Rosanne Cash – «Die Wahrheit sieht anders aus»

«Walk the Line» zeigt das Leben der Country-Legende Johnny Cash. Seine Tochter Rosanne erklärt, warum der Film sie schmerzt, weshalb sie Kokain nahm und warum ihr Vater sie «das Gehirn» nannte.

Von Peter Hossli

Ms. Cash, welche Automarke fahren Sie?
Rosanne Cash: Ich lebe in Manhattan, da brauch ich kein Auto.

Sie besitzen keines?
Cash: Okay, wir besitzen einen alten, klapprigen Van. Ob der noch anspringt, weiss ich nicht.

Haben Sie jemals einen Cadillac besessen?
Cash: Ich? Nein.

Ihr neustes Album heisst «Black Cadillac». Ein komischer Titel für einen Automuffel.
Cash: Der schwarze Cadillac war die Ikone meiner Kindheit. Mein Vater fuhr jedes Jahr einen zu Schrott, meine Mutter kaufte jeweils den neuen. Zudem ist es eine Metapher.

Für was?
Cash: Das ist doch offensichtlich. Für den Tod. Es ist das letzte Auto, in dem man fährt – im Sarg zum Friedhof.

Sie behandeln mit «Black Cadillac» den Tod Ihres Vaters Johnny Cash, Ihrer Mutter Vivian Liberto und ihrer Stiefmutter June Carter Cash, die kurz nach einander starben. Was haben Sie dabei gelernt?
Cash: Wenn jemand stirbt, den man wirklich liebt, geht die Beziehung trotzdem weiter. Liebe überlebt den Tod.

Das Album ist Johnny Cash, Vivian und June gewidmet. Ein Dreieck, das Ihnen reichlich Schmerz bereit hatte. Wegen June verliess Ihr Vater Ihre Mutter. Haben Sie diese Trennung nun verarbeitet?
Cash: Mit der Wahl Ihrer Worte trivialisieren Sie meine Arbeit. Es ging mir nicht um Therapie. Ich respektiere diese drei Menschen sehr, alle haben mir viel gegeben.

Was denn?
Cash: Alle haben mich bedingungslos geliebt, und alle haben mich stets ermutigt.

Ihr Album ist voller Wut. Im Song «Burn Down this Town» fantasieren Sie darüber …
Cash: … meine Kindheit zu verbrennen, richtig.

Auf wen sind Sie denn wütend?
Cash: Heute auf niemanden mehr. Als ich das schrieb, war ich wütend, meine Mutter verloren zu haben. Ich war wütend auf den Fundamentalismus und auf die katholische Kirche. Verlust ist eben nicht nur Trauer, es ist auch Wut und Verwirrung, Verleugnung, Schmerz.

Die Beziehung zu Johnny Cash war schmerzhaft.
Cash: Nicht zu Johnny Cash, zu meinem Vater.

Sie machen einen Unterschied?
Cash: Natürlich. Johnny Cash gehört allen. Verloren habe ich meinen Vater. Johnny Cash werden wir niemals verlieren. Johnny Cash, die Ikone, ist nicht dieselbe Person wie mein Vater.

Sie haben oft über die negativen Seiten Ihres Vaters geschrieben. Auf diesem Album behandeln Sie ihn sehr herzlich.
Cash: Das ist doch menschlich, oder? Niemand fühlt ständig dasselbe zu einer Person, die man wirklich liebt.

Ihr Vater verliess die Familie sehr früh, hatte Drogenprobleme. Gleichwohl schlugen Sie dieselbe Karriere ein. Warum?
Cash: Schreiben war stets meine Passion. Es hätte mir geschadet, wenn ich meine innersten Wünsche nicht erfüllt hätte, nur weil ich auf meinen Vater wütend war.

Gleichwohl haben Sie sich lange Zeit beruflich von Ihrem Vater distanziert.
Cash: Es war ein bewusster Entscheid. Ich musste zuerst herausfinden, wer ich bin. Deshalb bin ich so weit wie möglich von ihm weg gerannt. Später habe ich das sehr bedauert. Ich hätte musikalisch mehr mit ihm tun sollen.

Sie waren sehr früh sehr erfolgreich. Hat der Erfolg die Beziehung zu Ihrem Vater verändert?
Cash: Er hat mir Respekt gezollt, den ich sonst kaum erhalten hätte.

Hat er Sie als Kollegin akzeptiert?
Cash: Beinahe, ja. Einmal hat er mich angerufen und gefragt, wie hoch mein Autorenhonorar sei.

Wer kriegte mehr, Sie oder er?
Cash: Er hat mir seins nicht verraten. Ich habe ihm gesagt, was ich kriege. Er antwortete nur mit einem leisen «Hmm».

Was haben Sie von Ihm gelernt?
Cash: Die strenge Arbeitsethik. Mein Vater hatte denselben Zugang zur Arbeit wie ein Taglöhner. Er erschien rechtzeitig zur Arbeit, erledigte seinen Job, gab sein Bestes. Ich bin immer pünktlich und trete nie als Diva auf. Johnny Cash war keine Diva. Er war stets anständig und respektierte die anderen. Zudem hat er mir gelernt, dass die Kinder wichtiger sind als alles andere.

Er selbst hat seine Familie verlassen. Sie müssen wütend sein auf June Carter, die Frau, die Ihrer Eltern auseinander getrieben hat.
Cash: June war für mich eine sehr wichtige Person. Mit ihren Songs habe ich Gitarre gelernt. Dank June habe ich mich in die Countrymusic verliebt. Sie hat mich inspiriert, selber auf die Bühne zu gehen. Sie war eine natürliche Interpretin, verhielt sich auf der Bühne genauso wie im Leben.

Gleichwohl – June hatte die Ehe Ihrer Eltern zerstört.
Cash: Sie hat mir Dinge gegeben, die mir meine Mutter nicht geben konnte. Meine Mutter gab mir Dinge, die mir niemand sonst gab. Insofern kann ich mich glücklich fühlen, Verschiedenes von verschiedenen Leuten bekommen zu haben. Ich bin mittlerweile auch eine Stiefmutter und weiss, wie schwierig das ist.

«Walk the Line»…
Cash: Wir reden nicht über den Film.

… der Film handelt vor allem von der Beziehung Ihres Vaters zu June. Es gibt unzählige Artikel und viele Bücher, die das Paar zu ergründen versuchen. Wie sehen Sie die Beziehung?
Cash: Ganz ehrlich – die beiden waren seelenverwandt, wenn es so etwas überhaupt gibt. June und mein Vater sind vornehmlich auf die Welt gekommen, um zusammen zu sein.

Johnny Cash zeugte Sie mit einer anderen Frau.
Cash: Mein Vater und meine Mutter waren auf der Welt, um ihre vier Kinder zu bekommen. Doch der wirkliche Lebenspartner meines Vaters, das war klar June Carter.

Schmerzt Sie das?
Cash: Für ein Kind ist es schwierig zu realisieren, dass der Lebenspartner des Vaters eine andere Frau ist als die Mutter. Doch schauen Sie sich Johnny und June an! Die gehören einfach zusammen.

Können Sie sagen, warum?
Cash: Unmöglich. Es ist die Chemie, das Karma, wie immer Sie es nennen wollen.

Sie entstammen einer kreativen Familie…
Cash: … ich frage mich, warum das so viele Leute interessiert.

Vielleicht, weil viele nicht aus kreativen Familie kommen. Sind Sie Künstlerin geworden wegen Ihres Vaters oder Ihrer Stiefmutter?
Cash: Es gab in meinem Leben von Beginn weg viel Musik. Meine Mutter wollte aber nicht, dass ich Musikerin werde. Sie fürchtete sich um mich. Mein Vater und June hatten mich ermutigt, aber nie gedrängt. Ich war ohnehin sehr eigensinnig und hörte auf niemanden. Das bedauere ich. Ich hätte meine Eltern mehr um Rat fragen sollen.

Hatten Sie Angst, mit Ihrem Vater verglichen zu werden?
Cash: Nie. Für einen Sohn wäre das sicher schwieriger gewesen. Als Frau bin ich vom direkten Vergleich verschont geblieben. Ein Vergleich mit Johnny Cash ist ohnehin nicht fair. Es gibt niemanden wie Johnny Cash. Niemanden. Er ist ein wahrlich origineller und grossartiger Künstler. Pro Jahrhundert gibt es nur wenige wirklich grossartige Künstler. Er war einer davon. Ich hingegen bestelle mein Feld, erledige meine Arbeit, bin eine gute Songwriterin, eine Okay-Sängerin, das reicht. Ich denke gar nie daran, mich mit Johnny Cash zu vergleichen, oder mit Mozart.

Von allen Cash-Töchtern sind Sie die einzige, die Musik macht. Warum?
Cash: Ich bin der Overachiever. Genau wie meine 24-jährige Tochter. Sie wird dereinst eine bessere Songwriterin sein als ich es bin.

Es muss einer Mutter grauen, wenn die Tochter ins Musikgeschäft will.
Cash: Ihr wird es gut gehen. Sie hat mir unlängst die einzig richtige Frage gestellt: Wie werde ich eine Musikerin, ohne eine Person des öffentlichen Lebens zu sein?

Das Musikgeschäft hat Ihren Vater pillenabhängig gemacht. Sie selbst waren Kokain süchtig. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Tochter?
Cash: Nein. Wir leben in einem anderen Zeitalter. Mein Vater wurde drogensüchtig, weil die Leute damals nicht wussten, was Sucht war. Sie nahmen Pillen, um wach zu bleiben und danach, um zu schlafen. Er ist diesem Zyklus verfallen, ohne zu wissen, war mit ihm passiert. Bei mir waren es die Achtziger. In der Musikindustrie hatte damals jeder gekokst. Seither habe ich keine Drogen mehr angerührt. Meine Kinder haben von meinen und den Erlebnissen ihres Grossvaters gelernt.

«Walk the Line» behandelt die Drogensucht Ihres Vaters.
Cash: Nicht schon wieder, bitte.

Ihr Vater und June Carter haben am Drehbuch von «Walk the Line» mitgearbeitet. Der Film war beiden wichtig. Warum weigern Sie sich, darüber zu reden?
Cash: Es gibt vier Leute auf diesem Planeten, für die dieser Film nicht gemacht worden ist – für mich und meine drei Schwestern. Wer will schon die Hollywood-Version der Trennung seiner Eltern sehen, oder der Drogensucht seines Vaters? Der Film mag okay sein für alle anderen, mag ein gutes Stück Unterhaltung sein.

Sagt der Film die Wahrheit?
Cash: Die Fakten mögen Stimme, die Wahrheit sieht anders aus. Schauen Sie, für uns ist dieser Film schmerzhaft. Haben mein Vater und June ihn abgesegnet? Ja. Hat mein Bruder den Film abgesegnet? Ja, aber was der Film zeigt, ist passiert, bevor er zur Welt kam.

Hat Sie der Film berührt?
Cash: Mit mir hat dieser Film überhaupt nichts zu tun. Es ist ein Stück Hollywood-Unterhaltung, das mich nichts angeht.

Immerhin bringen Sie das Album «Black Cadillac» fast gleichzeitig mit «Walk the Line» heraus.
Cash: Das ist eine Unterstellung. Das Album kommt jetzt raus, weil die Songs fertig sind. Zudem haben wir den Start bewusst um ein paar Monate verschoben.

Sie und ihre Familie leben in Manhattan. Was tut eine Country-Musikerin in New York?
Cash: Das weiss ich nicht, ich bin keine Country-Musikerin.

Ihre Karriere begann bei Country-Musik-Labels in Nashville. Sie haben in Nashville gelebt.
Cash: Ich lebe schon doppelt so lange in New York wie ich in Nashville gelebt habe. Als ich 1990 «Interiors» fertig gestellt hatte, wusste in Nashville keiner, was er damit anfangen sollte. Dabei war es mein bis dahin bestes und ehrlichstes Album. Die haben es schlicht nicht begriffen. Ich sagte, fuck it, und bin gegangen.

Warum nach New York?
Cash: Es ist das Zentrum von allem. Alles, was man braucht, gibt es hier. Es ist sehr kreativ. Zudem ist es sehr einfach, hier Kinder grosszuziehen.

Ihr Vater nannte Sie in seiner Autobiografie «The Brain», das Gehirn. Warum?
Cash: Er und ich haben sehr oft intellektuelle Diskussionen geführt über Politik, den Zustand der Welt.

Er sprach sich gegen den Vietnamkrieg auch. Sie gehören zu den wenigen US-Musikern, die öffentlich gegen den Irakkrieg antraten. Warum?
Cash: Etwas habe ich von meinem Vater gelernt: Soziale Verantwortung ist so wichtig wie persönliche Verantwortung. Wer nicht den Mut hat zu sagen, was er glaubt, ist ziemlich wertlos.

Warum soll man ausgerechnet auf einen Musiker hören?
Cash: Niemand muss auf mich hören. Künstler haben aber genauso das Recht, ihre Meinung zu sagen wie alle anderen. Zudem zahle ich einen hohen Preis und kriege jede Menge Hassbriefe.

Warum haben die meisten US-Musiker geschwiegen oder schweigen noch immer?
Cash: Sie haben Angst. Der Preis ist sehr hoch, die Rache kann wehtun. Ich kümmere mich einen Dreck darum. Ich bin 50 Jahre alt, da kann ich sagen, was ich will.

Wohin ist die Wut der sechziger Jahre gegangen?
Cash: Der Narzissmus hat sie geschluckt. Es geht nur noch um das Ich. Die Ich-Dekade ist mittlerweile zur Ich-Generation geworden. Die Pop-Musik hat ihren Einfluss verloren, weil Leute, die etwas zu sagen haben, sich in den Untergrund zurückgezogen haben.

Rosanne Cash, 50, ist die älteste der vier Töchter von Country-Legende Johnny Cash. Sie heiratete den Singer-Songwriter Rodney Crowell, der ihre ersten Alben produzierte. 1981 schaffte sie mit «Seven Year Ache» den Durchbruch. Sie galt in den achtziger Jahren als eine der erfolgreichsten Country-Sängerinnen. Seit dem Album «Interiors» (1990) pendelt sie zwischen den Genres. 2003 nahm die Grammy-Gewinnerin zusammen mit Johnny Cash das Duett «September When it Comes» auf, «ein Song, der mich dafür rehabilitiert hat, dass ich viel zu wenig musikalisch mit meinem Vater gemacht hat», sagt sie. Es sei ein Song über die Sterblichkeit und somit ein Vorbote zu «Black Cadillac», ihr neustes Album, das am 24. Januar erschienen ist. Produziert hatte es Rosanne Cashs zweiter Ehemann John Leventhal. Cash ist Mutter von fünf Kindern.