Höchste Nervosität in Obamas Wahlkampf-Zentrale

Am Tag vor der Wahl liegen die Kandidaten fast gleichauf. Die Nerven in Barack Obamas Wahlkampfzentrale liegen blank.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Foto)

41 Stockwerke reicht der gläserne Wolkenkratzer in den bewölkten Himmel von Chicago. Hier im One Prudential Plaza hat US-Präsident Barack Obama (51) die Büros seiner Wahlkampfzentrale eingerichtet.

Kurz vor acht Uhr eilen dick verhüllte Gestalten durch den Eingang, tragen Kaffee in Pappbechern mit. Bleich und müde sehen viele aus, gestresst. «Ich habe keine Energie mehr, aber irgendwie muss ich es noch bis zur Ziellinie schaffen», sagt Willy. Also bis Dienstagnacht.

Willy entscheidet, wer Zutritt hat zu den Wahlbüros des Präsidenten. Seit Frühjahr wird hier der teuerste Wahlkampf der US-Geschichte organisiert. Drei Milliarden Dollar geben die Demokraten aus, damit Obama Präsident bleiben kann. Mehr noch spenden die Republikaner, um Mitt Romney (65) ins Weisse Haus zu bringen. 20 Prozent teurer sind die US-Wahlen dieses Jahr als noch 2008.

Willy wirkt abgemagert, als hielten ihn nur Kaffee und Zigaretten auf Trab. Nonstop äugt er auf sein Smartphone, weist dabei Freiwilligen eine Aufgabe zu. «Du gehst zur Abteilung Wahlbetrug.» – «Du rufst Wähler in Ohio an.» – «Du organisierst Busse.» – «Du bringst Kaffee.»

Jugendliche schreiben sich ein und Senioren. Väter bringen ihre Kinder. «Weil ich ihnen die Demokratie zeigen will», sagt einer. Mehr darf er nicht sagen. «No, no, no», so Willy zur Frage, ob er mit BLICK reden wolle. «Die Presse bleibt draussen.»

Wer für Obama arbeitet, hat absolutes Redeverbot. «Keine Fotos, bitte», sagt ein Sicherheitsmann. Die Nerven liegen blank bei den
Demokraten. Nichts Unvorher­gesehenes darf in den letzten 48 Stunden vor Öffnung der Wahllokale noch passieren.

Jeder in Obamas Wahlkampfzentrale weiss: Die Wahl geht viel knapper aus, als die Demokraten vor kurzem noch dachten. Laut einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage von NBC News und «Wall Street Journal» hat Obama 48 Prozent der Stimmen auf sicher, Romney 47 Prozent. Beachtliche fünf Prozent sind noch unentschlossen.

Wahlanalysten wagen keine Prognose. Vor vier Jahren, als Obama gegen den Republikaner John McCain antrat, war am Sonntag vor der Wahl alles klar.
Obama hat zwar den psychologisch wichtigen Vorsprung nie eingebüsst. Euphorie konnte er in diesem Wahlkampf aber keine entfachen. Das drückt die Wahlbeteiligung – und hilft Romney.

Mit einem Zutritt zur begehrtesten Party des Jahres versucht der Präsident seine Anhänger nun noch einmal zu motivieren. Wer für Obama neun Stunden in einem anderen Staat Wähler mobilisiert, erhält ein Ticket für die Wahlfeier am Dienstag.

Nicht nur Freiwillige, insbesondere auch Anwälte beider Parteien halten sich derzeit in den Wackelstaaten auf – um notfalls Wahlbetrug einzuklagen. So sollen die Republikaner vor allem in Ohio jene einschüchtern, die frühzeitig wählen wollen. Was nicht überrascht. Romney muss Ohio gewinnen, sonst reicht es nicht.

Knapp wird es in sieben weiteren Staaten. Obama dürfte seinen knappen Vorsprung in Nevada halten. Romney scheint North Carolina sicher. Eng wird es in Iowa, Virginia, Florida, Wisconsin und New Hampshire. Deshalb besuchen heute Montag beide Kandidaten mindestens drei dieser fünf Staaten.

Wichtig sind die Resultate in den einzelnen Bundesstaaten, weil nicht derjenige US-Präsident wird, der am meisten Stimmen holt. Wohnrecht im Weissen Haus erhält, wer am meisten sogenannte Elektoren auf sich vereinen kann. Diese Wahlmänner vergibt jeder der 50 Bundesstaaten proportional zur Einwohnerzahl. Drei Stimmen hat zudem die Hauptstadt Washington. Seit 1964 sind es 538 Elek­toren. Wer am Wahltag 270 erhält, ist als Präsident der Vereinigten Staaten gewählt.

Verteilt werden die Elektoren nach dem Prinzip «The winner takes it all»: Der jeweilige Sieger bekommt in fast jedem Bundesstaat sämtliche Elektoren.

Supersturm «Sandy» dürfte dem umstrittenen Wahlsystem weitere Kritik eintragen. Viel zu langsam nämlich erholen sich New York und New Jersey von den Verwüstungen des Orkans. Ein neuer Sturm treibt arktische Luft in die Region. Am Wahltag werden Temperaturen von unter null erwartet. Statt zu wählen, bleiben Tausende zu Hause. Ihr Alltag ist zum Spiessrutenlauf geworden. Strom und Lebensmittel zu beschaffen, ist wichtiger als die Wahl. Das kostet Obama in New York und New Jersey Stimmen. Denn die Demokraten haben in beiden Staaten klare Mehrheiten. Gleichwohl sind ihm die Wahlmänner sicher.

Das Scheckensszenario: Bleiben wegen «Sandy» Zehn- oder gar Hunderttausende den Urnen fern, könnte der Republikaner Mitt Romney insgesamt mehr Stimmen erhalten als Obama. Dank der Wahlmänner bliebe der trotzdem im Weissen Haus. Die Demokratie Amerikas wäre erschüttert. Zu Recht.