Amerikas Herzschlag

Amerika floriert – in Texas. Jeden Tag bringt die Kleinstadt Cuero einen Millionär hervor. Dank dem grössten Erdöl- und Ergas-Boom seit 40 Jahren.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)

Vier blütenweisse Stahlrohre schweben über staubigem Grund. An einem Ende münden sie in einen Tank, am anderen zapfen sie den Wüstensand an, saugen einen grünlich-schmierigen Saft aus dem Boden: Erdöl. George Bishop öffnet einen Verschluss und lässt die Brühe in die offene Hand fliessen. «Nach was riecht das?» Nach bitterem Olivenöl? «Falsch, so riecht Geld.»

Davon hat Bishop (76) reichlich. Er ist Milliardär und will jetzt noch reicher werden. Deshalb zog er vor zwei Jahren nach Cuero, ins Herz von Texas. Er kaufte Land. Seither hat er darauf 70 Ölquellen gegraben. Täglich holt er 70000 Fass des kostbaren Rohstoffs aus dem Boden. Was ihm einen Umsatz von sieben Millionen Dollar bringt – jeden Tag.

Noch vor vier Jahren stoppte kaum einer in Cuero, wenn er von San Antonio zum Golf nach Mexiko fuhr. Heute kann man vom Strassenrand zusehen, wie sich die USA und somit die Welt verändern.

Öl aus Schiefer
Cuero sitzt auf dem Eagle Ford Shale, einer rund 100 Meter dicken unterirdischen Schieferplatte. Sie ist 400 Meilen lang und 50 Meilen breit. Darin harren enorme Vorkommen an Erdöl und Erdgas. Ölkonzerne pressen sie aus dem schwarzen Gestein. Allein in Cuero heben sie täglich 500 000 Fass im Wert von 50 Millionen Dollar.

Auf einem Hügel nördlich der Stadt thront ein protziges Haus, so gross wie ein Schloss. Davor grasen Büffel, dazu Zebras, Pferde, Lamas und die berühmten texanischen Longhorn-Rinder. «Meine Haustiere», sagt Bishop. Seit 57 Jahren ist er im Ölgeschäft. Noch mindes-tens tausend Quellen will er in Texas graben. Auf dem Küchentisch rollt er die Karte aus, auf der jede einzelne eingetragen ist. «Unser Milliardär» nennen sie Bishop ihn Cuero.

Mit dem Golfwagen führt er die Besucher durch seine Ranch zu einem sandigen Grundstück, so gross wie ein Fussballfeld. Vier Quellköpfe stehen darauf, darunter liegen Pipelines. «Zusammen bringen sie mir 200 Millionen Dollar», rechnet Bishop vor. Zehn Millionen koste es ihn, eine neue Quelle anzulegen. Fliesst Öl, wirft jede zwischen 40 und 60 Millionen Dollar ab. «Bis sie schliesslich austrocknet.»

Eine Meile von Bishops Wohnhaus entfernt ragt ein Bohrturm in den weiten texanischen Himmel. Generatoren dröhnen. «Ich liebe den Duft von Diesel», sagt Bishop. Das sonnengegerbte Gesicht versteckt er hinter einer gespiegelten Brille. «Howdy!» (grüezi), ruft er vier kräftigen Kerlen zu. Sie stehen zwanzig Meter über dem Boden auf der Plattform und bohren für Bishop die 71. Ölquelle.

Ihre Bärte sind ölverschmiert, ebenso die Overalls. Ein hydraulischer Kran hebt ein Stahlrohr an, einer der Ölmänner packt es, ein anderer beschmiert das Gewinde mit Fett. Eine Maschine schraubt es fest und drückt es mit Hochdruck in die Tiefe. Fast 500 solcher Rohre sind nötig, um 4000 Meter in die Tiefe und 2000 Meter in die Horizontale zu graben. Die Männer bohren zwölf Stunden nonstop.

Boomtown USA
Es ist Mittagszeit in Cuero. Angenehm wärmt die hoch stehende Sonne der letzten Oktobertage. Die Restaurants sind voll, besetzt von Männern in Overalls. Sie bestellen Steaks und Pommes. Draussen donnern schwere Laster über die vier Spuren der Hauptstrasse. Sie führen Rohre mit, Tanks mit Wasser, Pumpen und Teile von Bohrtürmen. Tag für Tag fahren 30000 Autos an der einzigen Verkehrsampel Cueros vorbei, vor zwei Jahren waren es noch 13000.

Am Steuer sitzen Ölarbeiter. Sie tanken, essen, geben viel Geld aus. «Allein in den letzten sechs Monaten haben sich die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer verdoppelt», freut sich Bürgermeisterin Sara Post Meyer. «Cuero ist Boom, Boom, Boom.»

Volle Kassen
Die Banken quellen über mit Geld. Um 50 Prozent nahmen in den letzten zwei Jahren ihre Einlagen zu, obwohl drei neue Banken dazukamen. Randvoll ist die Stadtkasse. «Wir können uns all das leisten, was wir schon lange brauchen», sagt Bürgermeisterin Meyer. Eine neue Bibliothek ist im Bau, eine Kläranlage, das Spital wird saniert, die Highschool ausgebaut, Parks erneuert. Die historische Innenstadt erhält ein Facelift, wird mit drahtlosem Internet versehen. Nächstes Jahr bekommt jeder Schüler ein iPad. Östlich der Stadt entsteht ein neuer Flughafen. Damit neben Kleinflugzeugen auch Jets landen können.

Daryl Fowler fährt im schweren Pickup vor, trägt einen hellen Cowboyhut, dazu schwarze Stiefel aus Straussenleder. In der Führerkabine hängt ein Gewehr. Das Radio spielt Country. Fowler ist Rancher, im Nebenamt Richter. Er vergibt Bohrbewilligungen. Was viele Jahre eine eintönige Sache war. Höchstens 50 Anträge hatte er pro Jahr zu prüfen. Jetzt sind es fast 400.

Eine erste Quelle begann 2008 in Cuero zu sprudeln. Richtig los ging es 2010. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl der Arbeitsplätze von 8000 auf 12000. «Wer arbeiten will, findet in Cuero einen Job», sagt Richter Fowler, «mit einem hohen Lohn.» Anfänger verdienen 60000 Dollar im Jahr, Spezialisten bis zu 10000 Dollar am Tag. Vor dem Ölboom lag das durchschnittliche Einkommen in Cuero bei jährlich 25000 Dollar.

Für die Stadtverwaltung ist es schwierig geworden, Personal zu halten. Ein Polizist heuerte eben bei einer Ölfirma als Sicherheitsmann an. Weil er dort 87000 statt 46000 Dollar jährlich verdient.

Ein umstrittenes Förderverfahren treibt den Boom: Fracking. Bohrleute schiessen dabei grosse Mengen mit Chemikalien versetztes Wasser in den Boden. Der hohe Druck bricht den Schiefer in kleine Stücke. Als sei es ein Abführmittel, durchdringt die geophysikalische Spülung die Brocken und löst die kostbaren Mineralien. Aus den Rissen strömt Gas und Erdöl an die Oberfläche.

Nirgends wird mehr «gefrackt» als in Texas. Doch das Verfahren kommt im ganzen Land zur Anwendung. In North Dakota, einem Staat mit viel Nebel und wenig Menschen, fördern Ölfirmen mit Fracking mehr Öl, als in ganz Alaska zutage gelangt.

Setzt sich dieser Trend fort, könnten die USA ab 2035 auf Ölimporte verzichten, prognostiziert die Organisation erdölexportierender Länder. Was einem geopolitischen Erdbeben gleichkäme. Die US-Aussenpolitik zielt auf Erdöl unter dem Wüstensand oft irrer Diktatoren. Könnte die Supermacht ihren Öldurst daheim stillen, schwände das Interesse am Nahen Osten.

Heimisches Öl
Was möglich scheint. Vor vier Jahren importierten die USA noch 60 Prozent ihrer fossilen Rohstoffe, heute sind es noch 40 Prozent. Kraftwerke produzieren 30 Prozent des US-Stroms mit Erdgas, 2008 waren es 20 Prozent. Kohle ist auf dem Rückzug. Schwer haben es Wind und Sonne.

Paradox: Als grüner Hoffnungsträger trat Barack Obama an. Einer, der Sonnen- und Windkraft forciert. Seit er im Weissen Haus amtet, erleben aber fossile Brennstoffe den grössten Boom seit 40 Jahren.

Nicht wegen Obama, betonen die Menschen in Cuero. Hier mag fast niemand den Präsidenten. Romney/Ryan-Schilder säumen die Strassen. Den Republikanern sind 80 Prozent der Stimmen sicher. «Wird Obama erneut gewählt, könnte er Fracking einschränken und den Bau von Pipelines verbieten», sagt Fowler.

Ein Szenario, das Cuero fürchtet. Zu sehr hat man sich an die lange Nahrungskette der Ölbranche gewöhnt. Viele profitieren. Landbesitzer verpachten ihre Grundstücke an Ölfirmen, zu horrenden Preisen. Diese heuern teure Geologen an, um zu eruieren, wo der Schiefer liegt. Eine erste Crew richtet den Bohrplatz her, eine zweite bohrt in die Tiefe und die Horizontale, eine dritte legt die Pipeline und setzt die Tanks. Die letzte Mannschaft überwacht die Produktion.

Reich werden alle. Insbesondere Rancher und Farmer, die jahrzehntelang auf vermeintlich wertlosen Sandböden hockten. Ihnen gehört das Gras auf dem Land und zusätzlich alle Mineralien darunter sowie das ganze Wasser.

Konnten sie vor fünf Jahren die Hektare noch für 500 Dollar verpachten, sind es heute 6000 bis 9000 Dollar, allein für Bohrrechte. Fliesst Öl, bekommt der Landbesitzer 25 Prozent der Einnahmen. Kleine Quellen geben täglich 100 Fass ab, was einem Rancher knapp eine Million Dollar jährlich einträgt. Wobei die meisten Quellen ergiebiger sind. «Cuero produziert jeden Tag mindestens einen Multimillionär», sagt Fowler (56). «Das sind 365 neue Millionäre pro Jahr.»

Was Kundenberater und Banker in die Stadt lockt. «Financial Advisor» steht am Schaufenster von David Scotts Büro. Erst im Frühling zog er von Tennessee nach Texas – und berät seither viele alte Neureiche. «Hier gibt es etliche Senioren, die viel Land, aber lange Zeit kein Geld hatten», sagt Scott (58). «Jetzt haben sie viel Land und sehr viel Geld.» Gelangt etwa eine Pipeline durch ein Grundstück, zahlen die Ölkonzerne 40 Dollar pro Fuss. Ist die Röhre fünf Kilometer lang, wirft das rund 656000 Dollar ab.

Scott legt das Geld an. Rührend erzählt er von einem Ehepaar, beide 82 und verheiratet, seit sie zwanzig sind. An einem Morgen lag ein Scheck über 1,5 Millionen Dollar für Bohrrechte im Briefkasten. So viel Geld, wie sie im ganzen Leben nicht verdient hatten.

Sanft wellt sich die Landschaft um Cuero. Eine staubige Strasse biegt links vom Highway ab. Von einer kleinen Anhöhe schweift der Blick über sieben Ölquellen. Über einer achten thront mächtig ein rot-weisser Bohrturm. Hunderte von Stahlrohren liegen auf sandigem Boden, jedes 15 Meter lang. Die Anlage gehört Marathon Oil, einer der grössten amerikanischen Ölfirmen. Chef auf dem Platz ist Sammy Long (71), ein kauziger Kerl, der jedes Wort verschluckt, bevor er es ausspricht. Seit er 14 ist, arbeitet er auf Ölfeldern, war in Saudi-Arabien, hat auf hoher See Öl gepumpt. Aufhören will er nicht. Denn: «So einen Boom wie jetzt habe ich noch nie erlebt.»

Die Wanderarbeiter
Altgediente Ölmänner wie Long schwärmen vom Fracking. «Es hat die Branche revolutioniert», sagt er. «Da der Schiefer horizontal im Gestein liegt, ist jede Bohrung ein Treffer.» Früher hätten die Zufallsversuche viel Geld gekostet. Heute wüssten die Geologen genau, wo das Schieferöl liege. Dauerte es vor zehn Jahren über 100 Tage, um ein Bohrloch zu graben, ist es heute in zwei Wochen parat.

Long – alle nennen ihn Mister Sammy – sitzt im gekühlten Wohnwagen, blickt durchs Fenster auf den Bohrturm. Näher geht er nie ran. Die Arbeit seiner Crew beobachtet er am Bildschirm, weiss stets, wie viel fehlt bis zur angepeilten Tiefe von 18640 Fuss. «Wir liegen im Zeitplan», sagt Long. Noch muss die Crew 9012 Fuss graben.

Für die Sicherheit zuständig ist Billy Russ (42) seit 22 Jahren in der Branche. «Fracking ist sicherer für die Öl-arbeiter», sagt er. «Früher war es normal, dass Leute starben, ein Bein oder einen Arm verloren.» Sein Händedruck ist kräftig, noch Stunden später schmerzt der Handrücken. «Heute ist es nicht akzeptabel, dass einer mit einem Pflaster am Finger heimfährt.»

Zwei Kinder hat Russ. Er ist ein Wanderarbeiter wie die meisten der Branche. Seine Familie lebt 800 Meilen entfernt in Memphis, Tennessee. Er arbeitet jeweils 14 Tage nonstop. Dann hat er 14 Tage frei. Wobei zwei Tage fürs Reisen verloren gehen. Ist dieses Loch fertig, bohrt er 27 Meilen südlich ein nächstes.

Ausgezeichnet verdiene er. Das Leben aber ist spartanisch. Als Toiletten dienen Plastikhäuschen. Wie alle anderen schläft er im Wohnwagen, versehen mit Bett, einer Kochnische und einem Computer mit Internetzugang. Von der Decke hängt ein Fernseher.

Angst um das Wasser
Nicht jeder in Cuero mag den Ölboom. Eine lokale Nonne fürchtet, die Chemikalien verschmutzten das Grundwasser. Ein Bedenken, das Yoko Ono teilt. Landesweit stemmt sich die Künstlerin gegen Fracking. «Wir haben hervorragendes Wasser in Cuero, und das wird hoffentlich so bleiben», sagt Bürgermeisterin Meyer. Sie weiss aber: «In den nächsten zehn Jahren sollen hier 20000 neue Quellen gegraben werden, da wird das Wasser knapp.» Schon jetzt horten Ölkonzerne das Grundwasser in künstlichen Seen, um es später in Schiefersteine zu pressen.

Pech hat in Cuero, wer nicht in der Ölbranche arbeitet, sondern in einem Fastfood-Restaurant, im Supermarkt oder an einer Tankstelle. Ihre Mieten sind explodiert, die Löhne aber niedrig geblieben.

Die Laster haben viele Strassen aufgerissen. Benzin ist teurer geworden. Hotelzimmer kosten so viel wie in New York. Das grelle Licht der vielen Bohrtürme vernebelt den klaren Sternenhimmel.

Die tiefe Arbeitslosenrate hält Firmen davon ab, nach Cuero zu kommen. Sie fürchten, kein Personal zu finden. Deshalb brachte David Pipkin seines nach Cuero mit. Er eröffnete ein Luxusrestaurant. «Hier hat es viele Leute, die plötzlich viel Geld haben und gut essen wollen», sagt der 58-jährige Wirt. Als er kam, fand er keinen, der kochen oder angemessen servieren konnte. Pipkin heuerte einen Koch in New Orleans an, die Kellnerinnen stammen aus Wyoming und Mississippi.

Das Geld für das Restaurant – 1,5 Millionen Dollar – kam von Ölmilliardär Bishop. Der wollte einen Ort, um gut zu essen.

Wie lange reicht der Boom? «Das weiss niemand», sagt Bürgermeisterin Meyer. «Vielleicht ist das Öl in fünf Jahren versiegt, vielleicht sprudelt es 25 Jahre lang.» Sinkt der Ölpreis, ist Fracking zu teuer. «Ölkonzerne packen ihre Sachen rasch zusammen und ziehen weiter», weiss Meyer. Sie findet das in Ordnung. «Das ist Kapitalismus, und dagegen hat in Texas keiner etwas.»

Milliardär Bishop beruhigt die Bürgermeisterin. «Wir haben die Böden untersucht. Die Quellen um Cuero sprudeln noch mindestens 40 Jahre lang. Wenn nicht länger.»

 

Feuer aus dem Wasserhahn
Ein höchst umstrittenes Förderverfahren treibt den Ölboom in Texas und anderen US-Staaten an. Beim sogenannten Fracking wird Wasser mit Chemikalien versetzt und in den Boden gepresst. Gas und Öl lösen sich aus Schiefergestein und strömen an die Oberfläche. Mit verheerenden Folgen für Böden und Wasser, klagen Umweltorganisationen. In Dörfern in Pennsylvania sei der Grund so stark mit Gas versetzt, dass man das Wasser aus dem Hahn anzünden könne. Zu den stärksten Kritikern gehört der Schauspieler und Drehbuchautor Matt Damon. Sein neuster Film «Promised Land» gelangt Ende Jahr ins Kino. Darin klagt er die Fracking-Branche an.