Wo Deutschland funktioniert … und wo nicht

Es gibt Sieger und Verlierer in Deutschland. In Bayern liegt der Landkreis mit der niedrigsten Arbeitslosenrate, in Brandenburg stehen am meisten Deutsche auf der Strasse. Zwei Besuche.

Von Peter Hossli (Text) und Maria Schiffer (Fotos)

eichstatt_aufmacherEichstätt in Bayern. Die Sonne scheint. Aus Backstuben dringt der Duft frischer Brötchen. Kinder eilen zur Schule, vorbei an rüstigen Rentnern. «Grüss Gott», grüssen sie sich auf dem Marktplatz. Die Metzgerin nennt jede Kundin beim Namen. Mittags servieren Kellner in den Biergärten Haxen und Kraut.

Ein Idyll? Hier in Eichstätt liegt das deutsche Paradies.

Nirgends funktioniert das Land so gut wie in der bayerischen Kleinstadt mit 14 000 Einwohnern. Bloss 1,1 Prozent Arbeitslose sind bei der Agentur für Arbeit gemeldet. «Es ist europaweit oder sogar weltweit die niedrigste Quote», sagt Oberbürgermeister Andreas Steppberger (36). Er betont: «Wir hatten schon 0,9 Prozent.» Seit 40 Jahren sei Arbeit bei Wahlen nie ein Thema.

Er führt uns aufs Dach des Stadthauses. Eine Universität ist zu sehen, barocke Kirchen und Klöster, dazu Gebäude der bayerischen Verwaltung. «Wir haben krisensichere und stabile Stellen», sagt Steppberger. Unkündbare Professoren unterrichten, unkündbare Beamte verwalten, unkündbare Kleriker seelsorgen. Bayern bildet in Eichstätt Polizisten aus. Audi fertigt in der Nähe jährlich 550 000 Autos.

croceKaum Arbeit hat nur Jürgen Croce (54). Er leitet das Job­center von Eichstätt, vermittelt Arbeitslose an Firmen. Stellensuchende sieht er heute keine, wie meist. «Wir konzentrieren uns auf Kunden, die dieses Paradies nicht nutzen können», sagt er. Etwa Alleinerziehende und Kranke. Für sie sei es nicht leicht. «Erwerbslose sind in Eichstätt grössere Aussenseiter als etwa im Ruhrgebiet.»

Ein Betonmischer dreht, Glaser setzen Fenster ein, Elektriker verlegen Kabel. Zwischen Bahnhof und dem Fluss Altmühl entsteht eine Überbauung mit 90 Wohnungen. «Der letzte unverbaute Fleck in Eichstätt», sagt Ernst Meier (78), in vierter Generation Besitzer der Baufirma Martin Meier. Jede Wohnung sei verkauft, die teuerste für drei Millionen Euro.

Arbeit hat Meier genug. Ihm fehlen Arbeiter. Er beschäftigt 60 Personen – und holt sich Maurer in Süd- und Osteu­ropa. Eichstätts Erfolg schreibt er den Familienbetrieben zu. «Gehört dir die Firma, hast du eine stärkere Bindung zu den Stellen.» Ist ihm wichtig, wer in Berlin regiert? «Eichstätt braucht starke Politiker.» Egal, welcher Couleur. «Hauptsache, die Politiker lassen uns arbeiten.»

eichingerBarbara Eichinger (35) verliess Eichstätt als Teenager, sie reiste um die Welt – und kam zurück, um eine Familie zu gründen. Sie trägt ein rotes seidenes Dirndl, verkauft Trachten, Lederhosen und Honig. «Für Kinder ist es hier ideal.» Sie schwärmt von den Schulen, den nahen Alpen, der Burg.

Ihr Geschäft boomt. «Zu jedem Haushalt in Bayern gehören Dirndl und Lederhosen.» Eine Kundin betritt den Laden, will «hochwertiges Tuch», sagt sie. «Wer zu uns kommt, will ein Dirndl für 500 Euro, nicht für 70», so Eichinger. «‹Geiz ist geil› ist hier verpönt. «Wer ehrlich arbeitet, darf gutes Geld verdienen.» Wie erklärt sie sich das Idyll, die Vollbeschäftigung? «Es gibt viele kleine Dachdecker, Schreiner, Metzger – ihre Besitzer wachen mit der Arbeit im Kopf auf und gehen mit der Arbeit ins Bett.»

Hat die Stadt überhaupt Probleme? «Jammern Eichstätter, jammern sie auf hohem Niveau – etwa wenn eine Strasse nicht eben ist», sagt Bürgermeister Steppberger. «Es geht um Bestandssicherung.» Seine wichtigste Aufgabe: «Wir müssen die Innenstadt lebendig erhalten.»

berchtoldEr fördert das kulturelle Leben, weihte eben ein Freibad sein, besucht türkische Familien, die in den nahe gelegenen Steinbrüchen schuften. Die Wahlen interessieren ihn nur wenig. «Machen die da oben in Berlin keinen vollkommenen Schmarrn, passiert uns nichts.»

Daniel Berchtold (33) schiebt einen Kinderwagen durch den Garten der Universität. Dahinter stösst Gattin Barbara (34) einen Doppelwagen. Ihr Sohn ist 18 Monate alt, die Zwillinge vier Monate. Die Eltern geniessen 14 Monate Auszeit. Sie leben in Eichstätt, weil er bei Audi in Ingolstadt arbeitet – «und weil Eichstätt ideal ist für Familien», sagt sie. Nur gemütlich sei es in Eichstätt nicht. «Weil die Leute sehr viel arbeiten, geht es der Region so gut.» 55 Prozent der Eichstätter wählen die CSU. Sie wählt die Piraten, er die Grünen. Beide sagen: «Wer Kanzler ist, ist unwichtig. Wir können das allein.»

Zeit für den BLICK hat Markus Schmidramsl (34) nicht. Er führt als Wirt das Restaurant Trompete, dazu ein Hotel. Seine Gäste warten. «Wir haben wenige Arbeitslose, weil wir so viel zu tun haben.»

 

schwedt_aufmacherSchwedt in Brandenburg. Mit gesenktem Kopf geht der alte Mann über die Brücke. Ein zweiter wendet sich ab, trotz «Guten Tag». Geschäfte in Schwedt öffnen spät und schliessen früh. Vom Plakat lächelt Kanzlerin Angela Merkel. Ihr Slogan: «Deutschland ist stark. Und so soll es bleiben.»

Wo das Schild steht, ist Deutschland schwach, darbt das Land. Die Stadt Schwedt liegt im Landkreis Uckermark, an der deutsch-polnischen Grenze. 15 Prozent sind hier arbeitslos. Vor vier Jahren waren es 20 Prozent. Die Quote sank, weil sich die Stadt entvölkert. «Wer keinen Job hat, geht», sagt Marie-Christin Schultz (26). Sie sitzt im Restaurant Mendoza, trinkt mit einer Freundin Cola. Sie arbeitet bei der lokalen Sparkasse – und fürchtet um ihre Stelle. «Sinkt die Einwohnerzahl weiter, braucht es die Bank bald nicht mehr.»
Sie habe Mühe, einen Ehemann zu finden. «Alle guten Männer sind weg.» 57 Jahre alt sind im Schnitt die Schwedter. «Für uns Junge gibt es nichts mehr, vor zehn Jahren war noch eine Disco, die ist auch weg.»

hossli_herrmannWie viele Menschen. Als die Mauer 1989 fiel, lebten noch 54000 Personen in Schwedt. Heute sind es 30000. Abrisskugeln zertrümmerten ganze Stadtteile. Ein bewusster Entscheid. «Der Ansatz, Jobs nach Schwedt zu bringen, lief ins Leere», sagt Lutz Herrmann (61), stellvertretender Bürgermeister und Mitglied der SPD. Er sitzt in einem geräumigen Büro im dritten Stock des Stadthauses. «Die Menschen zogen der Arbeit hinterher, wir mussten uns verkleinern.»

Er zeigt auf der Stadtkarte, wo er Plattenbauten abreissen liess. Das kleinere Schwedt sei weniger trist, lebendiger. «Klar, die Mehrheit ist 60, 70 und 80 Jahre alt», so Herrmann. «Da sie bald sterben, schrumpfen wir weiter.» Nun will er Ökotouristen in den nahen Nationalpark an die Oder locken.

plattenSchuld an der Misere sei die Planwirtschaft. DDR-Funktionäre entschieden, in Schwedt Papier und Benzin zu ­fabrizieren. 1959 wurde die Papierfabrik eröffnet, 1960 die ­Raffinerie, 1975 die Schuhfabrik. Tausende Arbeiter mussten hierherziehen. Nach der Wende fielen die maroden Fabriken in private Hände. Maschinen ersetzten Menschen. Die Stadt stürzte ab.

Heute erinnern noch Strassen­namen an die sozialistische Zeit: die Karl-Marx-, die Rosa-Luxemburg-, die August-Bebel-Strasse. Plattenbauten säumen die Lindenallee, an welcher der Salon La Belle liegt. «Haben Sie Zeit zum Haareschneiden?» Lust zu arbeiten hat keine Friseurin. Sie verdienen alle einen Hungerlohn.

friseur6.50 Euro die Stunde erhält Sandra Krolikowski (40), wenn sie Make-up aufträgt und Frisuren richtet. Der Mindestlohn, für den SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wirbt, sei ihr wichtig. «Es darf nicht sein, dass wir weniger erhalten als ­jemand, der zu Hause sitzt.»

Zur Wahl geht sie nicht. «Es ist egal – alle Politiker versprechen viel und halten nichts.»

Vermisst sie etwa die DDR? «Beruflich war es damals besser, jeder hatte eine Stelle.» Heute müssten viele trotz Job zusätzlich aufs Arbeitsamt. Sie selbst ist zuversichtlich. «Gute Friseure braucht es immer – es sei denn, noch mehr Kunden lassen die Haare in Polen schneiden.»

agnesEine gedrungene Frau verlässt die private Arbeitsvermittlung. Sie hat ihre Zeugnisse verbessern und auf schönem Papier ausdrucken lassen. Als Agnes Schmidt stellt sie sich vor, heisst aber anders. Wie viele ist sie arbeitslos, will nicht, dass jemand ihren Namen im Internet findet.

Sie ist 58, wuchs im Nach­bardorf auf, durchlief eine klassische DDR-Karriere. Sie lernte bei der Bahn, heiratete früh, hat ein Kind, liess sich scheiden. Dann kam die Wende. Was sie konnte, war im vereinten Deutschland wenig wert. Sie schulte sich um, zur Kindergärtnerin, zur Pflegerin. «Nun bin ich alt, kaum vermittelbar.» Von der Politik sei sie «enttäuscht». Wählt sie? «Ja, die Partei, die man nicht wählen darf.» Also rechtsaussen.

Auch sie ist nostalgisch. «In der DDR gab es keine Arbeitslosen, wer arbeiten wollte, konnte.» Klar, heute seien die Geschäfte voller, könne man sich alles kaufen – aber nur in der Theorie. «Als Arbeitslose bin ich ziemlich eingeschränkt», sagt Schmidt. Sie erhält 225 Euro monatlich. «Früher wusste ich nicht, was es alles gibt, da habe ich auch nichts vermisst.»

trabiUnweit vom Stadthaus entfernt parkiert Gerda Förster (66) ihren hellblauen Trabant. «Das einzige Auto, das für den Markt nicht zu gross ist.» Sie fährt es seit 25 Jahren, geht seit 33 Jahren zum Markt, verkauft Obst, Gemüse und Blumen vom eigenen Hof. Zwei Kilo Äpfel und Birnen kosten bloss einen Euro. «Die Preise fallen, weil die Kunden weggezogen sind.»