Ändern sich die Lebensumstände, ändern sich die Werte

Dass Geld allein nicht glücklich macht, kann Professor Ronald Inglehart wissenschaftlich belegen. Seit dreissig Jahren untersucht der amerikanische Politologe weltweit Wertesysteme. Dabei stellt er einen klaren Trend zur Selbstverwirklichung fest.

Von Peter Hossli (Text) und Johannes Kroemer (Foto)

inglehart.jpgSeinen Kindern gab Ronald Inglehart einen wichtigen Wert auf den Lebensweg mit: «Tragt anderen Sorge.» Klar, sie sollten dereinst hart arbeiten und täglich die Zähne putzen. «Aber nur wer sich um andere Menschen sorgt, wird wirklich glücklich.»

Er muss es wissen. Niemand kennt Werte und deren Bedeutung besser als Ronald Inglehart. Geradezu besessen befragt der amerikanische Politologe Menschen, was sie denn wollen. «Werte sind das, was uns motiviert, was wir gerne hätten», sagt Inglehart, ein kauzig aussehender Kerl, auf dessen Gesicht ein freundliches Lächeln liegt. Professoral sitzt er vor einer übervollen Bücherwand in seinem engen und sonnendurchfluteten Büro an der University of Michigan in Ann Arbor, eine Stunde von Detroit entfernt. Von hier aus leitet er die World Values Survey, ein Netzwerk von 180 Sozialwissenschaftlern, die in 95 Ländern Umfragen durchführen. Sie messen die Werte von rund 80 Prozent der Weltbevölkerung. «Wissen, wie andere die Welt erfahren», wolle er, sagt Inglehart. «Als Kind hoffte ich, in fremde Körper zu schlüpfen, um zu sehen, was sie sehen.»

Mittlerweile haben Fragebogen die kindliche Fantasie ersetzt. Alle fünf Jahre verschickt er sie weltweit, seit über dreissig Jahren. Der globale, oft wiederholte Vergleich verdeutlicht Trends und Wandel. Ersichtlich werden universelle Werte, etwa die Vorliebe für Kunst oder Religiosität. «Alle sehen gerne Schönes und hören Musik», so Inglehart. «Alle wollen verstehen, woher sie kommen, wohin sie gehen.»

Doch das Universelle ist die Ausnahme. Vergleicht Inglehart Länder und Kontinente, stellt er «eine gigantische Bandbreite an Werten» fest. Liege beispielsweise das Verhältnis zwischen dem reichsten amerikanischen Bundesstaat Connecticut und dem ärmsten Mississippi bei 1 zu 2, so misst er den Unterschied zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern in einem Verhältnis von 1 zu 100. «Wer Hunger hat, entwickelt eine gänzlich andere Strategie und somit Werte als einer, der satt ist.» Wen Rebellen physisch bedrohen, sieht Schutz für sich und seine Familie als bedeutsamsten Wert. Wer die Heizung andreht, wenn es kalt ist, die Lampe anzündet, wenn die Nacht einbricht, kann sich anderem widmen als dem nackten Überleben.

Ändern sich Lebensumstände, ändern sich Werte – diese These bildet den Kern von Ingleharts Forschung. Ihn interessiert, wer wo welche Prioritäten setzt und unter welchen Umständen sich die Abfolge von Wünschen ändert.

Zwei Faktoren führen Wechsel herbeiführen. Zum einen nennt er die ökonomische und physische Sicherheit. Wer genug zu essen hat und nicht bedroht ist, kann weit unabhängiger handeln und sich vermehrt selbst verwirklichen. Werte wie Toleranz, Demokratie oder der Umweltschutz lösen Überlebenswerte ab. Zum zweiten bestimmt die Art der Arbeit die Art der Werte. Bestellen die Menschen das Feld, sind sie der Natur ausgeliefert. Je nach Wetter fällt die Ernte gut oder schlecht aus. Da bleibt nur die Anruf einer höheren Macht. Deshalb sind religiöse Werte in einer Agrargesellschaft zentral. Löst das Fliessband den Pflug ab, tritt zentrale Planung anstelle Gottes. Die Industrialisierung verdrängt die Religion, Werte werden säkularer. Gravierender sind die Einschnitte in einer Wissensgesellschaft, wie Inglehart die Länder Westeuropas, Nordamerikas oder Japan beschreibt. Alles wechselt sich nun rasant. Menschen müssen ständig adaptieren, was nach Innovation und Kreativität verlangt. Die Selbstverwirklichung wird zur Pflicht.

Um die «komplexen und vielfältigen» Wertesysteme aufzuschlüsseln, hat Inglehart ein einfaches Modell mit zwei Achsen entwickelt. Auf der einen misst er den Wechsel von traditionell-religiösen zu säkularen Werten, auf der zweiten den Wandel von Überlebenswerten zur Selbstverwirklichung. Wohlhabende Länder verzeichnen auf beiden Achsen ausnahmslos hohe Werte. Dort denken Menschen meist säkular und wollen sich selbst verwirklichen (siehe Grafik).

Mehrere Millionen Dollar kostet jede Umfrage-Welle. Lokale Meinungsforschungsinstitute bestimmen pro Land 1500 Personen, die ein repräsentatives Segment darstellen. Sie beantworten zwischen 300 und 400 Fragen. Um die Ergebnisse besser einordnen zu können, bereist Inglehart möglichst viele Länder. Finanziert wird die langfristig angelegte Studie grösstenteils von einer Stiftung der Bank von Schweden. Das holländische Aussenministerium bezahlt derzeit eine Befragung in afrikanischen Ländern, die alle keine eigenen Meinungsforschungsinstitute haben. Erstmals befragt Inglehart im Januar 2007 Menschen in Burkina Faso, Mali, Äthiopien, Sambia und Ruanda.

Eine Premiere, die den 72-jährigen Forscher aus Milwaukee, Wisconsin, sichtlich freut. «Jedes neue Land bringt überraschende Wertesysteme hervor.» Was hat ihn in der dreissigjährigen Arbeit am meisten überrascht? «Dass Religion nicht ausgestorben ist, sondern weltweit wichtiger wird», sagt Inglehart. Noch zu Beginn der siebziger Jahre gingen sämtliche Sozialwissenschaftler von einer weltweiten Säkularisierung aus. «Wir haben uns geirrt», gesteht er. Unterschätzt wurde die Geburtenrate gläubiger Frauen. Sie liegt bei über fünf Kindern, wohingegen säkulare Frauen im Schnitt weniger als zwei gebären. Nicht nur prozentual nimmt der Anteil weltlicher Menschen ab, er sinkt real.

Zwar stärkt die Industrialisierung den säkularen Trend. Dieser wird in Wissensgesellschaften wieder leicht korrigiert. Allerdings formieren sich andere religiöse Ausprägungen, weg von traditionellen Kirchen, hin zur eigenständigen Sinnessuche. Wer sich selbst verwirklicht, entscheidet selbst über zutiefst persönliche Werte wie Sexualität, Abtreibung oder Scheidung, sagt Inglehart. «Er folgt nicht einem diktierenden Prediger, sondern wählt eine eigene Religion». Nicht Sicherheit, sondern Autonomie bringt nun der Glaube.

Der wichtigste Wertwandel selbst verwirklichter Menschen zeige sich in deren wachsender Toleranz. Das manifestiere sich nirgends so sehr wie bei der Akzeptanz von Homosexuellen. «Nein» sagten vor dreissig Jahren noch über die Hälfte der von Inglehart weltweit Befragten, ob Schwule und Lesben jemals akzeptiert werden sollen. Heute anerkennen etliche Länder gleichgeschlechtliche Ehen. Das unterstreiche auch, wie Wertewandel oft Gesetzesänderungen herbeiführen. «Wer sich sicher fühlt, öffnet sich, wer Angst hat, verschliesst sich», begründet Inglehart den Trend zu mehr Toleranz. Nicht überrascht war er, Irak in einer unlängst abgeschlossenen Studie als fremdenfeindlichstes Land zu erkennen. «Iraker fühlen sich derzeit extrem unsicher.»

Neben der verstärkten Akzeptanz von Ausländern, Schwulen und Lesben macht Inglehart insbesondere eine wachsende Gleichberechtigung der Geschlechter aus. «Männer gelten nicht mehr einfach als bessere Leader, ihnen wird bei der Vergabe von Jobs keine Priorität mehr eingeräumt.» Je mehr sich eine Gesellschaft von der Industrialisierung löse und auf Wissen setze, desto mehr wachse der Einfluss von Frauen. Bereits jetzt würden mehr Frauen amerikanische Universitäten besuchen als Männer. Umgekrempelt hat sich dadurch das Wertesystem von Frauen. Als der weibliche Lebensraum vornehmlich das Haus, der Herd und die Kirche war, bevorzugten Frauen bewahrende Werte. «Heute denken und wählen Frauen progressiver als Männer», sagt Inglehart. «Sie profitieren von Veränderung.» Da sie ökonomisch unabhängiger seien, verwirklichen sie sich selbst.

Doch macht ökonomische Sicherheit auch glücklich? «Glück ist ein Zusammenspiel zwischen dem, was man will und dem, was man effektiv erhält, also zwischen Werten und Erlebnissen», sagt Inglehart, der über 200 Bücher und Artikel publiziert hat. Damit widerspricht er Biologen, die eine ausschliesslich genetische Veranlagung für das Glückgefühl sehen. «Der Lebensumstand bestimmt das Glück», sagt er. Zumal die Unterschiede des Glücksempfindens zwischen den Ländern weit grösser seien als innerhalb eines Landes. «Wer genetisch argumentiert, geht davon aus, dass die glücklichen Dänen genetisch komplett verschieden sind von den unglücklichen Russen.» Viel mehr sei Dänemark eine freie und tolerante Gesellschaft, in der Menschen einander Sorge tragen und vertrauen. «Es lebt sich dort angenehmer als in Russland.»

Zwar seien Menschen in reichen Ländern oft glücklicher als in armen, jedoch nicht immer. Reiche in reichen Ländern seien nur ein bisschen glücklicher als weniger reiche. «Wer das Einkommen verdoppelt, verdoppelt nicht das Glück», sagt Inglehart. «Bill Gates hat zehn Tausend Mal mehr Geld als ich, aber er ist höchstens zehn Prozent glücklicher.» Geld allein macht also nicht glücklich, belegt der Politologe damit eine alte Weisheit. «Es ist besser, es zu haben als es nicht zu haben», sagt Inglehart. «Führt es zu ständigem Glück? Nein.»

Zwar steigt bei armen Menschen das Glücksgefühl enorm, wenn sie ihre hungrigen Kinder ernähren können. Erreicht der Lebensstandard einmal das Niveau von Portugal, also dem ärmsten Land Europas, gibt es keinerlei Korrelation mehr zwischen Einkommen und Glück. Zunehmend bestimmen Freunde und Familie sowie das persönliche Leben, wie zufrieden jemand ist. Erst danach kommen Job und Einkommen. Insbesondere die Ausbildung und die Intelligenz formen in wohlhabenden Wissensgesellschaften die Werte. Eine «Falle» sei die weit verbreitete Ansicht, Geld mache glücklicher. «Klar, die erste Million fühlt sich hervorragend an, allerdings nur für eine Weile, wer mit zehn Millionen noch unglücklich ist, wird sein Glück auch mit 100 Millionen nicht finden.»

Es sei kein Zufall, dass sich Multimilliardäre wie Bill Gates oder die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin der Philanthropie zuwenden. «Sie sind reich, ihre Arbeit hat die Welt verändert, jetzt versuchen sie in neuen Feldern etwas zu bewirken, das sie glücklich macht.» Allerdings, warnt Inglehart, sei es selbst für Milliardäre unmöglich, jemals restlos glücklich zu sein. Was gut ist. «Die Evolution lässt das nicht zu – wir würden sonst stagnieren und bald aussterben.»

Da der Grenznutzen von neu erworbenem Glück nach einer Zeit abklingt, setzen sich Menschen stets höhere Ziele. Am ausgeprägtesten ist dieser Drang in den USA, dem reichsten, aber nicht glücklichsten Land. Das ständige «Streben nach Glückseligkeit» ist sogar im ersten Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert, jenem 1776 verabschiedeten Dokument, das die Vereinigten Staaten erst begründet hatte. «Es ist geradezu unamerikanisch, nicht ständig nach mehr Glück zu streben», sagt Inglehart.

Und doch finden sich die glücklichsten Menschen woanders, in Skandinavien und Lateinamerika. Dem «grauenhaften Klima» zum Trotz seien die nordischen Länder Europas ausgesprochen zufrieden. Inglehart begründet es mit ehrlichen Regierungen und funktionierenden Institutionen. Der Grad an Toleranz sei höher als irgendwo sonst, ebenso die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Zwar gibt es eine Beziehung zwischen Glück und Demokratie, so Inglehart. «Demokratie führt aber nicht automatisch zu Glück.» Der Umkehrschluss trifft zu. «Wer glücklich ist, wird offener für demokratische Werte.»

Ein Mysterium sei Lateinamerika. «Alle lateinamerikanischen und insbesondere die karibischen Länder sind glücklicher als es ihr Vermögen erahnen lässt», sagt Inglehart. Sicher, das Wetter ist ein Faktor. Wichtiger: «Die Menschen haben weit mehr Freunde und sie verbringen mehr Zeit mit ihnen.»

Am unteren Ende der Glücks-Skala stehen die ehemals kommunistischen Länder, insbesondere Russland. Der Kollaps der Sowjetunion verschärfte den negativen Trend zusätzlich. «Mit dem Ende des Kommunismus zerfiel das gesamte russische Wertesystem, was die Menschen stark verunsicherte und unglücklich stimmte», sagt Inglehart. Ohnehin würden rasche und radikale Umwälzungen Werte prägen. So führten die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 und der darauf folgende Krieg gegen die Terroristen zu einer weltweiten Verunsicherung.

Zugleich rückte nach 9/11 die islamische Isolation ins Bewusstsein. Nimmt in fast allen Ländern der Drang zur Selbstverwirklichung zu, stagniert der Islam. Weder steigt die Toleranz gegenüber Frauen oder Homosexuellen, noch breitet sich Demokratie aus. Das, obwohl viele islamische Länder sehr reich sind. Mit dem «Fluch der Bodenschätze» erklärt Inglehart den islamischen Stillstand. «Wer 50 Prozent der Ölreserven besitzt, muss sich nicht modernisieren.» Die Gesellschaft kann mittelalterlich bleiben, es bildet sich keine starke Mittelklasse, die ein Land urbanisiert und in eine Wissensgesellschaft führt.

Die Daten, die Inglehart in seinem engen Büro in Ann Arbor auswertet, sind für Organisationen wie die Weltbank oder die Vereinten Nationen gute Anhaltspunkte, wie sich die Welt entwickeln könnte. Der Professor selbst gibt sich optimistisch. «Abgesehen vom negativen Trend des Terrorismus und der Antwort darauf, besteht Hoffnung.» Überall werden Menschen reicher, sicherer und glücklicher. Ein Grossteil der Welt ist industrialisiert. In zuvor extrem armen Ländern wie China oder Indien bilden sich Mittelklassen. Handelsschranken fallen, Kapital und Technologie bewegen sich, was überall neue Stellen schafft.

Doch werden die Menschen glücklicher? Gerade in entwickelten Ländern nimmt der Konsum von Antidepressiva rasant zu. Ein Tristesse-Indikator sei das nicht, sagt Inglehart. «Wir können uns Pillen leisten, deshalb schlucken wir sie.»�