «dunklen kräftigen Augen leuchteten, wenn ich widersprach», und dass sie «lasziv leuchteten, wenn ich sie bestätigte».

Der «Aargauer Zeitung» sagte Feri: «Wenn ich seine Sekretärin wäre, dann wäre für mich klar: Mit einem solchen Chef möchte ich nicht zusammenarbeiten.»

Seither quelle ihre Mailbox über, viele freuten sich über ihren Mut. Andere linke Frauen schweigen. Die grünen Nationalrätinnen Yvonne Gilli und Regula Rytz, die SP-Politikerinnen Pascale Bruderer, Nadine Masshardt und Ursula Wyss – sie alle liessen Anfragen von SonntagsBlick zum Thema Sexismus unbeantwortet. «Wir sind als Grüne nicht bereit, zur Fortsetzung der Boulevardisierung der Causa Müller beizutragen», sagt Rytz (52).

«Unverständlich» ist für Feri das Schweigen der linken Frauen. Dabei hat es Tradition: Linke Machos – Müller, Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Bill Clinton – wurden stets toleriert, ja bewundert.

Ein «gescheiter Mensch» sei Geri Müller ohne Frage – «deshalb bin ich so enttäuscht von seinem Sexismus.» Zumal es kein einmaliger Lapsus gewesen sei. «Es gab mehrere sexistische Äusserungen.»

Eine künftige Zusammenarbeit sei schwierig. «Auf dem Gebiet der Gleichstellung ist Geri Müller für mich nicht mehr glaubwürdig», sagt Feri. «Tritt er im Nationalrat ans Mikrofon und spricht über Frauenfragen, kann ich das nun nicht mehr ernst nehmen.»

Sie betont: «Am besten wäre all das nie bekannt geworden. Letztlich ist selbst der Sexismus privat.»

Weder Geri Müller noch sein Anwalt wollten Stellung nehmen.

Mitarbeit: Adrian Meyer