Strom im Kopf

Mit 38 erkrankte Daniel Kilchsperger an Parkinson. Bald schaffte er den Alltag nicht mehr ohne fremde Hilfe. Jetzt liegen zwei Drähte in seinem Kopf. Stromstösse erlauben ihm ein beschwerdefreies Leben.

Von Peter Hossli (Text) und Gaëtan Bally (Fotos)

kilchsperger1Er setzt sich auf die Türschwelle, schiebt die Füsse in die Turnschuhe, schnappt mit beiden Händen die Schuhbändel. Im Nu ziehen die Finger sie zu perfekten Schlaufen.

Ohne fremde Hilfe schafft Daniel Kilchs­perger wieder die Banalität des Alltags.

Vor drei Monaten noch hatte er steife Glieder. Der linke Arm schlug mal aus, mal hing er einfach runter. Kaum kontrollieren konnte er die Finger. Zwanzig Minuten brauchte er, um die Socken überzustreifen.

An Parkinson leidet Kilchsperger (43), an der tückischen Nervenkrankheit, die einem die Beherrschung über den eigenen Körper raubt, den Kopf spastisch schwanken lässt.

Das ist vorerst vorbei. Dank Drähten in Kilchspergers Hirn, die in hoher Frequenz minimale Stromstösse absondern.

Die tiefe Hirnstimulation, so der medizinische Fachbegriff, ermöglicht dem gelernten Koch ein Leben ohne Beschwerden.

Aus den Bahnen geriet es vor fünf Jahren. Er war gerade mal 38, schaute fern. Plötzlich verkrampfte sich der linke Arm, die Finger erlahmten. Parkinson, lautete die Diagnose. Ein Nervenleiden, das meist erst im Alter auftritt. Still und unerkannt schleicht es ins Hirn. Greift mitten im schwarzen Kern jene Zellen an, die den Botenstoff Dopamin herstellen. Tritt das erste Symptom auf, sind bereits 60 und 70 Prozent dieser Zellen tot.

Noch rätseln Neurologen, warum sie sterben. Umweltgifte, so eine These. Bei jedem zehnten Patient scheint der «Parkie», wie Kilchsperger sagt, genetisch bedingt. ­Boxer sind nicht gefährdeter als Bürolisten.

Zumal die Krankheit bei allen anders verläuft. Bei einigen beschränken sich die Merkmale auf die Motorik. Andere plagen Blasenprobleme, die Libido erschlafft. Bei älteren Patienten verdunkelt sich die Gefühlswelt, sie neigen zu schweren Depressionen, oder schlimmer, verfallen der Demenz.

Bei Kilchsperger begann es auf der linken Seite. Die «Hände spielten Klavier», wie er sagt, schüttelten ungewollt. Der Gesichtsausdruck erstarrte, beiläufig wackelte der Kopf. Feinmotorisch fiel er ins Kindesalter zurück. Oft war er traurig. Hatte Angst, die Stelle im Aussendienst beim Nahrungsriesen Nestlé zu verlieren. Kunden konnte er nicht mehr in die Augen schauen, aus Scham.

Er schluckte Dopaminpillen. Deren Wirkung klang nach zwei Jahren ab. Ein zweites Medikament vertrug er nicht. Zunehmend vereinsamte er. Ging nicht mehr gerne Jassen, weil er die Karten weder mischen noch austeilen konnte. Peinlich war ihm, wenn Tochter Sarina sah, wie ihm an der Kasse das Portemonnaie entglitt und das gesamte Münz auf den Boden kullerte.

kilchspergerDer Alltag überforderte ihn. Helfen, wusste er, würden ihm nur noch Drähte im Gehirn. Kilchsperger liess sich eigens dafür psychiatrisch und neurologisch testen. Er setzte alle Pillen ab, liess dem Parkinson freien Lauf, verlor gänzlich die Körperkontrolle. Bis ihm die Ärzte eine Dosis von 200 Milligramm Dopamin verabreichten.

Sofort ging es ihm besser. Der Test zeigte: Er war bereit für tiefe Hirnstimulation. «Ein idealer Kandidat», sagt Dr. Matthias Oechsner, Leiter am Parkinsonzentrum der Klinik Helios im thurgauischen Zihlschlacht. «Er ist jung, hat keine Sprachstörungen, leidet nicht an Depressionen.»

Da bei Parkinsonkranken das Dopamin versiegt, agieren gewisse Nervenzellen überaktiv. Regelmässige Stromstösse hemmen sie. Daher wirkt tiefe Hirnstimulation.

Anfang Juli liess sich Kilchsperger in St. Gallen operieren. Zehn Stunden dauerte der Eingriff. Am Abend zuvor rasierte ihm ein Pfleger den Kopf. Um 7 Uhr früh holte er ihn ab. Der Neurologe lichtete das Innere seines Hirns ab, um die fünf Millimeter langen Stellen zu orten, in die er Elektroden zu legen hatte.

oechsnerDarauf schnitt ihm ein Chirurg die Kopfhaut auf und setzte den Bohrer an. «Ein psychologisch wichtiger Moment», sagt Kilchs­perger, der bei vollem Bewusstsein mithörte und den Bohrdruck spürte. Sechs Zentimeter drillte eine Spirale ins Hirninnere. «Ich habe mir einfach gesagt, da musst du jetzt stark sein, es geht dir nachher besser.»

Angst habe er nie gehabt. «Sonst schaffst du das nicht.» Unter Narkose stand er nicht, weil er die Wirkung sofort testen musste.

Ein Arzt setzte eine erste vierpolige Elekt­rode. Strom floss. Kilchsperger schwitzte, weinte, «vor Schmerz, nicht vor Glück», sagt er. «Es war, wie wenn du Kuhdraht anfasst und nicht mehr loslässt.» Auf dem «elektrischen Stuhl» wähnte er sich.

Da zu seinem Parkinson nicht ständiges Zittern gehört, habe er diese Überreaktion gezeigt, erklärten ihm die Ärzte. Drei Tage später verlegte ein Chirurg ein Kabel unter seine Haut. Es verläuft hinter dem Ohr, entlang des Halses, bis zum flachen Schrittmacher unter der Bauchdecke. Mit einer Frequenz von 130 Hertz gibt der Strom ab.

Rasch stellte sich der erhoffte Effekt ein. Am Tag nach der Operation ging Kilchsperger mühelos in die Cafeteria. Der Mundwinkel verzog sich nicht. Er sprach normal, die Gesichtsmimik war zurück, und er lachte.

kilchsperger2Von «einem perfekten Ergebnis» spricht Dr. Oechsner (48). «Von der Krankheit sieht man fast nichts mehr.» Allerdings: «Die tiefe Hirnstimulation ist eine symptomatische Behandlung der Bewegung, sie heilt den Parkinson nicht.» Längst nicht alle sprechen darauf an. Nur zwischen fünf und zehn Prozent der Patienten eigenen sich für die Stromtherapie. Bei jährlich etwa hundert führen Neurologen die schwierige Operation in der Schweiz durch. Sie kostet 70 000 Franken.

Kilchsperger hat wieder Freude am Leben, geht öfter aus, sitzt seltener am Computer, reitet, jasst, musiziert, verbringt die Wochenenden mit Sarina, ist offen für eine Beziehung.

Geheilt ist er nicht, weiss er. Zehn, fünfzehn gute Jahre gibt ihm «das Motörli» im Bauch. «Dann steige ich mit dem ungebetenen Gast erneut in den Ring.»