Soldat Luca, kein Opfer, kein Held

Kerngesund und voller Optimismus geht Luca Barisonzi mit 18 zur Armee. Mit 20 schiesst ihn ein Afghane in den Hals. Jetzt ist der italienische Grenadier gelähmt und lässt sich in Nottwil pflegen.

Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)

luca_mamaSanft schiebt die Mutter ein Brett unters Gesäss ihres Sohnes. Ein Pfleger zieht ihn darauf vom Bett in einen Rollstuhl. Plötzlich scheppert das Brett zu Boden. «Besser das Holz fällt runter als Luca», sagt die Mutter. Sie umarmt ihn zärtlich.

Luca ist der Obergefreite Barisonzi (22), ein italienischer Grenadier in Schweizer Pflege. Seit sechs Monaten lebt er im Paraplegiker-Zentrum im luzernischen Nottwil.

Sein Rollstuhl steht in einem Einzelzimmer im Trakt B. Am Balkon hängt eine italienische Tricolore. «Ich kann nicht mehr gehen, ohne Hilfe kann ich nichts essen», sagt Luca. Er ist querschnittgelähmt. «Aber ich kann mich noch kratzen, und den Kopf habe ich noch.»

Weil er «die beste Pflege Europas» wollte, sei er in Nottwil, und weil seine Mutter rasch von Mailand hier sei. Den Aufenthalt bezahlt die italienische Armee. Sie steht in Lucas Schuld. Mit 18 meldete er sich freiwillig zum Dienst, hoffte, in Afghanistan zu dienen, «um Italien vor Terroristen zu schützen». Am Hindukusch kam der «Caporal mag­giore» im September 2010 an. Heiss war es, staubig, brandgefährlich.

duscheStationiert ist Luca in Bala Murghab, nahe der Grenzen zu Turkmenistan und Iran. Er schläft in Zelten und Gräben. Italienische, afghanische und US-Soldaten stellen hier gemeinsam Heroinhäschern nach – Aufständischen, die Opium verkaufen und Waffen erstehen. Den töd­lichen Kreislauf hilft er zu stoppen.

Bis am 18. Januar 2011, einem trockenen, kühlen Dienstag. Frühmorgens bezieht er Stellung auf einem baumlosen Hügel. Acht italienische und acht afghanische Soldaten bewachen eine Zufahrtsstrasse zum Murghab-Tal, wo sich Heroin- und Waffenschmuggler treffen. Die Einheit kennt sich schlecht, ist erst seit zwei Tagen ein Team. Die Afghanen sprechen kaum Englisch, die Italiener wenig Paschtun.

Barisonzi schiebt Wache, zusammen mit Luca Sanna, einem Sanitäter, zehn Jahre älter als er und so etwas wie sein grosser Bruder. Nach Mittag verlassen die beiden den Posten. Ziehen in der Pause an Zigaretten und plaudern. Die Gewehre legen sie zur Seite. Einer der afghanischen Soldaten geht stumm an ihnen vorbei. Er wirkt gereizt, nervös, bemerkt Barisonzi. «Hast du Hunger?», fragt er. «Kann ich dir helfen, die Waffe zu putzen?» Der Afghane schweigt, trottet davon.

zigaretteEr dreht sich um, geht hastig auf Barisonzi zu, bleibt zwei Meter vor ihm stehen, hebt das Sturmgewehr, richtet die M16 auf den Italiener. Er drückt ab. Einmal. Zweimal. Dreimal. Zwei Patronen treffen Luca. Eine durchdringt seinen linken Lungenflügel, die zweite den Hals.

«Er sprach kein Wort», sagt Luca. Kennt er seinen Namen? «Nein, ich könnte ihn zwar herausfinden, aber das ist für mich nicht mehr wichtig.» – «Ich erinnere mich an sein Gesicht.» – «Man vergisst nie das Gesicht eines Menschen, der dein Leben verändert.» – «Er wusste genau, was er tat.» – «Es schien, als würde er lächeln, als er schoss.»

Luca hat Durst. Ein Pfleger bringt ihm ein Glas Wasser, aus dem ein Strohhalm ragt. Er zieht daran. Er hält inne, zieht wieder. Sagt, er sei froh, seine Geschichte zu erzählen.

Der Schütze war ein afghanischer Widerstandskämpfer. Er hatte sich bei der Armee eingeschlichen, mit dem Ziel, hinterrücks Nato-Soldaten zu töten.

Er plante, an jenem 18. Januar nachts im italienischen Camp ein Blutbad anzurichten. Doch er verlor die Nerven und schoss schon am helllichten Tag.

Luca sinkt zu Boden, stellt sich tot, ist aber bei vollem Bewusstsein, hört Schreie und Schüsse. Schmerz fühlt er nicht. Das Adrenalin, das den Körper überflutet, bannt den Schmerz. Es packt ihn die Lust, ein Gewehr zu greifen, zurückzuschiessen.

Es geht nicht, Arme und Beine sind starr. Alle Afghanen legen ihre Waffen nieder. Sie fürchten, die Italiener würden sich rächen und auf sie schiessen. Der Schütze entkommt. Wurde er darauf gefasst? Luca weiss es nicht.

luca_rollstuhlBald hört er Rotorenblätter eines Blackhawks. Der Helikopter landet dröhnend neben ihm. Ein US-Arzt ist bei Luca. «Ich will nicht weg von Afghanistan», sagt der Italiener. «Versuchen Sie, die Arme und Beine zu bewegen», beruhigt der Arzt den blutüberströmten Soldaten. Es geht nicht. Der Arzt weiss – Luca Barisonzi ist querschnittgelähmt.

Wo ist Sanna? Der italienische Sanitäter? Er müsste bei ihm sein, so ist es vorgesehen. Luca ahnt Böses, erhält ein Opiat, fällt in Ohnmacht. Dass Sanna schon tot ist, als der Helikopter abhebt, erfährt er erst später. Derselbe Rebell hatte ihn erschossen.

Am nächsten Abend landet Barisonzi in einer Maschine vom Typ C-130 in der Pfalz, auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Hierher kommen alliierte Kriegsversehrte zur Triage. Der diensthabende US-Arzt will ihn nicht operieren. Das lohne sich nicht. «Du verbringst den Rest deines Lebens im Bett», bestellt er Luca. «Am Leben hält dich nur noch ein Beatmungsgerät.» Ach ja, sagt der Amerikaner, es gebe eine gute Nachricht: «Die Schultern kannst du noch bewegen.»

Die Einschüsse in Lunge und am Hals haben Lucas Knochen zertrümmert, das Rückenmark ist schwer verletzt, sein Gewebe angeschwollen. Ein römischer Arzt drängt den Amerikaner, die Operation zu wagen. Beim ersten Eingriff in Ramstein legen die Chirurgen die Wirbelsäule frei. Am 22. Januar wird er im Ospedale Niguarda in Mailand ein zweites Mal am Rückenmark operiert. Fortan stabilisieren Metallröhrchen Lucas Wirbelsäule.

luca-barisonzi19Niemand machte ihm Hoffnung. Nur er selbst. «Ich habe nie aufgegeben, dachte noch im Helikopter, ich würde wieder gehen.» Etwas treibt ihn an: «Ich will meine Uniform wieder tragen, ich bin Soldat, niemand nimmt mir die Uniform.»

Neun Monate liegt er in Mailand im Spital. Er begreift dort, dass er die Glieder nie mehr bewegen kann. Wut kennt er nicht, eher Scham. «Ich hatte das Gefühl, aus Afghanistan zu flüchten, die Kameraden im Stich zu lassen, ein Deserteur zu sein», sagt er. «Als ich im Helikopter lag, dachte ich nur, was ist aus meinen Freunden geworden?» Dabei hat er doch seine Jugend geopfert, seine Beine, den Tanz mit Frauen, das normale Leben. «Ich bin kein Opfer», wehrt er ab. «Ich habe nur meine Pflicht getan.»

Einen «italienischen Helden» nennt ihn der italienische Verteidigungsminister bei einem Besuch. «Ich bin kein Held», korrigierte der Gefreite den Minister. «Helden sind die vielen armen Afghanen, die mit Mühe ihre Kinder ernähren.»

luca-barisonzi18Es ist 13 Uhr. Luca hat das Essen nicht angerührt, das seit einer Stunde im Zimmer steht. Erzählen will er, nicht essen. Das Telefon klingelt. Es ist Sarah, seine Freundin aus Ohio. Sie ist eben aufgestanden, will Lucas Stimme hören. Die Mutter hält ihm den Hörer ans Ohr. Hört mit, wie der Sohn tuschelt. Anders geht es nicht. Luca ist verlegen, klemmt ab. «Bin in einem Interview, rufe später an, ciao.»

Sarah lebt in Cleveland, im Rostgürtel Amerikas. Erstmals sah Luca sie auf einem vergilbten Foto in Afghanistan. Ein US-Soldat zeigte das Bild, als die Männer einsam waren und von Frauen träumten.

Später, Monate nach der Verletzung, kamen sie sich auf Facebook näher. Sie besuchte ihn im Spital, verliebte sich in die sanften Augen. Er warnte sie. Sie sagte, sie liebe ihn für das, was er sei, nicht für das, was sein Körper könne. «Sarah weiss, worauf sie sich einlässt», sagt Luca. «Dass das kein Spiel ist, wissen wir beide sehr genau.»

luca_saraIhre Eltern haben den Italiener akzeptiert. Zumal er in Afghanistan ja für Amerika gekämpft hatte.

Heiraten wollen die beiden, eigene Kinder haben. Luca weiss – das ist möglich. «Grundsätzlich sind die sexuellen Funktionen bei Tetraplegikern eingeschränkt», sagt Oberärztin Anke Scheel, «Erektion und Ejakulation sind schwierig.» Aber Pillen können helfen. «Luca empfindet noch, einfach anders als gesunde Männer», sagt sie.

Nach dem Essen rollt Luca ins erste Untergeschoss der Nottwiler Klinik. Er kurbelt an einer Kraftmaschine, trainiert Ausdauer. Hinter ihm steht Marianne Albers, seine Therapeutin. Sie nennt Luca «den Musterpatienten». Einer, «der kämpft, hart arbeitet, stärker werden will». Keiner sei motivierter als er, drückt, presst, stösst seine Muskeln öfters.

Sie übt mit ihm, was für jeden Rollstuhlfahrer jeden Tag die grösste Herausforderung ist – den Transfer vom Stuhl aufs Bett. Kaum liegt er, dreht sie ihn auf den Rücken, hebt die Arme über seinen Kopf. Muss aufpassen, diese nicht loszulassen. Die Arme würden ihm auf die Nase fallen, diese brechen. Die Schwerkraft ist stärker als Luca.

luca_armSie hebt ihn hoch. Er stützt sich auf den Händen, wechselt mit ihrer Hilfe zurück in den Rollstuhl. Sofort zieht die Mutter die Falten in Pullover und Hose straff. Jede Falte wird zur gefährlichen Druckstelle. Diese kann sich schnell zur offenen Hautwunde entwickeln. Zufrieden ist Luca mit dem Training nicht. Es war ihm zu leicht. «Bin ich erschöpft, geht es mir gut. Dann spüre ich, wie ich einst war, dann fühle ich mich lebendig.»

Alles, was er kann, macht er über die Schultern. So schafft er es, die Arme hochzuziehen und die Räder des Rollstuhls zu bewegen. Seine Finger sind angewinkelt, damit die Hände besser greifen. Er kann sich darauf abstützen und den Rumpf auf dem Bett in Balance halten.

Sein Spürsinn hat sich verändert. Luca fühlt nur indirekt, an gewissen Stellen ist er überempfindlich.

Gelähmt sind Blase und Darm. Er ist auf ein Abführmanagement angewiesen. Alle zwei Tage wird der Darm entleert, gereizt von einem Zäpfchen. Allein kann Luca das nicht mehr tun. Über einen Katheter entleert ein Pfleger die Blase.

«Luca braucht lebenslang eine Person, die ihn betreut», sagt Oberärztin Scheel. «Das hat er in Nottwil gelernt zu akzeptieren.» Sachlich beschreibt sie, wie es ihm geht. «Er hat wenig Erholungspotenzial.» Gleichwohl ist sie erstaunt, wie sich der Zustand des Soldaten verbessert hat. Als er ankam, lag Luca nur im Bett, war sehr dünn, oft traurig, sprach wenig, spürte sich kaum.

albers2Mittlerweile kann er besser sitzen, der Kreislauf ist erstarkt, ganz verschwunden der Schmerz. Neuerdings macht er Stehtraining, übt im Hallenbad, kann lachen. «Luca ist weicher und lebendiger geworden», sagt Ärztin Scheel. «Er hat sein Trauma teilweise verarbeitet.»

Er wagt sich nach draussen, war mit Freunden zum Bier in Luzern, hat dort Pizza gegessen, die Disco besucht. «Die Mädchen sind in Luzern so hübsch wie in Mailand», sagt er. «Schweizer Essen ist aber nicht so gut wie italienisches.» Er sei froh, wenn die Mama koche.

Luca wächst westlich von Mailand auf, im Städtchen Gravellona Lomellina mit 2600 Einwohnern. Der Vater arbeitet für Fiat, die Mutter bringt drei Söhne zur Welt. Francesco, Luca, Paolo. Luca ist 11, als er am Fernsehen das brennende World Trade Center in New York sieht. Islamische Terroristen hatten Flugzeuge entführt und sie in die Gebäude geflogen. «Ich habe mir sofort überlegt, wie ich Italien vor solchen Angriffen schützen kann.»

Er stellt sich die Frage wieder, als Terroristen Bomben zünden in London und in Madrid.

luca_barisonzi_sannaDer kräftige Kerl mit den schlanken Fingern schafft es zu den Alpini, den Gebirgsgrenadieren. Es ist die Elitetruppe der italienischen Armee. Sie ist im Kosovo im Einsatz, sichert den Frieden im Libanon, birgt Verschüttete nach Erdbeben.

Luca will nach Afghanistan, will den USA beistehen. «Die Amerikaner haben Europa von den Nazis befreit, niemand hat sie gebeten, sie sind einfach gekommen.» Sie, die Italiener, hätten damals eine neue Zukunft erhalten. Jetzt will er «den Kindern in Afghanistan eine Zukunft schenken», sagt er. «Ich habe für die Kinder gekämpft.»

Seit dem 20. Dezember 2001 führt die Nato Krieg in Afghanistan. Damals verabschiedete der Uno-Sicherheitsrat eine Resolution, um das Land von Taliban-Schergen zu befreien und Terroristen um Osama bin Laden auszumerzen. Von Afghanistan aus hatte der bärtige Terrorfürst die Anschläge vom 11. September 2001 orchestriert.

luca_gewehrItalien stellt rund 4000 Soldaten. Es war das vierte europä­ische Land, das den Einsatz bewilligte, nach Grossbritannien, Deutschland und Frankreich.

Als Luca 2010 in Afghanistan ankommt, ist es nicht mehr einfach, zwischen Guten und Bösen zu unterscheiden. Er steht meist im Schützenturm eines gepanzerten Wagens, den Finger am Abzug eines grosskalibrigen Maschinengewehrs. Schiesst sofort, wenn jemand auf sein Fahrzeug schiesst. Er schiebt Patrouille, sucht nach getarnten Bomben, die Rebellen in Puppen verstecken. Spürt Terroristen auf.

Er tat das gerne. «Ich kämpfte für den Frieden.» – «Niemand will Menschen töten, aber um ein Land zu stabilisieren, ist das manchmal nötig.» War er an tödlichen Gefechten beteiligt? «Ja, dazu ist es gekommen», sagt Luca. «Es reichte nicht immer, zu verhandeln, manchmal mussten wir schies­sen.» – «Ich bin dort als Mensch gewachsen.» – «Habe Armut gesehen, die mich mein Leben sehr schätzen lässt.»

Morgen Montag verlässt er Nottwil, geht heim. Zuerst wird er bei seiner Mutter wohnen. Mitte Mai bezieht er mit Sara sein eigenes, voll rollstuhlgängiges Haus. Bezahlt haben es die Alpini, die Gebirgsgrenadiere.

luca_hossliEr geht zurück zur Schule, will lernen, was er noch nicht weiss. Ein erstes Buch über sein Schicksal hat er schon geschrieben, an einem zweiten arbeitet er. Zeigt Italien, dass man im Rollstuhl «ein würdevolles und glückliches Leben» führen kann. Rampen will er bauen lassen und Treppen niederreissen. Will für Behinderte ein Vorbild sein, Grenzen überrollen, mit Fallschirmen aus Flugzeugen springen, mit dem Handvelo durch blühende Täler fahren.

Der italienische Premier wird ihm am 4. Mai in Rom das Ehrenkreuz verleihen. «Dann ziehe ich die Uniform zum ersten Mal wieder an», sagt Luca.

Was würde er anders machen, wenn er könnte? «Fast nichts», sagt Luca. «Ich würde wieder als Alpino nach Afghanistan gehen.» Etwas nur möchte er ändern – «meinem Freund Luca Sanna das Leben retten.»