Mit reinem Kalkül in die Pleite

Ein Bankrott war in den USA stets mit weniger Makel belegt als in Europa. Neuerdings überlassen Pleitefirmen in Chapter-11-Verfahren ihre Schulden dem Staat. Die Politik verharmlost die wahren Folgen der Machenschaften.

Von Peter Hossli

Der schlaksige Mann mit Stoppelbart stand vor einer kniffligen Wahl. Entweder würde er die Fluggesellschaft mit ihren 121 500 aktiven und pensionierten Angestellten zur Auflösung zwingen – oder aber er würde dazu beitragen, einen gefährlichen Trend zu verschärfen. Eugene Wedoff, Richter am Bankrottgericht von Chicago, entschied sich letzte Woche für die Gefahr. Er wies United Airlines an, 9,8 Milliarden Dollar an Rentenverpflichtungen dem staatlichen Rückversicherer Pension Benefit Guaranty Corporation (PBGC) abzutreten. Der Richter besiegelte damit den grössten Pensionskassenkollaps der Geschichte.

Als «reines Kalkül» bezeichnet Wirtschaftsprofessor Gary Chaison von der Clark University die Airline-Pleite. «Ganz bewusst» habe United «aus dem Bankrott einen wirtschaftlichen Vorteil gezogen», sagt er. Die aus dem Chapter-11-Verfahren schuldenfrei hervorgehende Airline ist damit wieder kreditwürdig. Ein Vorgehen, das Investoren mittlerweile von Firmenchefs erwarten würden. «Sie sehen Pleiten nicht mehr als Zeichen des Scheiterns, sondern als Neuanfang.»

Was United und etliche andere Firmen vorerst rettet, birgt reichlich Gefahren. Zum einen ist der 1974 gegründete Pensionsrückversicherer PBGC massiv unterfinanziert. Einem Guthaben von 39 Milliarden Dollar stehen derzeit Verpflichtungen von 62,3 Milliarden Dollar gegenüber. Ein Klacks gegenüber den echten Kosten von schätzungsweise 450 Milliarden Dollar. Kam die staatlich verwaltete PBGC bisher ohne Steuergelder aus, dürfte diese Bürde demnächst Amerikas Steuerzahlern zufallen. «Der Schaden könnte grösser ausfallen als der Savings-and-Loans-Skandal in den Achtzigerjahren», sagt Professor Lynn LoPucki, ein Spezialist für Firmenpleiten an der UCLA Law School. «Damals musste die US-Regierung 200 Milliarden Dollar an ungedeckten Krediten übernehmen.»

Jüngst habe nämlich nicht nur die Anzahl der Rentenübertragungen unter Chapter 11 zugenommen, sagt LoPucki. «Regelrecht explodiert» seien seit dem Jahr 2000 die Beträge. So trat US Airways 2,5 Milliarden Dollar an Verpflichtungen ab, Bethlehem Steel 4,3 Milliarden und National Steel 1,3 Milliarden, United fast 10 Milliarden. Zuvor seien ein-, zwei- und selten dreistellige Millionenbeträge üblich gewesen.

Ungedeckte Verpflichtungen von 31 Milliarden Dollar

Politischer Widerstand gegen den vermeintlichen Missbrauch des Chapter 11 regt sich kaum. Das republikanisch-wirtschaftsfreundliche Parlament setzt auf Vogel-Strauss-Taktik. Zwar sollen die Abgaben an die PBGC leicht erhöht werden. Ein Gesetzesvorschlag sieht aber vor, dass die Firmen ihre Verpflichtungen erst in 25 Jahren begleichen müssen – «in der Hoffnung, dass sie bis dann wundersam verschwinden», sagt LoPucki.

Am Chapter 11 selbst wolle niemand etwas ändern, sagt er. Obwohl es «immer mehr zur versteckten Subvention» werde. Erhalten europäische Fluggesellschaften staatliche Zuschüsse, flüchten sich die verschuldeten US-Firmen in den Bankrott und treten ihre Schulden dem Staat ab. Ein Szenario, das durch Richter Eugene Wedoffs Entscheid nochmals kräftig Auftrieb erhält. Bereits haben etliche Airlines angekündigt, sie wollten United folgen und durch Chapter 11 ihre Renten loswerden. «Mitsamt den Gewerkschaften», sagt der leitende Wissenschaftler des American Bankruptcy Institute, Jeffrey Morries. Historisch hätten Firmen Chapter 11 stets dazu genutzt, Gewerkschaften zu zerschlagen. «War es vor kurzem die Stahlindustrie, ist nun die Airline-Industrie dran.» Einen «Ansturm der Airlines auf Chapter 11» erwartet auch Transportminister Norman Mineta. Sitzt die US-Airlines-Industrie doch auf 31 Milliarden nicht gedeckter Rentenverpflichtungen.

Eine schwere Last. Ein Minus von 10 Milliarden Dollar flogen Amerikas Flieger letztes Jahr ein. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Zumal Richter Wedoffs Entscheid die dringend notwendige Konsolidierung der Branche hinauszögert. Darunter leiden nicht zuletzt die Airlines mit gutem Management und soliden Bilanzen. Chapter 11 hält Flugzeuge in der Luft und erzeugt künstlich Überkapazität. Das zwingt die Fluggesellschaften trotz hohen Personal- und Kerosinkosten zu niedrigen Ticket- und Frachtpreisen.

Die Flotten der Pleitiers schrumpfen indes nicht. Unter dem Chapter-11-Prozess ist es den Gläubigern untersagt, den Verkauf unrentabler Flugzeuge zu verlangen. Marktverzerrend wirkt überdies die immer längere Dauer von Chapter-11-Verfahren. Seit zweieinhalb Jahren versucht United, sich von den Schulden zu befreien. In dieser Zeit flog der Carrier frei von finanziellen Sorgen – und häufte noch mehr Schulden an, die jetzt gestrichen werden. Wenn die wieder gesunde Firma demnächst zinsgünstige Kredite aufnehmen kann, wird sie die Konkurrenz mit Tiefstpreisen angreifen. «Wollen die Airlines konkurrenzieren, bleibt ihnen nur noch das Konkursamt», sagt Airlines-Analyst Mark Streeter von JP Morgan. Als nächste seien Delta und Northwest dran.

Eine Ausweitung auf andere Industriezweige erwartet Professor Chaison vorerst nicht. «Ein Bankrott bringt ein Stigma, das in gewissen Branchen negativ wirkt.» Bei Airlines hingegen gehöre er «zum Alltag». Gerne würde sich die Autoindustrie der Verpflichtungen entledigen. Da Ford und General Motors nach wie vor reichlich Umsatz erzielen, akzeptiert aber kein Richter ein Chapter-11-Verfahren.

Was ist Chapter 11?
Das amerikanische Bankrottgesetz wurde in den Dreissigerjahren verabschiedet und 1978 revidiert. Das bekannteste Kapitel, Chapter 11, sieht vor, finanziell angeschlagene Firmen während einer gewissen Zeit vor Gläubigern zu schützen. Akzeptiert ein Richter den Antrag auf Chapter 11, darf die bankrotte Firma Schuldenzahlungen einstellen. Unter richterlicher Aufsicht und in Absprache mit Kreditoren und Aktionären bringt der Bankrotteur seine Finanzen in Ordnung. Dem System wird zuweilen die enorme Reformkraft der US-Wirtschaft zugeschrieben. Finanziell flotte Firmen wie Continental Airlines, der Spielzeughändler Toys-R-Us oder die Warenhauskette Macy’s überstanden den Chapter-11-Prozess gestärkt. Im August 2002 produzierte Worldcom die grösste Pleite der US-Geschichte. Deren Nachfolgefirma MCI verringerte dank Chapter 11 die Schulden von 41 auf 4 Milliarden Dollar – und soll nun von Verizon für 8,54 Milliarden Dollar übernommen werden.