Ein bisschen lügen, bis die Wahrheit kommt

Wahrheit ist der Leim einer Demokratie. Politiker aber schummeln vor Wahlen und schwindeln im Amt. Eine kurze Geschichte von Lug und Trug.

Von Peter Hossli

Zuerst steckte er den kleinen Finger in den Mund. Über die Lippen glitt der ins Nasenloch. Zuletzt biss er sich in die Finger. Körperliches Unbehagen hatte den sonst so selbstsicheren Christoph Blocher (71) letzten Montag in Beschlag genommen. Nervös rutschte er im TV-Studio auf der Sitzbank hin und her.

Weil Roger Schawinski (66) ihm eine Täuschung vorspielte – Blochers eigene, von einem Tondokumente von 2010. «Nein», beantwortete er darin die Frage, ob er «direkt» oder «indirekt» an der «Basler Zeitung» beteiligt war. Das «Nein», ist mittlerweile bekannt, war nicht ganz richtig.

Eine Verlustgarantie hatte Blocher dem Konzern hinter der «Basler Zeitung» zugesichert. Tochter Rahel vereinbarte ein Vorkaufsrecht mit Besitzer Moritz Suter.

Seit diese Sachverhalte klar sind, macht Blocher, was Politiker stets tun, wenn sie beim Tricksen erwischt werden – er vernebelt und behilft sich der Wortklaubereien. «Ich habe bei der BaZ nichts Unwahres gesagt», sagte er im SonntagsBlick, «aber nicht alles offengelegt. Was soll denn hier so schlimm sein?»

Niemand habe sich bei ihm nach seiner Tochter erkundigt.

Wie Worte fallen, ist wichtig, weiss Jurist Blocher, und das weiss Jurist Christian Wulff (52). Der deutsche Bundespräsident argumentiert wie der Zürcher Nationalrat. Mit «Nein» beantwortete Wulff im Februar 2010 im niedersächsischen Landtag die Frage, ob zum Geschäftsmann Egon Geerkens geschäftliche Beziehungen bestünden. Wahr ist: Geerkens Gattin Edith lieh dem damaligen Ministerpräsidenten von Niedersachen 500000 Euro für den Kauf eines Hauses.

Gelogen habe er nicht, bekräftigt Wulff. Niemand hätte ihn zu Edith Geerkens befragt.

Die Fälle Blocher und Wulff werfen eine alte Frage auf: Wann hat ein Politiker die Grenze überschritten zwischen akzeptablem, politischem Manöver und lügenhafter Manipulation? Zumal die Wahrheit, wie das US-Präsident Gerald Ford in seiner Antrittsrede formulierte, «der Leim ist, der den Staat zusammenhält». Eine Gesellschaft, sagte Ford, funktioniere nur, wenn die Politiker ihre Bürger nicht anlügen.

Heilen wollte Ford damit tiefe Wunden, die eine hintertriebene Lüge gerissen hatte. Fünf Klempner waren im Sommer 1972 ins Büro der demokratischen Partei in Washington eingedrungen, im Wohnkomplex Watergate. Die Einbrecher platzierten Abhörgeräte, wurden aber ertappt. Präsident Richard Nixon stritt lange ab, etwas davon gewusst zu haben – bis er 1974 das Weisse Haus fluchtartig verlassen musste.

Zwei Reporter der «Washington Post» hatten aufgedeckt, wie vehement Nixon den stümperhaften Einbruch vernebelte.
Eine fieberhafte Vertuschung ist meist schlimmer als das Vergehen, lautet für Pinocchio-Politiker die Lehre aus Watergate.

Nicht gelernt hatte das Elisabeth Kopp, die erste Frau im Bundesrat. Wochenlang verheimlichte sie einen Telefonanruf an ihren Mann. Die Justizministerin hatte Hans Kopp im Herbst 1988 mitgeteilt, gegen eine Firma werde wegen Geldwäscherei untersucht, bei der er im Verwaltungsrat sass. Die Presse deckte das auf. Als sie die private Warnung nicht mehr abstreiten konnte, trat Kopp zurück.

Politiker lügen, wenn sie um Stimmen werben. Bei Wahlen siegt oft, wer schönfärbt, nicht wer die Zukunft düsterer zeichnet – und so die Wahrheit sagt.

Schwindet das Interesse an Blochers Irreführung bereits, bringen deutsche Reporter weitere Schwindel ihres Präsidenten ans Licht. Einzeltäter, wissen sie, sind politische Trickser selten. «Das Problem mit offiziellen Lügen liegt in ihrer amöbengleichen Neigung, sich zu vervielfältigen», schreibt Autor Eric Alterman im Buch «When Presidents Lie» («Wenn Präsidenten lügen»). «Je mehr ein Politiker das Volk anlügt, desto mehr muss er weiterlügen. Am Ende bekommen Lügen ein Eigenleben und überwältigen oft den Lügner selbst.»

Was zuweilen in der Badewanne endet. «Nein», er habe seinen politischen Gegner nicht bespitzeln lassen, sagte Uwe Barschel im Herbst 1987. «Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind», sagte der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein an einer Pressekonferenz. Er schwitzte, griff sich öfter an die Stirn.

Zwei Wochen später trat Barschel zurück. Er hatte gelogen.

Reporter des «Stern» fanden ihn neun Tage darauf tot im Zimmer 317 im Genfer Hotel Beau-Rivage. Mit weissem Hemd und dunkler Krawatte lag Barschel in der Wanne. Bis heute ist sein Ableben nicht vollständig geklärt.

Dürfen Politiker lügen? «Wenn das Motiv stimmt, ja», sagt BaZ-Chefredaktor Markus Somm. Der Historiker ist nicht allein. «In Kriegszeiten ist die Wahrheit so wertvoll, dass sie immer von einer Lüge als Leibwächter begleitet werden sollte», sagte der britische Pre-mier Winston Churchill. Keine Bedenken hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt, sein Volk «in die Irre zu führen und Unwahrheiten zu sagen, wenn es hilft, den Krieg zu führen». So redete er 1941 amerikanische Verluste bei der Attacke auf Pearl Harbor klein, ebenso die Zahl gefallener Soldaten bei der Invasion in der Normandie 1944.

An einer Lüge, die einen ätzenden Krieg lostrat, zermürbte Lyndon B. Johnson. Der amerikanische Präsident meldete, die kommunistischen Nordvietnamesen hätten am 5. August 1964 im Golf von Tonkin ein US-Kriegsschiff angegriffen. Ein Vorfall, der nie stattfand, aber der ausreichte, Vietnam den Krieg zu erklären.

Über 50000 Amerikaner und Millionen Vietnamesen fielen. Johnson zerbrach. Zur Wiederwahl 1968 trat er nicht mehr an.

Die Wahrheit verschleiern Politiker meist, wenn sie ihre politische Line radikal ändern. Wie George W. Bush, der nach 9/11 einen Angriffskrieg gegen Irak führen wollte. Der irakische Diktator, sagte Bush, bilde Terroristen aus und bedrohe Amerika. Zumal er riesige Mengen biologischer und chemischer Waffen horten und eine Atombombe bauen würde.

All das traf nicht zu. Zudem stimmten etliche Details nicht mit dem damaligen Wissen der Geheimdienste überein, belegt ein Senatsbericht von 2008.

Das war den Beratern des Präsidenten sehr wohl bekannt.

«Bushs Problem ist nicht die Lüge», schreibt Kolumnist Nicholas Kristof. «Er war übereifrig und täuschte sich selbst.» Statt die Wahrheit aufzudecken, umgab er sich mit Ideologen. Gegenseitig machten die sich die Mär des gefährlichen Irak weis. Nicht eindeutig sei daher Bushs Lüge, leitartikelt die «New York Times». «Wenn der Präsident aber zentrale Fakten der Öffentlichkeit vorenthält – und sie Dinge glauben lässt, die nicht stimmen – um eine Invasion zu rechtfertigen, ist das schlimm genug.»

Konsequenzen für Bush hatte es keine. «Es ist der törichte Politiker, der zurückschaut und an seinen Problemen zerbricht», erklärt sein damaliger Pressesprecher Ari Fleischer. «Ein guter Politiker schaut voraus, das unterscheidet den Verlierer vom Sieger, Jimmy Carter von George W. Bush.»

Gut möglich, dass Bush dereinst als Befreier Iraks in die Geschichte eingehen wird. Als Präsident, der mit dem Sturz von Saddams Statue den Anstoss zum Arabischen Frühling gab.

Und Carter, der dem Volk versprach: «Ich werde euch nie anlügen»? Gilt als netter Mensch, aber miserabler Politiker.

Zuerst unter Eid, dann live am Fernsehen sagte Bill Clinton 1998, er hätte nie eine Affäre gehabt mit Praktikantin Monica Lewinsky. «Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Miss Lewinsky», sagte er dreist vor laufenden Fernsehkameras. «Ich habe niemandem angelogen, nicht ein einziges Mal – nie.»

Er hätte sich mit dieser Lüge wohl davonstehlen können, hätte Lewinsky ihr mit Clintons Ejakulat beflecktes blaues Kleid zur Reinigung getragen. Sie hing es in den Schrank – ungewaschen. Eine gerichtlich verordnete DNA-Analyse wies den Flecken zweifelsfrei dem Präsidenten zu. Gelogen? Kaum, beharrte er mit langer Nase. Zumal der Verkehr oral, nie aber vaginal gewesen sei. Aus Clintons Sicht war das kein Sex.

Klar hätte der Präsident  gelogen, witzelte Komiker Jerry Seinfeld auf der Bühne. «Alle lügen über Sex, die Leute lügen beim Sex. Ohne Lüge gäbe es keinen Sex.» – Und somit keine Menschen mehr.