Der Sumpf von Chicago

Der Gouverneur von Illinois wollte Barack Obamas Senatssitz verkaufen. Das überrascht niemanden in Chicago, wo Korruption alltäglich ist. Für Obama birgt es Gefahren.

Von Peter Hossli

blago_sketch.jpgBestürzt reagierte Amerika, als am Dienstag FBI-Agenten Rod Blagojevich verhafteten. Der Gouverneur von Illinois soll den Senatssitz von Barack Obama feilgeboten haben. Vom «absoluten Tiefpunkt» sprach ein Radio-Talker in New York. «Wie dumm kann einer sein?», schrieb die «Los Angeles Times» in einem Leitartikel. Er sei «erstaunt und schockiert», sagte Lawrence O’Donnell, Produzent der Politik-Soap «The West Wing».

Gelassen hingegen die Reaktion in Chicago, der grössten Stadt in Illinois. «Warum sind alle schockiert?», fragte ein lokaler Blogger. «Chicago funktioniert so.» Obama selbst sagte, er sei «angewidert», räumte aber ein, dass «Politik in Illinois für viele ein Geschäft ist». Es gebe Ausnahmen, sagte er lakonisch, «sogar nach Abraham Lincoln», dem tadellosen US-Präsidenten aus Illinois, der 1865 erschossen wurde.

Die Ausnahmen sind spärlich. «Wir leben im korruptesten Staat der USA», sagte der Kolumnist der «Chicago Tribune», Clarence Page, dem Radiosender NPR. Muss Blagojevich ins Gefängnis, wäre er der vierte Gouverneur seit 1973, der vom Amts- direkt ins Zuchthaus wechselt. Allenfalls kriegt er eine Zelle neben George Ryan, seinem Vorgänger. Ryan vergab unter der Hand Staatsaufträge und erhielt dafür Hunderttausende von Dollar sowie bezahlten Urlaub in Mexiko und in Florida.

Die Folge: 76 Personen mussten hinter Gitter. Pikantes Detail: Das Familienvermögen liess Ryan einst von UBS-Privatbanker Hanspeter Walder verwalten – bis Walder selbst eine Haftstrafe von acht Jahren fasste. Er hatte 75 Millionen Dollar von Kunden unterschlagen. Der Plot flog im September 2001 auf, als Walder 30 Millionen Dollar nicht zurückzahlen konnte, die er Ryans Konto entnommen hatte.

Den «sofortigen Rücktritt» Blagojevichs verlangt Dick Durbin, der andere Senator von Illinois. Vorletzte Woche, vor dem jüngsten Skandal, verfasste Durbin noch einen herzzerreissenden Brief an George W. Bush. Er bat ihn, den 74-jährigen Ryan zu begnadigen. «Chicago hat eine hohe Toleranz für Korruption», erklärt Kolumnist Clarence Page solche Kapriolen. «So lange der Schnee und der Müll weggekarrt werden, lassen die Leute anrüchige Kerle gewähren.»

Der famoseste Skandal der Stadt Chicago lief 1919 ab. Acht Baseballspieler der Chicago White Sox verschacherten die Meisterschaft einem New Yorker Gauner, der auf ein anderes Team gewettet hatte.

Während der Alkoholprohibition der Zwanzigerjahre korrumpierte Gangster Al Capone Politiker, um Chicago mit Whiskey zu versorgen – zur Freude der Menschen in Chicago. Danach bauten die Demokraten ihre berüchtigte «Chicago Democratic Machine» auf und trimmten Gewerkschaften und Bezirksleiter auf Disziplin.

Mithilfe dieser allmächtigen Organisation hob Chicagos Bürgermeister Richard Daley 1960 John F. Kennedy ins Weisse Haus. Daley und die lokale Mafia warfen Tausende gefälschte Stimmen für Kennedy in die Urnen. Heute noch kursieren Gerüchte, Kennedy sei 1963 in Dallas ermordet worden, weil versprochene Zahlungen nicht üppig genug nach Chicago flossen.

Mitten in diesem rauen Klima stieg Barack Obama auf. Sein erster Förderer war Immobilienhändler Tony Rezko. Der wurde diesen Sommer der Korruption überführt. Während der Vorwahlen beschuldigte Hillary Clinton Widersacher Obama, «mit einem Slumlord unter einer Decke» zu stecken. Obama redete die Verbindung klein. Das dürfte jetzt schwieriger sein. Rezkos Deals mit Blagojevich löste die Untersuchung aus, die zur Verhaftung des Gouverneurs führte.

Vor einem Monat sagte ein Berater Obamas, der künftige Präsident hätte mit Blagojevich über die Nachfolge im Senat geredet. Das bestritt Obama erst. Dann veranlasste er eine «Faktenprüfung». Nun soll Obamas Stabschef Rahm Emanuel – ein besonders ruppiger Genosse der politischen Maschinerie Chicagos – mit Blagojevich über den Senatssitz geredet haben.

Weil der Skandal Obamas Amtsantritt trübt, zieht der Hoffnungsträger wohl früher als geplant nach Washington – er will Chicagos Sumpf enteilen. Derweil lechzen die Republikaner nach Skandalen mit Stehvermögen – wie etwa die Whitewater-Affäre in den Neunzigern. Der dubiose Grundstückhandel begann vor Bill Clintons Einzug ins Weisse Haus und mündete im Lewinsky-Skandal.

Der republikanische Spinmeister Dick Morris prophezeit, Barack Obama werde als Präsident den gegenwärtig zuständigen Staatsanwalt feuern, «damit er den Morast nicht trockenlegt, in dem Obama steckt».