Wir sitzen in einem Boot mit Putin

Nach dem Abschuss eines Zivilflugzeugs über Europa bleibt die Empörung verhalten. EU-Politiker fürchten um die warme Stube – und Geschäfte mit Russland.

Von Peter Hossli

erdgasBarbie liegt im Kornfeld. Die Puppe gehörte vermutlich einem niederländischen Mädchen. Es flog am Donnerstag mit den Eltern von Amsterdam in die Ferien nach Asien. Eine Rakete traf ihr Flugzeug über der Ostukraine. Das Mädchen starb, zusammen mit 297 unschuldigen Menschen.

Das Geschoss kam aus Russland, abgefeuert vermutlich von prorussischen Separatisten. In einem Krieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin (61) zu verantworten hat. Sein Ziel: die Ukraine zu destabilisieren, damit sie jahrelang nicht der Europäischen Union beitreten kann.

Seit dem Abschuss müssen EU-Politiker nun Putin regelrecht anflehen, zumindest die Würde der Opfer bei der Absturzstelle zu wahren. In Europas Hauptstädten sollte es «Aufschreie und Empörung» geben, so die einstige US-Aussenministerin Hillary Clinton (66). Die Empörung jedoch ist zögerlich. Denn Europa ist dick im Geschäft mit Russland.

Ein Drittel der fossilen Brennstoffe – Benzin, Öl, Gas, Kohle – kauft die EU in Russland. Deutschland wäre kalt ohne russisches Erdgas. Über 35 Prozent des in Küchen, Heizungen und Kraftwerken verfeuerten Gases kommen aus Russland. Die drei baltischen Staaten und Tschechien, Bulgarien, Finnland sowie die Slowakei beziehen fast ihr gesamtes Erdgas aus Putins Reich.

Wegen dieser Abhängigkeit lässt die EU Putin meist gewähren. Wenn er, wie 2008, in Georgien einfällt. Wenn er, wie im Frühling, die Krim annektiert.
Die EU reagiert mit zahnlosen Sanktionen, dabei könnte sie einiges bewirken. Ein Gasboykott würde Putin empfindlich treffen. Russlands Wirtschaft schrumpfte um drei Prozent, eine Rezession die wahrscheinliche Folge, so eine belgische Studie. Gefährdet wären aber auch 0,5 Prozent des deutschen Wachstums und somit Tausende Jobs in der EU.

Ein Gasboykott käme die EU also teuer zu stehen. Alternativen sind nicht leicht zu haben. Als Lieferanten könnten die USA, Katar und Libyen einspringen. Doch deren Erdgas gelangt übers Meer nach Europa. Es mangelt an Platz auf Tankern – sowie an europäischen Hafenanlagen für die Riesenschiffe.
Reichlich rollen Rubel nach Europa: 50 Prozent aller Importe bezieht Russland in der EU.

36 Milliarden Franken kostet die Fussball-WM 2018 in Russland. Europäische Konzerne buhlen um Aufträge. Ab 2015 ist der russische Gas-Riese Gazprom Hauptsponsor der Fifa. Bereits sponsert er die Champions-League-Spiele, Schalke 04 und Chelsea.

putin_merkelAb 2020, so Ökonomen, ist Russland Europas grösster Markt für Konsumgüter. Die spanische Kleiderkette Tara betreibt bereits 300 Boutiquen in Russland. Die dänische Brauerei Carlsberg erwirtschaftet dort ein Viertel des Umsatzes. Russen erwerben Wohnungen an der Côte d’Azur (F), tragen Rubel auf europäische Banken, kaufen teure Uhren und schnelle Autos.

Umso mehr hofieren Politiker russische Machthaber. So feierte Alt-Kanzler Gerhard Schröder (70) nach der Krim-Anne­xion mit Putin Geburtstag. Am vorletzten Sonntag sass Putin am WM-Finale in Rio in der Ehrenloge. Bei ihm: Fifa-Präsident Sepp Blatter (78), Südafrikas Präsident Jacob Zuma (72), der deutsche Amtskollege Joachim Gauck (74), Bundeskanzlerin Angela Merkel (60), IOK-Präsident Thomas Bach (60).

An jenem WM-Finaltag beobachteten US-Spione, wie 150 schwere Militärfahrzeuge von Russland über die ukrainische Grenze fuhren. Darunter befanden sich mobile Abschussanlagen für Raketen. Tötete eine das kleine Mädchen, das mit den Eltern und Barbie nach Asien fliegen wollte? Gut möglich.

Ein Kommentar

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