“Jeden Tag wünsche ich mir, ich hätte etwas geahnt”

Die Terroristen von 9/11 lernten bei ihm das Fliegen: Rudi Dekkers, einst Millionär, heute mausarm. Ein Treffen in Florida.

Von Peter Hossli (Text) und James McEntee (Fotos)

rudi2Er spreizt die Hände – und offenbart ein intimes wie ekliges Geheimnis. Alle seine Fingernägel sind vollständig abgenagt. «Ich nage nachts, wenn ich nicht schlafen kann.»

Schlafen kann Rudi Dekkers (55) seit zehn Jahren nicht mehr. Seit ihn am 12. September 2001 ein FBI-Agent frühmorgens anrief. Er erfuhr: Den Terroristen, die am Tag zuvor in New York Jets ins World Trade Center flogen, hatte er das Fliegen beigebracht. «Bis dahin lebte ich den amerikanischen Traum», sagt Dekkers, der 1993 aus Holland in die USA kam. «Seither ist mein Leben die Hölle.»

Mohammed Atta, ein 33-jähriger Ägypter, pilotierte eine Boeing 767 in den nördlichen Zwillingsturm. Marwan al-Shehhi (23) aus den Arabischen Emiraten lenkte einen gleichartigen Jet in den Südturm. Sie hatten zivile Flugzeuge in tödliche Waffen umgewandelt – und die Welt umgekrempelt.

Ihre Tötungsart, das Fliegen, lernten sie bei Rudi Dekkers in dessen Flugschule Huffman Aviation in Venice, Florida.
Heute ist Dekkers in Venice nicht mehr willkommen. Deshalb trifft er die Reporter auf dem Page Field, einem kleinen Flughafen bei Fort Myers am Golf von Mexiko. Öfter seien Atta und al-Shehhi hier gelandet, erzählt er, hätten die Toiletten benutzt, Wasser getrunken, die Maschinen aufgetankt.

Dekkers ist ein Kerl, wie man sich einen Buschpiloten vorstellt. Er trägt T-Shirt und Jeans. Ist kräftig, selbstsicher, humorvoll und zielstrebig. Ein kantiges Gesicht steckt unter dem grauen, vollen Haarschopf. Er fliege, «weil es in der Luft keine Stoppschilder gibt».

Doch seit sieben Jahren hebt er nicht mehr ab, hat fürs Fliegen kein Geld. Dekkers ist klamm. «Weltberühmt und mausarm», sagt er, «mit sechs Dollar und 17 Cent auf dem Konto.»

Gras überwuchert sein Haus, das er einst für eine Million gekauft hatte und das vor der Zwangsversteigerung steht. Er klaut den Strom, um es bei der tropischen Hitze kühlen zu können. Ein be freundeter Tankwart schenkt ihm Benzin. Um den letzten Arztbesuch zu zahlen, verramschte er die Stereoanlage. Seine Frau und die zweijährige Tochter leben in Kuba, «weil sie dort mit monatlich 100 Dollar auskommen».

Einst gehörten ihm 100 Flugzeuge, er bewohnte eine Villa in Naples, fuhr Sportwagen. Auf zwölf Millionen Dollar beziffert er sein Vermögen vor 9/11. Nach der Attacke strichen ihm die Banken die Darlehen. «Ein Tsunami fegte über mich hinweg», sagt Dekkers. Flugschüler blieben fern, die Umsätze brachen ein.

Mit Verlust verkaufte er die anrüchige Flugschule. Da er kein Geschäft mehr besass, verlor er sein Visum als Investor. Noch immer wartet er auf eine Greencard. Seine Bonität sackte ab. Fortan lieh ihm niemand mehr Geld – in den USA fatal. «Wenn du Geld hast, bist du hier der König, sonst bist du niemand.»

Sein Abstieg begann mit einer Tasse Kaffee. Am 1. Juli 2000, morgens um 8 Uhr, traten Atta und al-Shehhi in sein Büro. Atta sprach, al-Shehhi schwieg, erzählt Dekkers. Wie meist, «als sei er Attas Hündchen». Dekkers führte sie durch die Flugschule und vermittelte ihnen ein Zimmer im Haus des Buchhalters.

Schon damals hätte er Atta als Zombie wahrgenommen. «Er wirkte wie einer, der lebend tot war.» Aus dem bleichen Gesicht starrten «eiskalte Augen, nie zeigte er Gefühle, war unwirsch, besonders zu Frauen». «Aber», fragt er, «ist ein Mensch mit kalten Augen automatisch ein Terrorist?» Nichts hätte er geahnt, gar nichts, versichert er – seit nunmehr zehn Jahren.

Spricht Dekkers über al-Shehhi, nennt er ihn freundschaftlich beim Vornamen. «Marwan hatte Humor und war nett.»

Der Holländer klaubt ein paar vergilbte Zettel hervor. Die Flugstunden-Rapporte tragen die krakelige Unterschrift Attas und zeigen, wo und wann er in der Luft war. Am 6. Juli 2000 startete er in Venice zweimal, am 7. und 8. Juli nur einmal, am 22. Juli erneut zweimal.

PHOTOS OF RUDI DEKKERS IN FORT MYERS, FLORIDAAnfänglich verletzten die beiden die Hausregeln der Schule, erzählt Dekkers. «Sie wollten immer nur nach rechts und links wenden, sonst interessierte sie nichts.» Nach sechs Wochen drohte er mit Rauswurf. Sie spurten, übten zusätzlich Steig- und Sinkflug, starteten und landeten Pipers und Cessnas – bis sie nach je 200 Flugstunden das Brevet erwarben.

«Mittelmässige Schüler» seien sie gewesen, sagt Dekkers. Sie bestanden die theoretischen Prüfungen bravourös. Atta aber bekundete Mühe, die Maschine anzuwerfen. Meistens pumpte er zu viel Kerosin, der Sprit schwappte über, der Motor soff ab.

Gelegentlich sei er deswegen ausgerastet. Einmal warf er einen vollen Teller zu Boden, da ihm das Essen in der Kantine nicht schmeckte. Der Buchhalter warf ihn aus dem Haus, weil er «unordentlich, ja dreckig war», so Dekkers, «und weil er dessen Frau öfter erniedrigte».

Er schaute darüber hinweg – Atta und al-Shehhi zahlten ja pünktlich, insgesamt 40000 Dollar. «Hey, ich bin ein Geschäftsmann, im Sommer 2000 hatten wir wenig zu tun, deren Geld konnte ich gebrauchen.»

Mit einem Eklat endete die Beziehung. Nach dem Erwerb des Flugscheins vermietete Dekkers ihnen an Weihnachten eine Piper. Atta flog sie nach Miami, mit al-Shehhi im Cockpit. Vor dem Rückflug pumpte er erneut zu viel Kerosin, die Maschine soff ab. «Das Flugzeug ist kaputt», fauchte Atta am Telefon, «du zahlst das Taxi nach Venice.»

Als sie in der 340 Kilometer entfernten Flugschule ankamen, tickte der sonst sanftmütige Dekkers aus. «Verdammt, verschwindet von meinem Flugplatz.» Atta beglich die letzte Rechnung und ging. «Bis am 12. September 2001 hörte ich nie wieder von ihm.»

Kistenweise trug das FBI an jenem Tag Dokumente aus Dekkers’ Büro. Telefonlisten gab er ihnen, Kopien der Reisepässe, eben¬so ein Verzeichnis von Websites, die Atta und al-Shehhi besucht hatten.

Das FBI bat ihn, nicht mit der Presse zu reden. Der Holländer aber erzählte seine Version. «Das hat mir das Leben gerettet, ohne die Presse hätte mich die amerikanische Regierung wohl aufgeknüpft.» Zumal er deren Verfeh¬lungen öffentlich anprangerte. «Das FBI hätte den Angriff verhindern können», glaubt er.

Ein halbes Jahr nach 9/11 demütigte er die US-Bürokratie. Dekkers erhielt einen Brief der Einwanderungsbehörde INS. Darin lagen die Studentenvisa, die er ordnungsgemäss für Atta und al-Shehhi beantragt hatte. Sofort ging er damit an die Öffentlichkeit. Nun zeigt er uns Kopien der Visa. Besonders beklemmend ist das Ausstellungsdatum der Papiere: 1. Oktober 2001, also 19 Tage nach den Attacken auf New York.

buchSeit Mitte August sind Dekkers’ Memoiren im Handel, verfasst von einer Ghostwriterin. Zwei Dollar kriegt er pro verkauftes Exemplar. Über 20000 Stück seien weg, sagt er. Zudem zeigten Filmproduzenten Interesse an der Geschichte.

Dann profitiert er vom Leid anderer? Atta und al-Shehhi ermordeten 2753 Menschen. «Zwar atme ich noch, aber 9/11 zerstörte mich», sagt Dekkers. «Auch ich bin ein Opfer.»

Seine erste Ehe brach auseinander, ständiger Stress führte zu Diabetes. Er erhielt Morddrohungen. Beim Helikopter, mit dem er 2003 abstürzte, seien Kabel durchtrennt gewesen. Online zirkulieren abscheuliche Vorwürfe. Er hätte mit der CIA zusammengespannt, mit Heroin gehandelt, in Stripclubs mit Atta Kokain geschnupft. «Blödsinn, den ich nicht beachte», winkt er ab. Doch ist er abends allein, belaste es ihn, «dann bin ich nervös, angespannt, ruhelos». Und nagt an den Fingernägeln. «Für mich ist jeder Tag 9/11.»

Niemand gibt ihm eine Stelle, viele glauben, er sei ein Terrorist. «Jeden Cent, den mein Buch über die verlorenen zwölf Millionen hinaus einspielt, verschenke ich.»

Er will Amerika verlassen. Zu sehr präge die Angst den Alltag. «Alles nur, weil ich diesen Arsch¬löchern das Fliegen beigebracht hatte.» Dann ist er doch mitschuldig? «Jeden Tag wünsche ich mir, ich hätte etwas geahnt.»

Den Gedenkfeiern in New York bleibt er fern. Dennoch sieht er sich als Teil der 9/11-Geschichte. «Ich habe Terroristen ausgebildet, das habe ich gut gemacht, sie konnten fliegen.» Dafür schämt er sich nicht. «Ich bin ein Unternehmer, mein Produkt ist gut. Jeder, der zu mir kam, mich bezahlte, erhielt eine gute Ausbildung.»