Wer wirds?

In neun Tagen wählt Amerika seinen Präsidenten. Es wird sehr knapp.

Von Peter Hossli

Der kräftige Bau­arbeiter auf dem Heimweg nach Brooklyn wagt ohne lange nachzudenken eine Prognose: «Mitt Romney gewinnt.» Der junge Filmrequisiteur, der aus Pittsburg anruft, sieht es ähnlich: «Obama schafft es nicht, uns zu begeistern, Romney hat Rückenwind.» Und der Zollbeamte, der bei der Einreise den Pass aufmerksam beäugt, antwortet sofort auf die Frage, wer künftig sein höchster Chef sein wird: «Der nächste Präsident heisst Mitt Romney.» Und sein bisheriger Chef? «Obama hat einfach zu wenig getan.»

Allzu verlässlich sind solch zufällige Begegnungen nicht. Aber: Die Wiederwahl von US-Präsident Barack Obama (51) ist neun Tage vor dem Urnengang nicht mehr sicher. Sein einst klarer Vorsprung ist dahingeschmolzen. Die TV-Duelle gaben dem republikanischen Financier Romney (65) Aufwind. Laut jüngsten nationalen Umfragen erhält Romney 50 Prozent der Stimmen. Nur 47 Prozent der Amerikaner wollenObama im Weissen Haus behalten. Statistisch bedeutet das Gleichstand.

Deswegen wohl liegen in der Wahlzentrale des Präsidenten die Nerven blank. «Romney hat mehr Geld gesammelt als wir», so ein hastig verschicktes E-Mail. «Uns fehlen 45 Millionen Dollar. Romney kann jeden Tag vier Millionen mehr ausgeben als wir.» Geld entscheidet knappe Wahlen.

Warum muss der lange als sicherer Sieger geltende Obama nun zittern? Romney taktiert geschickt. Bei TV-Auftritten und in Reden rückt er von radikal-konservativen Positionen ab und umgarnt die moderate Mitte. Obama gelingt es nicht, ihn deswegen als wankelmütig zu zeichnen. Oder er tut es unbeholfen. Als «Bull­shitter» – «Dummschwätzer» – bezeichnete er Romney im Magazin «Rolling Stone». Solche Gossensprache ziemt sich nicht für einen Präsidenten. Sie zeigt einen dünnhäutigen Obama.

Dass beide Kandidaten nun mit Schmutz um sich werfen, überrascht nicht. Meist münden US-Wahlen in Schlammschlachten.

Vorgestern griff ein Berater von Romney den einstigen Kriegshelden und US-Aussenminister Colin Powell (75) an. Powell, ein Schwarzer, unterstützte doch Obama nur wegen dessen Hautfarbe. «Rassismus» sei das, schossen die Demokraten zurück. Das dreckige Gezänk wirkt, sagen Wahlstrategen. Es bringt unentschlossene Wähler zur Urne.

Vor allem in Ohio und Florida dürften sich die beiden Lager weiterhin beschimpfen. Denn dort wird diese Wahl entschieden. Wobei zwei Bezirke herausragen: die Region um Tampa in Florida und Wood County, südlich von Toledo in Ohio. Wer diesen Flecken im Rostgürtel Amerikas gewinnt, zieht ins Weisse Haus ein. Seit 1980 hat Wood County stets mehrheitlich für den siegreichen Kandidaten gestimmt. Nirgendwo schalten Republikaner und Demokraten mehr Wahlwerbung als in Ohio. Allein im letzten Monat strahlten die beiden Parteien dort 58 235 Wahlwerbespots aus, jeweils 30 Sekunden lang. Wer alle Spots sehen will, müsste nonstop 80 Tage lang schauen.

Die Ausgangslage ist spannend. Oba­ma gewann 2008 in Ohio. 2010 siegten die Republikaner bei den Kongresswahlen. Im Zuge der Finanz­krise schnellte Ohios Arbeitslosigkeit auf 15 Prozent. Dank der von Obama orchestrierten Rettung der Autoindustrie erholte sich der Staat jedoch. So liegt die Arbeitslosenrate in Ohio mit sieben Prozent unter dem landesweiten Schnitt von acht Prozent. Davon hat der Präsident profitiert. Lange führte Obama bei den Umfragen in Ohio. Jetzt ist sein Vorsprung geschmolzen, von acht auf noch vier Prozent – statistisch ein Unentschieden.

Die Wirtschaft allein entscheidet in Ohio nicht. Noch ist etwa unklar, ob die vielen frommen Republikaner zur Wahl gehen. Aus ihrer Sicht ist der Mormone Romney kein echter Christ. Gut möglich, dass Obama die Frommen in Ohio mit einer letzten Schlammschlacht daran erinnern wird.