Kampf gegen die E-Mail-Plage

Täglich flitzen 210 Milliarden elektronische Nachrichten durchs Internet. US-Firmen reagieren mit E-Mail-freien Tagen und ausgeklügelten Programmen gegen die Nachrichtenflut.

Von Peter Hossli

e-mail_addiction.jpgSie tippt ein paar Wörter. «Bling.» Ein E-Mail trifft ein. Sie liest den Witz vom Tischnachbar. Sie schreibt weiter. «Bling.» Drei Mails kommen an. Eine Einladung. Eine politische Karikatur. Ein Massenmail vom Abteilungsleiter, der auf den defekten Kühlschrank hinweist. Sie schreibt weiter. «Bling.» Fünf E-Mails. Sie ignoriert alle, schreibt weiter, bis es erneut «Bling» macht. Geschafft kriegt die amerikanische Sachbearbeiterin heute wenig. Zu nervös ist ihr Alltag. Wegen E-Mail.

Täglich 50-mal guckt ein US-Büroangestellter im Schnitt in seine Inbox, errechnete die Softwarefirma Rescue Time. Hinzu kommen 40 Besuche auf Websites und 77 Nachrichten per Instant-Messaging. Ein Gros der Arbeitszeit › rund 28 Prozent › verbringen Amerikaner mit Abrufen und Senden unwichtiger E-Mails, so die New Yorker Researchfirma Basex. Durchschnittlich alle 3 Minuten lässt sich ein Bürolist elektronisch ablenken, hat Professorin Gloria Mark von der University of California ermittelt. Oft dauert es eine halbe Stunde, bis er sich wieder seiner Aufgabe zuwendet.

Zuerst denken und dann schreiben

Längst nicht mehr lustig ist per Mail verschickter Klamauk, alt geworden der elektronische Firmenklatsch. Lästig sind Nachrichten, die iPhone-Besitzer aufsetzen, da sie die Zeit totschlagen müssen. «E-Mail versetzt dich in den ständigen Glauben, voranzukommen, selbst wenn gar nichts passiert», sagt der Altrocker und Weltverbesserer Bob Geldof treffend.

Wobei krankhaftes E-Mail-Abrufen längst nicht das einzige Übel ist. Übervolle Inboxen lähmen genauso. Oft bleiben Tausende von E-Mails unbeantwortet, kein Wunder bei täglich 210 Mrd. elektronischen Nachrichten, die durch das Internet sausen, wie die Radicati Group schätzt. Bis im Jahr 2012 sollen es täglich 419 Mrd. sein. Manch einer erklärt darob «E-Mail-Bankrott» › statt den elektronischen Schwall zu bearbeiten, löscht er den ganzen Inhalt seiner Inbox. Wie nach einer finanziellen Pleite fängt er wieder bei null an.

Schuld an den vielen E-Mails seien oft die Empfänger selbst, sagt Will Schwalbe, Ko-Autor des Buches «Send: The Essential Guide to E-Mail for Of- fice and Home». Wer oft unnötige oder unklare E-Mails schreibt, kriegt mehr E-Mails. «Wer denkt, bevor er E-Mails schickt, kann die Zahl der Nachrichten um einen Viertel reduzieren.»

Das Outlook soll optimiert werden

Genau das streben zahlreiche US-Firmen an. Sie halten ihr Personal an, nur einmal pro Stunde in die Inbox zu gucken, keine Gruppenmails mehr zu verschicken und stattdessen menschliche Kontakte zu pflegen. Anfang Juni haben 25 High-Tech-Firmen › darunter Xerox, Google, IBM und Microsoft › dem E-Mail-Strom gemeinsam den Kampf angesagt. Sie lancierten eine Denkfabrik, deren Aufgabe darin besteht, die E-Verschmutzung zu analysieren, darüber zu berichten und Lösungen gegen die Zerstreuung zu finden. Morgen Dienstag halten sie in New York eine erste Konferenz ab. Paradox: Mit der Information Overload Research Group versuchen ausgerechnet jene Firmen ein Monster auszumerzen, die es selbst kreiert haben.

Mit komplexen mathematischen Formeln will Microsoft das E-Mail-Programm Outlook optimieren. Künftig soll es intuitiv wichtige von unwichtigen Nachrichten unterscheiden. Startup-Firmen wie Xobni bieten bereits Plug-ins an, die das bewerkstelligen. Ein Prototyp, den IBM testet, erkennt anhand von Computermaus und Tippfrequenz, ob jemand beschäftig ist und unerreicht bleiben will. Später soll es mittels Raumton entscheiden, ob jemand empfänglich ist für elektronische Störungen. Google offeriert seit neustem beim E-Mail-Programm Gmail die Funktion «Email-Addict». Wer sie aktiviert, erhält 15 Minuten keine Mails und ist in Chat-Räumen von Google unsichtbar.

Freitag ist E-Mail-frei

Intel, dessen Chips die meisten Computer steuern, hat acht Monate das E-Mail-Verhalten des Personals analysiert. Der Befund: Wer E-Mails nur einmal täglich liest, arbeitet produktiver und kreativer. Fortan lasen 300 Intel-Angestellte in Texas und Arizona jeweils am Dienstagmorgen keine E-Mails. Nun prüft die Konzernspitze, den Testlauf auszudehnen.

Noch weiter geht der Mobiltelefon-anbieter US Cellular. Dessen 8100 Mitarbeiter verzichten seit vier Jahren jeden Freitag auf E-Mail. Das, sagt ein US-Cellular-Sprecher, «hat unsere Firmenkultur umgekrempelt». Statt einander zu schreiben, «reden und arbeiten die Angestellten miteinander».

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