Herr über 635 Milliarden

Der neue Chef von Swissholdings heisst Christian Stiefel. Der Vertreter der Multis verlangt tiefere Steuern für Konzerne. So lasse sich der schwelende Streit mit der EU beilegen.

Von Peter Hossli (Text) und Marco Zanoni (Fotos)

christian_stiefelWie bescheiden die Schweiz zuweilen ist, zeigt der Weg zu den Einflussreichen. Mitten ins behäbige Bern führt er, vorbei am billigen asiatischen Take-Away – Menü: Fr. 8.80 –, hinauf zur zweiten Etage, ins schlicht möblierte Büro.

«Grüezi», grüsst Christian Stiefel (54), ein kräftiger Mann mit solidem Händedruck, der Anzug sitzt, ohne allzu edel zu sein. Ab Januar führt er die Swissholdings, den Verband der Industrie- und Dienstleistungskonzerne in der Schweiz.

Eine geballte Macht vertritt Stiefel – die wichtigsten Unternehmen der Schweiz. Riesen wie Roche und Novartis, Nestlé, Schindler oder Sulzer. Allesamt Firmen, die weltweit tätig sind. Darunter viele, die ihre Muttergesellschaft in den USA haben und von der Schweiz aus Geschäfte in Europa lenken. Etwa der Tabakkonzern Philip Morris oder Procter & Gamble, dessen Produkte uns täglich begleiten.

Weil sie geringere Steuern zahlen als in der EU sind sie hier, «und weil die Schweiz für Rechtssicherheit und eine liberale und offene Wirtschaft steht», sagt Stiefel.

Dass es so bleibt, dafür lobbyiert er. Öfter an die Öffentlichkeit will der neue Chef, die Anliegen der Multis offensiver kundtun. «Wir müssen prägnanter sagen, wie zentral internationale Unternehmen für die Schweiz sind», sagt Stiefel.

Mit drei Fakten unterstreicht er es: «Ein Drittel der Leistung der Schweiz erwirtschaften international tätige Konzerne. Sie stellen ein Drittel der Schweizer Arbeitsplätze, entrichten neunzig Prozent der Gewinnsteuern des Bundes.» Überdies vereint der mächtige Verband 61 Prozent des an der Schweizer Börse kotierten Kapitals.

Zahlen, die dort Gewicht haben, wo Entscheide fallen. Fünf Gehminuten ist das Bundeshaus von Stiefels Büro entfernt. Was erwartet er von der Politik? «Sie muss sich der Bedeutung der international tätigen Wirtschaft bewusst sein – und entsprechend handeln.»

Was nach Gemeinplatz klingt, ist längst nicht mehr garantiert. Zusehends klafft ein Graben zwischen Politikern und global aufgestellten Firmen. Bundeshaus und Multis entfremden sich zu parallelen Welten. Gar von «einer A- und der B-Schweiz» spricht PR-Mann Klaus Stöhlker. Von der «internationalen Schweiz, die weltweit geschäftet und zur eingeigelten Schweiz kaum Berühungspunkte hat».

Mit welchen Politikern will Stiefel das ändern? «Wir sind parteipolitisch ungebunden und können mit allen arbeiten», sagt er, «solange sie sich gegen die Isolation der Schweiz und für weniger Interventionen des Staates einsetzen.»

Eine sanfte Spitze gegen den Widerspruch innerhalb der SVP. Weniger Staat fordert die Partei – und lehnt die Personenfreizügigkeit ab. «Wir brauchen ausländische Fachkräfte», sagt Stiefel. Nicht nur aus Europa. «Wenn ein brasilianischer Konzern sich in der Schweiz niederlässt, muss er brasilianische Manager beschäftigen dürfen.»

Dann unterstützt er Bundesratskandidat Bruno Zuppiger? Einer der wenigen SVP-Parlamentarier, die Personenfreizügigkeit gutheis-sen. «Wir können mit allen Bundesräten leben, welche die Schweiz nicht abschotten wollen.»

Nicht bloss rechte Hardliner polemisieren gegen die Zuwanderung. Schweizer Züge und Strassen sind voll, Mieten steigen, getrieben von ausländischen Topverdienern. Was ist zu tun? «Diese Diskussion betrifft vor allem die Agglomerationen Zürich und Genf, andere Regionen der Schweiz wären froh, sie hätten mehr Ansiedelungen.»

Stiefel selbst ist ein internationaler Berufsmann, hat in England und Neuseeland gearbeitet, besitzt drei Anwaltspatente – ein neuseeländisches, das Berner sowie dasjenige von England und Wales.

Er vertritt Firmen, die «ihr Nervenzentrum in der Schweiz haben», die forschen, neue Produkte entwickeln, die produzieren, investieren, deren Management hier lebt. Gesellschaften will er, die langfristig in der Schweiz sind.
Klar, das schweizerische Holding-Modell ziehe zuweilen Unternehmen an, «die heute kommen, morgen hier sind, übermorgen wieder gehen». An solchen sei der Verband nicht interessiert. «Sie belasten das Image der Schweiz.»

Es sind trockene technische Gebiete, die Swissholdings behandelt, die Schnittstellen zwischen Recht, Wirtschaft und Politik. Nicht Themen des Stammtischs. Aber solche, die entscheiden, wo eine Firma geschäftet: Steuern, die Finanzberichterstattung, Gesellschafts-, Börsen- und Wettbewerbsrecht.

Vom «Verbandsstaat Schweiz» war einst die Rede. Heute küren Verbände keinen Bundesrat mehr. Ihre Macht ist geschwunden. Nicht zuletzt wegen eines wüsten Streits zwischen Economiesuisse und Swissmem vor fünf Jahren. Losgetreten hatte ihn Johann Schneider-Ammann, nun Bundesrat, damals Präsident bei Swissmem. Er unterstellte der Economiesuisse, sich zu sehr für den Finanzplatz einzusetzen, zulasten des Werkplatzes.

Seither habe sich die Schweiz gewandelt, sagt PR-Mann Stöhlker, sei internationaler geworden. «Deshalb ist der Einfluss von Swissholdings stark gestiegen – sie verkörpert die A-Schweiz.»

Macht? Einfluss? Unbehagen lösen beide Begriffe bei Stiefel aus. «Wir leisten gute und glaubwürdige Arbeit, damit wollen wir Einfluss nehmen.» – «Die Macht in der Schweiz hat ohnehin das Volk.» – «Die Stimmbürger haben ein gutes Sensorium, was dem Land nützt, und was ihm schadet.»

Wie betreibt er Lobbyarbeit? «Wir versuchen, fachlich zu überzeugen.» Zusammen mit Experten der Konzerne erarbeiten seine Experten Positionen. Der Verband lässt sie ins Parlament eindringen, in die Verwaltung, zum Bundesrat, initiiert Vorstösse. Verbucht Erfolge, wie letzte Woche, als der Bundesrat die Stempelsteuer auf Eigenkapital abschaffte.

Die Konkurrenz schlafe nicht, weiss Stiefel. Er nennt Holland und Luxemburg als härteste Mitbewerber. Zudem investiere Frankreich enorme Summen, um ausländische Konzerne anzuziehen. Zumal der Schweiz bei der Rechtssicherheit ein Imageverlust drohe.

Als grösste Gefahr nennt er die sogenannte Abzocker-Initiative des neu gewählten Schaffhauser Ständerates Thomas Minder. «Sie steht für das Gegenteil des Erfolgsmodells Schweiz.» – «Wir verstehen zwar das Unbehagen in der Bevölkerung für übertrieben hohe Löhne», sagt er, «aber die Annahme der Initiative wäre für den Konzernstandort Schweiz sehr schädlich.» Die Initiative verlange Vorschriften, «die es weltweit nirgends gibt», sagt Stiefel. Etwa, dass die Generalversammlung die Managersaläre festsetzen soll.

Das, erklärt Stiefel, «verunsichert multinationale Firmen, die darüber nachdenken, in die Schweiz zu ziehen». Zumal sich die Ziele der Initiative beim Heer globaler Wirtschaftsberater herumsprechen. An sie wenden sich Konzerne, wenn sie irgendwo auf der Welt neue Standorte suchen. «Sobald diese Berater die geringste Spur von Rechtsunsicherheit feststellen, raten sie von der Niederlassung in der Schweiz ab.»

Dasselbe gelte für den schwelenden Steuerstreit mit der Europäischen Union. Beamten in Brüssel passt es nicht, dass unter Schweizer Steuerregimes Erträge aus dem Ausland niedriger besteuert werden als solche aus dem Inland. In der Tat widerspricht die ungleiche Behandlung der Erträge global anerkannten Regeln.

«Der Druck auf die Schweiz wird zunehmen, international akzeptierte Lösungen zu übernehmen», sagt Stiefel.

Wie soll sich die Schweiz diesem Druck stellen? «Wir müssen von den negativen Erfahrungen der Finanzbranche lernen – und proaktiv agieren», sagt Stiefel. «Es ist falsch zu glauben, wir können das bestehende System verteidigen.» – «Nichtstun ist keine Option.» – «Es drohen erneut schwarze Listen, was die Unternehmen verunsichert.»

Die Schweiz müsse gegenüber der EU darauf beharren, die steuerlichen Rahmenbedingungen souverän festlegen zu können.

Mit einem Kniff kann gemäss Stiefel eine in den USA und Europa akzeptierte Lösung gelingen. Sie soll den Druck lindern und die Schweiz steuerlich attraktiv belassen.

Eine «generelle Senkung der Besteuerung von Gewinnen», verlangt der Jurist, «dann kann der Unterschied bei in- und ausländischen Ansätzen verschwinden.»

Die Idee stösst nicht überall auf offene Ohren. Insbesondere die Kantone bangen angesichts der schwachen Konjunktur um Steuereinnahmen. «Wenn wir nichts tun, ziehen Firmen ab, dann sind die Ausfälle höher», sagt Stiefel.

Er drängt auf rasche Schritte. «Es muss gehandelt werden, sonst besteht die Gefahr, dass die Schweiz mit dem Rücken zur Wand steht und über Nacht überhastete Schritte machen muss.»

Wie 2009, als der Bundesrat per Notrecht das Bankgeheimnis kippte. Die heute eingeschlagene Weissgeldstrategie hält er für «den einzig möglichen Weg». Kommt der automatische Datenaustausch? «Der Trend geht grundsätzlich in Richtung zu mehr Transparenz. Ob die Abgeltungssteuer eine Alternative dafür sein kann, ist noch offen.»

Zum Schluss – wie beurteilt er die Aussage von UBS-Chef Sergio Ermotti im SonntagsBlick, der Reichtum der Schweiz basiere auf Schwarzgeld? «Herr Ermotti ist ein Banker, er sieht das offensichtlich aus seiner Sicht.» – «Der Erfolg der Schweizer Konzerne basiert jedoch nicht auf Schwarzgeld. Sondern auf viel Arbeit, guten Produkten und Dienstleistungen sowie die Bereitschaft, sich dem globalen Wettbewerb zu stellen.»

SWISSHOLDINGS
Swissholdings ist der Verband der Industrie- und Dienstleistungskonzerne in der Schweiz. Er zählt 56 Mitglieder. Dazu zählen Firmen wie Lonza, ABB, Oerlikon, Michelin, Kaba, Landis + Gyr, Implenia, GF, Holcim und Sika. Gemein ist den Konzernen, dass sie über die Grenzen hinaus tätig sind. Ende März betrug die gemeinsame Börsenkapitalisierung 634,5 Milliarden Franken, was 61 Prozent des gesamten kotierten Kapitals am Swiss Exchange entspricht.