Generation Click

Ein Smartphone weckt sie. ­Facebook begleitet sie durch den Tag. Über iPods rieselt ständig Musik. Die erste Liebe erwacht per Chat. Sind Schweizer ­Jugendliche wach, sind sie online.

Von Peter Hossli (Text) und Nicolas Righetti (Fotos)

frontEmre ist 16. In Olten besucht er die Bezirksschule. Dort, wo die Schnellzüge aus Bern, Zürich, Basel sich und somit die Schweiz kreuzen. Morgens weckt ihn ein Smartphone. Auf dem Weg zum Bahnhof berieselt Musik seine Ohren. Kaum ist Emre im Zug, loggt er sich per Telefon bei Facebook ein. Dazu hört er satten Sound. Im Unterricht verschickt er SMS. Über Mittag stöpselt er die Kopfhörer wieder ein. Um vier Uhr nachmittags kommt er nach Hause und startet den Rechner. Emre surft, mailt, spielt und schaut Filme. Über den Chatkanal MSN trifft er jeweils 400 Bekannte. Bis er schläft, surrt sein Computer.

Ist Emre wach, ist er online, oft auf mehreren Kanälen gleichzeitig. «Ein Drittel schlafen, ein Drittel Schule und ein Drittel Medien», beschreibt der Schüler seinen Tagesablauf.

Ein Sonderling ist der kräftige Kerl nicht. Alle in seiner Klasse, ob Mädchen oder Junge, haben daheim einen Computer und besitzen ein Mobiltelefon. Sie hören Hip-Hop nicht ab CD, sondern über MP3-Player. Das Handy, welches SMS und E-Mails verschickt und die Auffahrt ins Internet schafft, liegt nachts bei den meisten unter dem Kopfkissen. Es ist das letzte Ding, das sie vor dem Einschlafen sehen, und das erste, das sie morgens anfassen.

Schweizer Jugendliche stehen amerikanischen Altersgenossen in nichts nach. Täglich 7,5 Stunden surfen, mailen, smsen, ipoden, gamen und fernsehen US-Kids zwischen acht und achtzehn Jahren. Das belegt eine soeben veröffentlichte Studie der Kaiser Foundation, einem Think-Tank, der sich mit gesundheitlichen Themen befasst. Weil die Jugendlichen vieles gleichzeitig tun, packen sie durchschnittlich zehn Stunden und 45 Minuten mediale Inhalte – in jeden Tag.

Wobei es ständig mehr werden. Um 2,25 Stunden stieg der Konsum innert fünf Jahren an, ermittelten die Forscher. Amerikanische Kids sassen 24 Minuten länger an Videogames, 27 Minuten länger am Computer und 38 Minuten länger vor TV-Sendungen. Zudem hörten sie 47 Minuten mehr Musik und Podcasts als noch im Jahr 2005.

Der Grund für die markante Zunahme: «Die Explosion mobiler Geräte und Online-Medien beflügelt den Medienkonsum», schreiben die Kaiser-Autoren. Schauten Jugendliche früher im Bus auch mal aus dem Fenster, sind sie mittlerweile ständig «plugged in».

Etwas nahm ab: der Konsum gedruckter Worte. Nur noch neun Minuten täglich lesen Jugendliche in Magazinen. Von sechs auf drei Minuten reduzierte sich die Aufmerksamkeit für Tageszeitungen. Immerhin stieg die Lesedauer bei Büchern, von 21 auf 25 Minuten.

fed_fetEine vergleichbare Schweizer Studie existiert nicht. Ein ähnliches Bild aber geben Schülerinnen und Schüler bei einem Besuch im Oltener Schulhaus Frohheim ab. Sekundarschülerin Federica, 14, erhielt ihr Mobiltelefon mit acht Jahren. «Ich könnte ohne Handy nicht mehr leben», sagt sie nun.

Marvin, 14, ist seit acht Jahren mit Handy unterwegs. Er schreibt 500 SMS pro Monat. «Ich bin nur noch übers Handy erreichbar.»

Klassenkamerad Fetim muss Gerät und Abo selber bezahlen. Bei Federica berappt der Vater das monatliche Abo. Übersteigen die Kosten 50 Franken, zahlt sie die Differenz. «Bei mir zahlen die Eltern alles», sagt Marvin.
Federica: «Ein Computerverbot wäre sehr schlimm.» Auf den Fernseher könnte sie ­hingegen verzichten. «Wenn man mir den Computer wegnähme, hätte ich ja nichts mehr zu tun.» Sie hört mit dem Rechner ­Musik, schaut darauf Filme, besucht soziale Netzwerke wie Facebook und Netlog, chattet über MSN.

Fetim hat 450 MSN-Freunde, kennt aber nur 200 davon persönlich, die anderen sind digitale Zufallsbekanntschaften. «Männer blockiere ich generell, Frauen lasse ich zu.»

Federica: «Auf MSN habe ich 350 Kontakte, ich kenne etwa die Hälfte, wer älter ist als 16, nehme ich nicht an», sagt die 14-Jährige. «Wer mich belästigt, fliegt raus.»

marvinMarvin hat 450 Kontakte, wobei jeweils 90 online sind, wenn er sich einloggt.

Alle lachen, als der Reporter sagt, er habe 66 Bekannte auf Skype – die er alle kennt.

Landschaftsgärtner will Loris, 14, werden. Marvin, der fünfmal die Woche trainiert und vom FC Aarau zum FC Basel wechseln möchte, hofft auf eine Karriere als Profifussballer. Federica peilt eine Lehrstelle als Grafikerin an. Fetim will das KV in einem Geschäft für Mobiltelefone absolvieren. «Ich kenne jedes Handy und ich habe das beste der ganzen Klasse.» Jetzt will er unbedingt ein iPad, den neuen Tablet-Computer von Apple.

Er ist «jeden Tag» auf Facebook. «Ich habe zwei Brüder, wir teilen uns den Computer, jeder darf eine Stunde am Stück ran. Wenn sie nicht da sind, bin ich länger auf Facebook.»
Was macht er online? «Meine Freunde schreiben Kommentare, ich schreibe zurück, dann stelle ich Bilder ins Netz.» Warum? «Es macht mir einfach Spass.» Mehr nicht.

Federica, die den Computer nicht teilen muss, verbringt jeden Nachmittag von vier bis acht auf Facebook. Fern schaut sie kaum noch.

loris_marvinWas in der Welt passiert, interessiert die Jugendlichen. «Sogar sehr», sagt Loris. Er besucht SF.tv, die Website des Schweizer Fernsehens, liest Artikel über Politik und Sport. «Zu Zeitungen habe ich keine Beziehung», sagt er. «Es gibt online ja alles gratis, was in der Zeitung steht.»

Federica: «Wenn ich ins Internet steige, lese ich die Schlagzeilen. Ab und zu greife ich mir eine Gratiszeitung.»

Fetim schaut die TV-Nachrichten vor allem am PC. «Zeitungen? Steht nur Altes drin.»

Ein elektronisches Arsenal tragen die Oltener Jugendlichen ins Skilager. Bei allen ist das Handy im Gepäck, bei vielen ein DVD-Player, der iPod, die Playstation, die mobile Chatmaschine Ogo. Tagsüber dürfen die Schüler die Geräte benutzen. Abends ziehen die Lehrer sie ein. Schlafen statt surfen sollen die Kids. Das vermeidet Unfälle auf den Pisten.

Jedoch nicht immer. Etliche Schüler haben im Klasssenlager zwei Handys dabei – eines zum Abgeben, das andere, um nachts immerfort zu chatten und zu plaudern.

Hoher Medienkonsum beeinträchtigt die schulische Leistung, sagen Kaiser-Forscher. Sie unterscheiden zwischen «starken», «mittleren» und «bescheidenen» Nutzern. Ein Fünftel der acht- bis 18-jährigen Amerikaner sei «regelrecht süchtig» nach Medien. Mehr als 16 Stunden Entertainment packen sie in jeden Tag. 63 Prozent zwischen drei und 16 Stunden. Und 17 Prozent sind weniger als drei Stunden täglich mit allerlei Medien in Kontakt.

gruppeWenig überrascht: Heavy User tragen die schlechtesten Noten nach Hause. Jene Schüler, die am wenigsten konsumieren, haben im Schnitt weit bessere Zeugnisse. Ebenso Kinder, bei denen Eltern die Dauer des Medienkonsums bewusst einschränken.

Dazu Schüler Fetim: «Ich mache weniger Hausaufgaben, lese weniger, weil ich öfters am PC hänge.»

Mit Folgen. Vermehrt «Stummelsätze» liest die Deutschlehrerin Cornelia Uebersax, 31, in Aufsätzen. Mundart statt Deutsch schreiben ihre Schüler. Statt einen Text ganz zu ­lesen, überfliegen sie ihn bloss. «Sie lesen höchstens noch die Hälfte und weichen komplexen Sachen bewusst aus», sagt Uebersax.

Eine «starke Sprachdurchmischung» stellt Sekundarlehrer Walter Fürst, 32, fest. «Schüler mischen beliebig englische und deutsche Ausdrücke.» Die Form ist kurz und einfach.

Todmüde und «voll geladen» erscheinen einige Kinder im Frohheim, sagt Schulleiter Hansueli Tschumi, 52. Sie chatten und gamen durch die Nacht. «Sind sie mit Informationen gefüllt, geht nichts mehr rein.»

Was Oltener Schüler online finden, eignen sie sich an. Längst lassen ihre Lehrer keine Aufsätze mehr zu Hause verfassen. Fast alle würden Texte bringen, die sie aus Websites kopieren und unter ihren Namen einfügen, sagt Peter Niklaus, 62, der das zehnte Schuljahr unterrichtet. «Es sind schönste literarische Texte, die sie kaum gelesen haben.»

Nur noch digital lesen viele, sagt Tschumi. «Da können sie den Inhalt sofort kopieren, in neue Texte einbauen und verschicken.»

Zehnseitige Vorträge in perfektem Deutsch erhielt Biologielehrer Walter Vonarburg, 34. Er gab jeweils die ersten drei Worte bei Google ein. Sofort fand er die Texte. «Viele Schüler glauben, was online ist, gehört ihnen auch», sagt Vonarburg, der zusätzlich Mathematik, Musik und Werken unterrichtet. Er verteilt jeweils die Note eins. «Sie sollen zumindest lernen, dass sie was tun, das sie nicht dürfen.»

Weit weniger konzentriert seien viele Schüler wegen des ständigen Mediengewitters, sagt Sekundarlehrer Fürst. «Die Ablenkung ist ständig, in der Freizeit switchen sie nonstop zwischen Fernseher und Internet, das Handy klingelt, sie bedienen eine Playstation, mit der sie gamen und SMS tippen.»

Als «Generation Click» beschreibt Schulleiter Tschumi seine Schüler. «Sie glauben, ein Klick kann jede Aufgabe erledigen.»

melanieDer Vorwurf, sie wüssten weniger als ihre Vorgänger, akzeptiert eine Gruppe von 16-jährigen Bezirksschülern aus Olten nicht. Melanie: «Schon vor hundert Jahren haben die Erwachsenen gesagt, die Jugend sei heute schlimmer als früher. Es stimmt nicht.»

Tarik: «Computer und Handy beeinträchtigen meine Leistung in der Schule nicht, ich habe gute Noten.»

Emre: «Ich lerne ohnehin nicht viel, ich merke mir alles in der Schule.»

Tarik: «Ich bin jeden Tag gleich lange am Computer. Habe ich eine Prüfung, schlafe ich einfach weniger.»

Computer wie Handy sind ihm «sehr wichtig», sagt Emre. «Ich kann mir ein Leben ohne elektronische Geräte nicht vorstellen.» Was bringen sie ihm? Er wisse stets, «was läuft», sagt er. «Ich bin irgendwie immer mit den Kollegen zusammen, auch wenn ich sie nicht treffe.» Das, sagt er, verbindet.

Für Tarik sind die Geräte «lebensnotwendig». «Schaue ich fern, habe ich das Gefühl, zum Computer gehen zu müssen, ich spüre grossen Drang, ständig im Internet zu surfen.» Sonst, sagt er, «fühle ich mich leer.»

tarikTariks Rauschmittel sind E-Mails, Chats auf MSN, Facebook und Twitter. «Wenn mich auch das langweilt, höre ich zusätzlich Musik und schaue Videos auf You­tube an.» Bis er schläft, chattet er.

Aus Langeweile loggt Emre bei Facebook ein. Dann schreibt er etwas und hofft auf Antworten. «Du musst schreiben, damit es anfängt.» Warum tut er es? «Dann werde ich unterhalten und die Langeweile verschwindet.»
Um «einfach dazuzugehören», würde im Internet vieles gelesen oder geschrieben, schreibt der Autor Nicholas Carr in seinem im Juni erscheinenden Buch «The Shallows». «Es geht dabei längst nicht mehr darum, etwas zu lernen oder sich zu unterhalten.»

Carr ist einer von vielen Denkern, die derzeit kritische Bücher über die hohe Nutzung digitaler Medien verfassen. Der Medienjournalist der «New York Times» argumentiert, das Internet verändere das menschliche Hirn. Wir verlieren die Fähigkeit, «kreativ und tiefgründig zu denken». Dafür seien wir vermehrt in der Lage, viele Dinge gleichzeitig zu erledigen. «Ein digitaler Wald der Mittelmässigkeit», brächten soziale Netzwerke wie Facebook hervor, schreibt Andrew Keen in seinem Buch «Die Stunde der Stümper».

Als eine «Art Pseudowelt» beschreibt Jaron Lanier das Internet in seinem Manifest «You’re Not a Gadget». Es fördere das Peter-Pan-Syndrom vom ewigen Kind. Die grenzen- und schamlose interaktive Kommunikation för­dere «Mobbing, Gier, Reizsucht, Egoismus». Zumal sich jeder anonym ausdrücken könne.

Eine «Cyber-Balkanisierung» beschreibt Autor Cass Sunstein in «Going to Extremes». Statt sich an einer gemeinsamen Debatte mittels Mainstream-Medien zu beteiligen, würden online alle eigene RSS-Ticker einrichten, nur noch Spezialinteressen folgen und sich in Gruppen von Gleichgesinnten zurückziehen.

Bücher liest Emre keine. Seine Start­seite zeigt ihm die Aktualität an. Morgens nehme er «ab und zu ‹20 Minuten›».

Auf welchem Kanal informiert sich Tarik? Er versteht die Frage nicht. Geht er zu Blick.ch, zu 20min.ch oder zu einer internationalen Seite wie Spiegel Online? Tarik zuckt mit den Schultern. Er hat kein Bewusstsein für Medienmarken. «Wenn etwas passiert, tippe ich bei Google ein paar Worte ein – sehe ich eine interessante Schlagzeile, klicke ich.» Emre, sein Kollege: «Wer es schreibt, ist doch egal.»

andrea_stehendAndrea: «Wir haben das ‹Solothurner Tagblatt›, aber es interessiert mich nicht.» Jugendliche wollen keine Redaktoren, die Themen nach Relevanz ordnen. Sie tun es selber.

Olten führte vor drei Jahren ein Handy- und iPod-Verbot an allen Schulen ein. Statt miteinander zu reden, verschickten die Schüler bloss noch SMS und hörten laute Musik. «Wie Mumien liefen die Jugendlichen über den Schulhof», sagt Tschumi. Fliessend ver­lief der Übergang zwischen Unterricht und digitaler Kommunikation. Telefone klingelten ständig. Bei Prüfungen liessen sich vife Schüler die Antworten auf knifflige Fragen per SMS liefern. Andere filmten Lehrer bei Wutausbrüchen. Kaum endete der Unterricht, stellten sie die Videos auf Youtube.

Emre «dachte sich nichts dabei», als er ein Loch in sein Etui bohrte, durch das er mittels Handy einen Lehrer filmte. Drei Wochen lang hing das Video unbemerkt im Internet. «Schockiert» sei er gewesen, als der Lehrer ihn aufforderte, das Video zu entfernen. Er musste einen Aufsatz schreiben, warum er das getan hatte. Die Schule schloss ihn aus dem Skilager aus. «Dann hatte ich noch Stress daheim.»
Warum tat er es überhaupt? «Weiss auch nicht, das finden Jugendliche halt lustig.»

Konflikte auf dem Schulhof starten in ­Olten oft online. Als «Schlampen» ­beschimpften sich zwei Mädchen auf der Chat-Plattform MSN. Eine druckte das ­Gespräch aus und hängte es an eine Wand. Just gerieten sich die Mädchen in die Haare. Es formierten sich Cliquen, die wiederum auf MSN weiterstritten.

Spielen die digitalen Medien eine Rolle bei der Liebe? «Eine zentrale», sagt Emre. «Es braucht mehr Mut, jemanden persönlich anzusprechen.» Der Computer löst, was beim Liebeserwachen meist mitspielt: die Hemmungen. «Wenn ich für eine Frau etwas empfinde, ist es einfach, mit ihr über MSN zu reden. Ist ein Computer dazwischen, muss ich ihr nicht in die Augen schauen.»

Tarik: «Finde ich eine Frau interessant, versuche ich mit ihr einen Kontakt herzustellen.» Er spricht sie nicht an, er trifft sie in einem Chatraum. «Das läuft einfacher.»
Andrea: «Lerne ich jemanden kennen, verliere ich ihn dank dem Internet nicht mehr.»

Melanie: «Zuerst tausche ich die E-Mail-Adresse aus, dann chatte ich ein bisschen, danach weiss ich recht gut, wer er ist.»

Ständig sind die Oltener Jugendlichen online. Im Leben stehen sie trotzdem. Alle haben eine Lehrstelle. Melanie wird das KV bei den SBB machen. Andrea bildet sich zur Pharma-Assistentin aus, Tarik zum kaufmännischen Angestellten. Emre wird Informatiker. Er macht die Leidenschaft zum Beruf.