Die Neugier der Bundeskanzlerin

Damit unsere Beamten nicht erpressbar werden, schnüffelt der Bund ihr Privatleben aus. Jetzt wehrt sich Bundesrätin Doris Leuthard für ihre Amtsdirektoren.

Von Peter Hossli

Verblüfft verliess der junge Mann die Berner Amtsstube. Ohne Pause sass er vier Stunden auf einem Stuhl. Er trank Mineralwasser und beantwortete intimste Fragen, die ihm zwei Beamte stellten – freundlich zwar, aber bestimmt.

«Welche Drogen haben Sie konsumiert?» – «Haben Sie eine Freundin?» – «Wie viele Sexualpartnerinnen haben Sie bisher gehabt?» – «Hatten Sie Beziehungen, die im Streit endeten?» – «Gibt es Frauen, die Sie erpressen könnten?» – «Stellen Sie einer Ex-Freundin nach?» – «Ihre Kollegen verdienen mehr als Sie. Ist das ein Problem?»

Beim Abschied richtete sich der Mann an die Befrager: «Sie wissen jetzt mehr über mich, als je jemand erfahren wird.»

Das war vor zwei Jahren. Der Mann arbeitete als Mitarbeiter eines Bundesrats. Als solcher musste er sich einer strengen Personensicherheitsprüfung unterziehen. Die Beamten wollten herausfinden, ob er erpressbar ist. Den Staatsdienst hat er längst quittiert.

Verschärft haben sich seither die Befragungen. Sie sind intimer geworden, persönlicher und angriffiger. Zumal seit 1. April 2011 ein neues Regime über die Prüfungen wacht. Bundeskanzlerin Corina Casanova (55) ist jetzt zuständig für alle Personen in der Verwaltung, die von Bundesräten ernannt werden: Amtsdirektoren und persönliche Mitarbeiter. Zudem lässt sie sämtliche Top-­Geheimnisträger der Schweiz überprüfen.

Gegen Casanovas Befragungspraxis wehrt sich Uvek-Vorsteherin Doris Leuthard (48) vehement. Mit einem scharfzüngigen Brief, den ihr Generalsekretär Walter Thurnherr (48) vorletzte Woche an Bundeskanzlerin Casanova schrieb. Ein Uvek-Mitarbeiter kopierte das ­Schreiben und stellte es SonntagsBlick und anderen Medien zu – anonym. Offensichtlich um Casanovas Schnüffeleien anzuprangern.

Die Befragungen, schreibt Thurnherr, würden «die Grenzen der Verhältnismässigkeit zumindest stark ausdehnen, zum Teil auch überschreiten». Gleich «mehrere Rückmeldungen» habe er erhalten – von Spitzenbeamten, welche die Bundeskanzlei unlängst überprüft hat. Dabei seien Sachverhalte aufgenommen worden, die «zu stark in das Privatleben der betroffenen Personen eingreifen» und die oft «sehr weit in die Jugendzeit zurückgreifen». Geritzt würden verfassungsmässige Grundrechte verdienstvoller Staatsangestellter. So müssten «Direktoren und Führungspersonen des Uvek» kritisch beantworten, weshalb sie «bestimmten Vereinen Beiträge spenden». Das tangiere, betont der Generalsekretär, «offensichtlich die Ausübung der Vereinsfreiheit».

Dazu Bundeskanzlei-Sprecherin Ursula Eggenberger: «Die Befragung hat zum Ziel, ­Sicherheits- und Erpressungsrisiken auszuschliessen.»

Aus Sicht des Bundes ist erpressbar, wer im Bett Ungewöhnliches erlebt. Hemmungslos stellen Casanovas Fahnder deshalb Fragen zu «Details über Beziehungen oder zum Sexual­leben», schreibt Thurnherr. Das sei «mit dem Zweck der Prüfung in ­keiner Weise zu legitimieren».

Und es provoziert Irritationen. «Einzelne Führungspersonen aus dem Uvek sind sichtlich betroffen aus den Überprüfungen zurück­gekehrt», so Thurnherr.

Illegal sind die Befragungen ­allerdings nicht. Das 1997 verabschiedete Bundesgesetz über die Massnahmen zur Wahrung der ­inneren Sicherheit erlaubt es den Behörden, sicherheitsrelevante Daten über die Lebensführung betroffener Personen zu erheben. Ein Gesetz, das «der Sicherung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen der Schweiz» dienen soll – sowie «dem Schutz der Freiheitsrechte ihrer Bevölkerung».

Vor Maulwürfen soll es den Staat bewahren. Vor Feinden, die sich in der Verwaltung einnisten und von innen zuschlagen können. Vor Beamten, die wegen ausschweifendem Lebenswandel und Geldsorgen genötigt werden.

Offenbar gross ist das Misstrauen gegenüber dem Bundespersonal. ­Private Fehltritte von Ex-Armeechef Roland Nef haben dem Ansehen des Bundes geschadet. Ebenso der Ende September freigestellte Chef der Bundeskriminalpolizei, Michael Perler, der seine russische Freundin auf Geschäftsreisen mitnahm. Und der jetzt ein Sicherheitsrisiko für die Schweiz darstellen soll.

Ausdrücklich verlangte die Geschäftsprüfungskommission im Fall Nef, dass bei heiklen Posten künftig die Bundeskanzlei die Befragungen durchführe. Und, sagt Sprecherin Eggenberger, dass bei solchen Ämtern «erweiterte Personensicherheitsprüfungen mit Befragungen» erfolgen müssen.

Stets zwei Leute führen die Interviews, während jeweils eineinhalb bis vier Stunden. Ein Tonband zeichnet die Gespräche auf. Die Aufnahmen bleiben unter Verschluss, erfahren die Befragten. Nach zehn Jahren sollen sie vernichtet werden.

Die Bundeskanzlei, sagt Sprecherin Eggenberger, untersuche «Terrorismus, verbotenen Nachrichtendienst, gewalttätigen Extremismus, kriminelle Handlungen, Korruption, finanzielle Probleme, Abhängigkeiten, Erpressbarkeit, exzessiven ­Lebenswandel» – wie es seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2010 zulässig ist.

Bedenken müsse man aber «die Verhältnismässigkeit», sagt der Staatsrechtsprofessor der Universität Basel, Markus Schefer. Wenig sinnvoll sei, bei einem 50-Jährigen zu kontrollieren, welchem Verein er mit 16 beigetreten war. «Bei Prüfungen darf der Bund nie wahllos das Privatleben ausschnüffeln», sagt Schefer. «Relevant ist nicht die Moral, sondern die Sicherheit.»

Da das Gesetz nicht genau regelt, welche Fragen zulässig sind, «besteht die Gefahr der Willkür».

Problematisch daher, wenn die Bundeskanzlei «intensive Nachforschungen» über Angehörige von Bundesangestellten betreibt – «insbesondere Kinder», wie Thurnherr brieflich mitteilt. Obwohl ausschliesslich Angestellte des Bundes einer Personensicherheitsprüfung unterzogen werden dürfen.

Bisher, relativiert Sprecherin ­Eggenberger diesen Vorwurf, gebe es «keine einzige Befragung durch die Bundeskanzlei, in der ein Angehöriger oder ein Kind befragt wurde». Ohnehin sei dafür «eine schriftliche Einwilligung» nötig.

Tief gingen die Nachforschungen nicht, sagt Eggenberger. «Zur Abklärung von persönlichen Beziehungen und familiären Verhältnissen werden öffentliche Daten einbezogen, die im Internet oder in den Medien publiziert sind.»

Längst nicht alle Bundesbeamte müssen intime Details preisgeben. Zwanzig Jahre lang stand etwa ein Berner im diplomatischen Dienst, als er in New York den Posten des Vizekonsuls antrat. Kurz danach erhielt er ein Schreiben. Das Militärdepartement, hiess es, hätte ihn geprüft und für «ungefährlich» befunden. Fragen beantwortete er nie.

Bloss die fünf letzten Wohnsitze musste unlängst der Kommunika­tionschef eines Departements bekanntgeben.

Als «mangelhaft» bezeichnet jedoch Rechtsprofessor Schefer die Aufsicht über die Staatsschützer. Zumal die Aufsichtspersonen «institutionell nicht unabhängig sind», sagt Schefer. «Die Verfassungsmässigkeit von Personensicherheitsprüfungen ist nur durchsetzbar, wenn es eine stringente Aufsicht gibt – diese fehlt derzeit.»

Daraus zieht Leuthard jetzt die Konsequenzen. Sie erwägt, schreibt Thurnherr, «vorderhand betroffene Personen des Uvek nicht mehr überprüfen zu lassen», sollte an der «unverhältnismäs­sigen Prüfungs- und Befragungspraxis festgehalten werden».

Zu Drohung und Forderung äus­sert sich die Bundeskanzlei nur knapp: «Wir werden dem Uvek eine Antwort geben.»

Demnach ist der Zwist zwischen Bundeskanzlerin Corina Casanova und Bundesrätin Doris Leuthard noch lange nicht ausgestanden.

Korrektur: In einer Version dieses Artikels wurde Doris Leuthard fälschlicherweise als Bundespräsidentin bezeichnet.