Am Ground Zero trocknen Amerikas Tränen nie

Wie New York den 10. Jahrestag der Terrorattacken vom 11. September 2001 erlebt. Eine Reportage.

Von Peter Hossli

wtc1Zwei Männer in dunklen Anzügen betreten den Hotellift im neunten Stock. Knöpfe stecken im Ohr. «Secret Service?» – «Ja», sagt ein Hüne mit Bürstenschnitt. Die Leibgarde des Präsidenten ist auf dem Weg zum Ground Zero, wo vor zehn Jahren Terroristen angegriffen hatten.

Passiert etwas? «Keine Sorge, unsere Jungs sind in Stellung», beruhigt er. «Viel Spass beim Berichten», sagt er zum Reporter. «Viel Spass beim Beschützen.»

Gelöst ist die Stimmung in New York, morgens um 5.30 Uhr. Alle, die schon wach sind, gehen an die Gedenkfeiern für 9/11.

Zwar stehen im Süden Manhattans an jeder Kreuzung Polizisten. Aber nicht mehr in kugelsicheren Westen, wie in den Tagen zuvor, sondern in Kurzarmhemden. «Good morning», grüsst ein Cop. Er scherzt über die dicke Ratte, die tot am Fuss der Brooklyn Bridge liegt. «Hat die sich etwa überfressen?»

Warum ist er an einem so traurigen Tag guter Dinge? «Hey, das ist New York, niemand kann uns den Humor nehmen, auch nicht Terroristen.»

Sterne funkeln. Weit besser als vorausgesagt ist das Wetter, 17 Grad, die Luft schwül. Gegen sechs Uhr dämmert es, der Himmel färbt sich rötlich, wie damals, als die Flugzeuge kamen.

Sternenbanner flattern auf halbmast. Rot, weiss und blau leuchtet One World Trade Center, das Hochhaus am Ground Zero, das bereits 80 Stockwerke in den Himmel ragt und noch zwanzig weitere wachsen wird.

Endlich hat Downtown Manhattan wieder einen majestätischen Turm, eine Skyline, die sich von denen amerikanischer Kleinstädte abhebt.

Zwei Blocks vor Ground Zero versperren Betonbarrikaden den Weg. Acht Cops schieben bei jeder Strasse Wache. Einlass gewährt nur eine persönliche Einladung. Die sind Angehörigen der fast 3000 Opfer von 9/11 vorbehalten. «Dieser Tag gehört den Familien», sagt Bürgermeister Michael Bloomberg zum Vorwurf, er sperre den Rest New Yorks aus.

Bereits ab Montag sei die Gedenkstätte für alle offen. Zudem gibt es in der ganzen Stadt kleinere Feiern. So lassen New Yorker auf dem Hudson River Laternen treiben. In der Bronx schreiben sie Erinnerungen an 9/11 auf eine Papyrusrolle. Dichter lesen Texte in Restaurants, Cellisten spielen Serenaden.

Der Event am Ground Zero aber ist eine geschlossene Veranstaltung. «Eine Frechheit», findet eine ältere New Yorkerin. «Wir sind damals alle angegriffen worden.» Nicht einmal ein berühmtes Fernsehgesicht öffnet die Barrikaden. «Können Sie keine Ausnahme machen, ich bin von der Presse?», fragt CNNModeratorin Susan Candiotti. Der Cop: «Ich mag zwar ihre Show, aber heute ist kein Tag für Ausnahmen.»

Alle paar Sekunden hält an der Ecke Wall Street und Broadway ein Taxi. Familien steigen aus, gekleidet im Sonntagsgewand. Sie tragen rote Rosen mit sich, laminierte Fotos der Verstorbenen, halten Hände. Viele kennen sich seit zehn Jahren, als der Terror Fremde unfreiwillig in einer Gruppe vereinte – den Angehörigen der Opfer. Alle erhalten ein Fähnchen. Eine Drogerie-Kette verschenkt an diesem Morgen 12 000 USFlaggen, «um unser Beileid zu bekunden».

Keine Fahne will Brian. Er will durch, wie jeden Tag um sieben, wenn er die Arbeit auf der Baustelle am Ground Zero aufnimmt und Stahlrohre schrubbt. «Stopp», schnauzt ihn ein Polizist an. «Ich muss zur Arbeit», sagt Brian. «Nicht ohne Einladung.» Brian lässt nicht locker. Der Chef hat ihm gesagt, er müsse heute kommen. Ist er spät, fürchtet er, verliert er den Job. Jobs hat es derzeit wenige.

Es ist acht Uhr. Zwei identische Militärhelikopter fliegen entlang der Südspitze Manhattans. Einer davon ist Marine One, die Maschine von Präsident Barack Obama. «In neun Minuten kommt der Präsident», warnt ein Polizist. «Bis er geht, frieren wir das Gebiet ein.» Keiner darf raus, niemand rein, bis elf. Das wird knapp mit dem Redaktionsschluss, ich gehe zum Hudson River.

Jogger rennen entlang des Flusses, Väter stossen Babys, als hätten sie mit den Gedenkfeiern ein paar hundert Meter entfernt nichts zu tun. Auf dem Wasser liegt die «USS New York», ein martialisches Kriegsschiff, gegossen aus Stahlresten der zerstörten Zwillingstürme.

Ein paar Schritte weiter südlich, vor dem Hotel Ritz, stehen Köche, Zimmermädchen und Kellner auf der Strasse. Um 8.46 Uhr senken sie die Köpfe, schweigen eine Minute, gedenken des Einschlags von Flug 11 in den nördlichen Turm. Ein Trompeter bläst ins Horn. Mit dem Taschentuch trocknet sich der Chef de Service die Augen.

Derweil lesen die Angehörigen am Ground Zero die Namen aller Gefallenen. Jeder Sender überträgt es live, sechs Stunden lang – was das Ausmass des Massenmordes fassbar machen soll. Frauen, Männer, Kinder sprechen über Väter, Gattinnen, Partner, Töchter, Söhne.

Kurz halten sich für einmal die Politiker. Bürgermeister Michael Bloomberg erinnert daran, wie 2001 «ein perfekter Morgen mit blauem Himmel» in eine «der schwärzesten Nächte» mündete. Präsident Obama grüsst erst Vorgänger George W. Bush mit einem Handschlag. Dann behilft er sich der Bibel, Psalm 46, nennt Gott eine «Quelle der Kraft», einen «Ort des Rückzugs».

Um 9.03 Uhr folgt die zweite Gedenkminute, in Gedenken an den Einschlag im Südturm. 24 Minuten später schweigen die Trauergäste für die Boeing 757, die ins Pentagon krachte. Eine Minute vor zehn legt sich erneut Stille über Ground Zero – vor zehn Jahren sackte der Südturm zusammen. Um 10.03 Uhr eine Pause für den entführten Flug 93, der in Pennsylvania ins Feld stürzte. Die letzte Gedenkminute erfolgt um 10.28 Uhr für den Nordturm.

Kurz danach erzählt ein junger Mann, er wünschte sich, sein Vater hätte erlebt, wie er Matura und Fahrprüfung bestanden hat. Zu Tränen rührt, wie ein Mädchen, vielleicht zwölf, sagt: «I miss you Daddy.» Papi, du fehlst mir.