«Sie hassen uns»

Nach harzigem Start erobern Gratiszeitungen Strassen und die Subway New Yorks. Die Renommierblätter stagnieren oder verlieren Auflage und Werbeseiten.

Von Peter Hossli

Sieben Uhr dreissig, Stosszeit in New York City. Alle zwei Minuten bringen Rolltreppen beim Subway-Stopp Bowling Green an der Südspitze Manhattans hunderte von Pendler vom Untergrund ans Tageslicht. Bevor sich die Menschenmasse in den Schluchten des Finanzbezirks verliert, geht sie im Blätterwald verloren. «‹amNew York›, gratis», pöbelt ein Pakistani in brüchigem Englisch die rollenden Passagieren an. Daneben steht ein Mexikaner. Lauthals preist er «Metro» an, «New Yorks kostenlose Zeitung».

Besonders anstrengen müssen sie sich nicht. Fast jeder greift zu und versorgt eine der Tabloid-Zeitungen unterm Arm. Schwerer hat es der Zeitungsverkäufer hinter den Trafikanten. Wenige bleiben stehen und kaufen ihm eine «New York Times» oder die «New York Post» ab.

Die Szene ist symptomatisch für eine Renaissance im wichtigsten Medienmarkt Amerikas: Zeitungskriege, hier einst Ende des 19. Jahrhunderts tobend, gehören erneut zu New Yorks Alltag. Gut ein Jahr nach deren Einführung stossen Gratiszeitungen in New York nämlich auf breite Akzeptanz. Pendler stöbern in der Subway in «amNew York» oder «Metro», kaum noch in der «New York Times».

Den anekdotischen Eindruck bestätigen Auflagezahlen. Trafikanten verteilen täglich 325’000 Exemplare von «Metro» und 330’000 Stück von «amNew York», jeweils rund doppelt so viel wie vor einem Jahr. Hingegen hat das «Wall Street Journal» im letzten halben Jahr ein Prozent Auflage verloren. Die «New York Times» stagniert. In New York verliert sie Leser.

Die Formschwäche widerspiegelt die darbende US-Zeitungsindustrie. Um fast zwei Prozent brach im letzten Jahr deren Auflage ein, so stark wie seit 1995 nicht mehr. Schlimmer noch sieht es bei den Anzeigen aus: Seit 1984, die Zeitungen erlebten ihre Blütezeit, ist der Anteil am Werbekuchen von 22,4 auf 17,7 Prozent geschrumpft, auf 46 Milliarden Dollar.

Bröckeln die Werbeeinnahmen bei herkömmlichen Zeitungen zugunsten von Internet- und Fernsehwerbung ab, legen die Gratiszeitungen markant zu. Um 300 Prozent konnte «amNew York» in den letzten zwölf Monaten das Werbevolumen steigen. Als «hervorragend» beschreibt «amNew York»-Vizepräsident Floyd Weintraub die wirtschaftliche Verfassung seines Blattes, das er als «grösste Tageszeitung Manhattans» bezeichnet.

Mit kurz und prägnant formulierten Artikeln berichtet das Blatt vornehmlich über New York. Agenturmeldungen liefern Wirtschafts- und Weltnews. Keine andere Zeitung würde von 25 – 35-Jährigen häufiger gelesen als «amNew York». Es sind junge Berufsleute, die nicht gewohnt sind, für Information zu bezahlen. «Unsere Leser haben wenig Zeit», sagt Weintraub. «Weil sie arbeiten, verfügen sie über genügend Geld, das sie ausgeben wollen.» Ein ideales Umfeld für Inserenten. «Fast jede Zeitung ist ausverkauft.»

Herausgegeben wird das an «20 Minuten» erinnernde Blatt von einer Tochtergesellschaft der Tribune Inc., dem viertgrössten Zeitungsverlag der USA. Der Luxemburger Gratiszeitungskonzern Metro International publiziert «Metro».

Wann und ob «amNew York» Gewinn erzielt, sagt Weintraub nicht. Nur: «Wir sind unserem Businessplan voraus.» Gemäss Branchenblatt «Crain’s New York Business» schreibt die Zeitung nach einem Verlust von zehn Millionen Dollar seit Dezember schwarze Zahlen – was angesichts des Inseratenvolumen und der geringen Kosten kaum überrascht. Gerade Mal 15 Redakteure für «amNew York». Hingegen beschäftigt die «New York Times» 1200 Journalisten.

«Wir glauben nicht, dass uns die Gratiszeitungen Auflage wegnehmen», sagt eine Sprecherin der «New York Times Company». Neu Leser gewänne die Zeitung an Schulen. Gleichwohl berichtet die Zeitung mit dem Slogan «über alles berichtenswerte zu berichten» kaum über Neulinge. «Wall Street Journal»-Herausgeber Dow Jones nahm gegenüber CASH nicht Stellung. «Das Schweigen sagt alles», so Weintraub. «Sie hassen uns und wollen verhindern, dass man uns wahrnimmt.»

Die Gratisblätter zeigen Wirkung. Stets am Nachmittag gibts die Renommierblätter zum halben Preis – verkauft von 200 «amNew York»-Trafikanten. «Die alten Zeitungen mieten unser Personal», freut sich Weintraub.

Rund 30 kostenlose Tageszeitungen buhlen in den USA um Leser. Mit Folgen. Anfang Jahr kauft sich die New York Times Company für 16, 5 Millionen Dollar in die Boston-Ausgabe von «Metro» ein. «The Washington Post», Die «Chicago Tribune» und die «The Dallas Morning News» besitzen Gratiszeitungen. Anfang Februar lancierte der Öl-Milliardär und Financier Philip Anschutz in der US-Hauptstadt den kostenlosen «Washington Examiner». Umgehend liess er das «Examiner»-Logo für den Gebrauch in 60 amerikanischen Städten schützen – einschliesslich New York.