Vernarrt in die Röhre

Eine Woche auf die Fortsetzung der Lieblingsserie warten? Das war gestern. «Binge viewing» heisst der neue Trend – auf Deutsch: Marathonglotzen. Netflix macht es möglich. Das beglückt Serienjunkies und verändert das Fernsehen.

Von Peter Hossli

Für uns Süchtige war der 1. Februar 2013 ein Tag der Erlösung. Erstmals überhaupt kam eine vollständige Staffel einer amerikanischen Fernsehserie gleichzeitig heraus. Dreizehn Episoden von «House of Cards» stellte Netflix ins Internet. Dreizehn Stunden lang konnte man zusehen, wie der Schauspieler Kevin Spacey im politischen Milieu Washingtons skrupellos die Fäden zieht. Wie er Machiavelli geradezu stümperhaft aussehen lässt.

Noch wichtiger: «House of Cards» erlaubte es, sich dem «binge viewing» hinzugeben.

«Binge viewing»? Das ist eine Wortkreation aus dem englischen «binge drinking», dem Komasaufen. Binge Viewer schauen an einem Wochenende eine oder gar zwei Staffeln einer Fernsehserie an. Fast ohne Pausen und bis sie nicht mehr können.

Mit «House of Cards», stellte die «Süddeutsche Zeitung» treffend fest, «haben Fernsehserien aufgehört zu sein, was sie mal waren.» Mit «House of Cards» sind sie zu noch härteren Drogen geworden.

Folgen traditionelle TV-Serien dem Prinzip, wonach zwischen jeder Episode eine Woche Zeit verstreicht, das Publikum das eine oder andere vergisst, erzählen die Regisseure von «House of Cards» bewusst für Binge Viewer. So beginnt Folge zwei genau dort, wo Folge eins aufhört. Die einzelnen Erzählstränge sind so komplex und packend, man muss ständig dranbleiben.

Wie bei jedem Suchtmittel stehen ökonomische Absichten hinter dem Prinzip: Der amerikanische DVD- und Streaming-Konzern Netflix will Kunden binden. Sie zahlen eine monatliche Gebühr und können so viele Filme und Serien schauen, wie sie wollen. Kaum war «House of Cards» online, schnellten die Abonnenten-Zahlen in die Höhe.

Damit will sich Netflix von Kabel-Stationen wie HBO oder Showtime absetzen. Diese haben in den letzten Jahren ihre Abo-Zahlen vervielfacht – dank hochkarätigen Fernsehserien, inszeniert von Regisseuren, die mittlerweile den kleinen Bildschirm der Breitleinwand des Kinos vorziehen. Denn dort können sie Geschichten und Figuren nicht nur über mehrere Folgen, sondern über Jahre weiterentwickeln.

Als Kulturgut lobt das Feuilleton mittlerweile amerikanische Fernsehserien. Ob «Homeland», «Mad Men», «The West Wing» oder «The Wire» – bezüglich kulturellem Einfluss haben solche Serien das Kino hinter sich gelassen. Komödiantenhaft erzählt «The Big C» von einer krebskranken Mutter. «The Newsroom» entblösst das Nachrichtengeschäft. Akribisch und doch emotional schildert «Six Feet Under» eine Familie von Bestattern, «Sex and the City» den Alltag selbstbewusster New Yorkerinnen.

Am Anfang aber stand eine Mafia-Familie aus New Jersey. «The Sopranos» begründete das Genre der hochwertigen TV-Serie. «Wir verdanken alles dem Erfolg der ‹Sopranos›», sagte der «Mad Men»-Erfinder Matthew Weiner in einem «Spiegel»-Interview. HBO sei erstmals gewillt gewesen, für jede Folge viel Geld auszugeben. Episoden wurden länger, Regisseure wagten, was bisher nur im Kino möglich schien. «The Sopranos», so Weiner, habe «komplexe Charaktere, eine fortlaufende Geschichte, keine Zensur, keine Stars, Szenen, in denen auch mal nicht geredet wird». Die Folge: «Plötzlich haben Menschen wieder ferngesehen, die sonst kaum noch ferngesehen haben.»

Fernsehen, oft verschrien als Zeittöter der Dummen und Faulen, ist dank Serien zum Zeitvertreib der Elite geworden. Oder wie die «Zeit» schreibt: «Serienfernsehen ist heute ein bisschen so, als würde man immer nur dann Fussball gucken, wenn die Champions League läuft.» Bewusst gibt sich HBO den Slogan «It’s Not TV. It’s HBO», es ist nicht Fernsehen, es ist HBO. Es läuft keine Werbung. Erlaubt sind: nackte Haut, derbe Sprache, realistische Gewalt.

Rund 80 Stunden dauern alle Episoden von «The Sopranos». Keine Minute langweilt – weil gute Serien bewusst eiserne Regeln des Fernsehens brechen. Bei Seifenopern muss jeder Zuschauer jederzeit zuschalten und folgen können. Hauptfiguren dürfen sich nicht entwickeln, Geschichten drehen sich im Kreis. Bei «Friends» schaut man sechs Mal im Jahr rein. Bei «The Sopranos» stirbt schon mal eine beliebte Figur, nehmen Erzählstränge überraschende Wendungen. «Dadurch verändert sich das Zuschauerverhalten», so «Mad Men»-Macher Weiner. «Nicht sechsmal pro Jahr wird eingeschaltet, sondern bei jeder Folge.» Wobei Binge Viewer niemals abschalten.