Die Kinder des Mondes

Sie leben tagsüber hinter verdunkelten Fenstern, sie dürfen nur nachts ins Freie – denn Tageslicht bringt ihnen den Tod. Sie leiden an Xeroderma pigmentosum, einer seltenen, unheilbaren Hautkrankheit. Eine Geschichte von Kindern, die nie die Sonne sehen.

Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Fotos)

limo.jpgLangsam biegt die weisse Limousine von der Hauptstrasse auf den Kiesweg. Knapp nur schafft der lang gezogene Wagen mit rundum getönten Scheiben die enge Kurve. Schliesslich hält er auf einer Waldlichtung, neben einem Haus mit abgedunkelten Fenstern. Minutenlang steht das Auto still. «Sind alle angezogen?», fragt eine Frau, die vor dem Haus wartet. «Wir sind bereit», ruft der Fahrer zurück.

Zwei Türen öffnen sich. Eine nevöse Kinderschar springt hastig aus dem Wagen und eilt ins Haus. Es ist Nachmittag, 33 Grad Celsius, tropisch schwül. Über ihre Hände haben die Kinder dicke Fausthandschuhe gestülpt. Schichten von Pullovern verhüllen ihre Körper. Skibrillen und Mützen bedecken Köpfe und Gesichter. Viele tragen zusätzlich Winter- oder Safarijacken. Nicht vor Kälte oder Wind schützt die Polarkleidung im Hochsommer – sie hält das Licht der Sonne fern.

Nur im Schutz der Nacht werden die Kinder das Haus verlassen. Tagsüber soll sie ihr Feind in diesem Unterschlupf nicht finden. Daheim leben sie meist wie unter Hausarrest. Einmal im Jahr verlassen sie ihre privaten Gefängnisse und reisen aus aller Welt ins Ferienlager «Camp Sundown» nach Craryville im Hudson Valley, zwei Autostunden nördlich von New York City. Dort beherbergt sie ein eigens für sie entworfener Bau. Die abgedichtete Doppeltür funktioniert als Lichtschleuse. Fenster und Vorhänge lassen keine UV-Strahlen durch. Alle Glühbirnen strahlen gefahrlos. Nur grosse Fotos von sonnendurchfluteten Birkenwäldern an den Wänden erinnern an den ausgesperrten Sommer draussen. Drinnen toben die Kinder, spielen Fangen. Ein Clown-Gespann lehrt Albereien und Zaubertricks. Am Schminktisch tragen Mädchen wie Jungen Wimperntusche auf und pudern einander ihre geschundenen Gesichter.

Unbarmherzige Sonne. Für die meisten Menschen bedeutet sie Freude, Glück, Leben. Diesen Kindern bringt sie den langsamen Tod. Sie leiden an Xeroderma pigmentosum (XP), einer seltenen und unheilbaren Hautkrankheit. Ein Fehler im Erbgut der so genannten Mondscheinkinder unterdrückt die Produktion jenes Enzyms, das die von ultravioletten Sonnenstrahlen verursachte Hautschäden selbstständig repariert. Sekunden im Tageslicht genügen, um den Mondscheinkindern schwerste Verbrennungen zuzufügen. Je mehr Sonne auf ihre fragile Haut trifft, desto rascher wachsen maligne Melanome, bösartige Tumoren. Die Kinder der Nacht leben mit einem tausend Mal höheren Krebsrisiko. Bei einigen befällt der Hautkrebs auch die Augen. Sie erblinden. Ein Fünftel der XP-Patienten verliert im Kindsalter jegliche Kontrolle über den Körper eine seltene Form des Leidens greift das Nervensystem an.

Stets am Nachmittag, wenn alle ausgeschlafen haben, öffnet der Bademeister das abgedunkelte Hallenbad. Kreischend plantschen fidele Sonnenverächter mit ihren Geschwistern und Eltern. Sie drücken einander unter Wasser und werfen mit Bällen um sich. Nur die fleckige Haut unterscheidet die Kranken von den Gesunden.

Reichlich Wasser verdrängt Jules Begg, 43, ein groß gewachsener dicklicher Australier mit schütterem Haar und Schnurrbart. Er führt seine elfjährige Tochter Mary über eine Metalltreppe ins kühle Nass. Wie eine Sprinterin im olympischen Becken trägt das Mondscheinmädchen einen Ganzkörperanzug, der sie vom Hals bis über die Knöchel bedeckt. «Ich habe keinen anderen», sagt Mary, die Schwimmen ihr «liebstes Hobby» nennt. Einen Zweiteiler kann sie nicht tragen. Zu viel ultraviolettes Licht dringt durch die Fenster der meisten Bäder.

mary.gifBraune Flecken, so gross wie flach gedrückte Erbsen, treten auf Marys bleichem Gesicht hervor. Folgen eines viel zu spät erstellten Gutachtens. Kaum ging Mary als Baby ihre ersten Schritte durch den Garten, errötete ihr Gesicht. Die Ärzte waren ratlos. In einem Fachbuch fand ihr Vater Jules Begg, ein Psychiater, einen kurzen Eintrag über XP. Er schickte ein Stück von Marys Haut in ein Labor nach England. In Australien gabs den komplizierten Test nicht. Nach vier Monaten kam der Befund. Xeroderma pigmentosum. Seitdem weiss Begg: «Mary wird Hautkrebs bekommen und daran sterben. Wir können nur nicht sagen, wann.»

Die Familie liess in Haus und Auto getönte Scheiben einbauen. Die gerade angeschaffte Camping-Ausrüstung verstaute sie unbenutzt in der Garage. Monatelang bat Begg den örtlichen Kindergarten und später die Schule, die Spiel- und Klassenzimmer abzudunkeln. Nun fährt Marys Mutter die lichtsicher eingepackte Tochter täglich zum Unterricht und trägt ihr alle zwei Stunden Sonnencreme auf. Schutzfaktor 45. «Weil die Lehrer es sonst vergessen», sagt Begg.

Was nicht überrascht. In Südaustralien hat nur Mary XP. Vier Fälle gibt es im ganzen Land, weiß ihr Vater. Die Krankheit ist weit gehend unbekannt und nicht zu verwechseln mit der erworbenen Lichtallergie, die Kanzlergattin Hannelore Kohl vor drei Jahren in den Selbstmord getrieben hatte. Nicht einmal eines von einer Million Neugeborenen kommt als Mondscheinkind zur Welt. Weltweit sind rund 2000 Fälle registriert. Einer von fünfhundert Menschen kann den rezessiv übertragenen genetischen Fehler weitergeben, allerdings nur, wenn er mit einer XP-Trägerin ein Kind zeugt. Selbst dann ist bloß jedes vierte Kind krank. Psychiater Begg und seine Frau Linda haben vier kerngesunde Söhne.

Am meisten Fälle gibt es in Japan. Jeder Vierzigtausendste erträgt im Inselreich die Sonne nicht. Forscher erklären die hohe Rate mit der geringen ethnischen Durchmischung. Selbst in Japan lohnt sich für die Pharmaindustrie der enorme Aufwand nicht, ein Heilmittel zu entwickeln. «Natürlich stehen Aids oder Diabetes weiter oben auf den Prioritätenlisten», sagt Caren Mahar, «aber erklären Sie das Mal der Mutter einer XP-Patientin.»

Mahars viertes Kind, Katie, wurde im Alter von wenigen Wochen mit XP diagnostiziert. Seither kämpft die 43-jährige Beamtin des Staates New York für die soziale Integration ihrer inzwischen elfjährigen Tochter – und für deren Leben. Rigoros. «Die Sonne ist Katies Feind, der Mond ist ihr Freund, ich lasse sie am Tag nie raus.» Ihre Familie muss mitmachen. «Wir leben nachts, das verlange ich», sagt die kleine, etwas gedrungene Mahar, deren müden Augen und matten Haare von langen Nächten zeugen. Ihr Mann liess sich vom Postbeamten zum Uhrmacher umschulen, damit er zu Hause arbeiten kann. Zusammen haben sie die XP Society (XPS) aufgebaut, eine Selbsthilfegruppe, die online Betroffene und ihre Familien verknüpft.

Deren Herzstück ist das seit 1997 alljährlich stattfindende Sonnenuntergangscamp. Bereits zum zweiten Mal sind Mary und ihr Vater von Australien nach New York ins Camp geflogen. «Hier kann ich mit anderen Kindern spielen», flüstert Mary schüchtern. «Ich habe wenige Freunde.» Ihr Vater trifft auf Eltern, die ebenfalls die Sonne fürchten. Die verstehen, was es heisst, ihre Kinder tagsüber nie ins Freie zu lassen, mit ihnen nie über Wiesen zu wandern. Und deren Kinder kaum Freunde haben. «Es ist möglich, Mary von der Sonne fernzuhalten, aber wie integrieren wir sie in die Gesellschaft?», fragt sich der Vater. «Sie leidet unter der sozialen Isolation.»

Am Gruppentisch der Eltern reden die Erwachsenen über ihre Kinder und ihre labilen Ehen. Nahezu 70 Prozent der Beziehungen von XP-Eltern gehen in die Brüche. «XP zerstört fast jede Familie», sagt XPS-Gründerin Mahar. Einschneidender als bei jeder anderen Krankheit sind die Umstellungen. Nicht nur das kranke Kind, die ganze Familie verschwindet vom Alltag. Heime weisen XP-Patienten weg. Sie können keine ständige Dunkelheit bieten. Eine Nachtgemeinschaft, wo Mondscheinkinder permanent zusammen leben, lehnt Mahar ab. «Das brächte zu viele kranke Kinder hervor.»

Im «Camp Sundown» können die Kinder ihre Einsamkeit für ein paar Tage vergessen. Drei Amerikaner sind gekommen, eine Griechin, zwei Nordiren, ein Engländer, eine Australierin und drei Kinder aus Kuba. Ein Junge aus Schwerin wurde einen Tag vor der Abreise mit neuen Melanomen in eine Klinik eingeliefert. Nun hofft er, im nächsten Jahr nach Amerika zu fliegen. Drei Jahre bleiben ihm noch, sagen die Ärzte.

Für seine Leidensgenossen ist es Zeit für ihren ersten Ausbruch in die Freiheit der Nacht. Kurz vor neun Uhr abends verschwindet die Sonne über dem Camp. Eine Betreuerin öffnet die Haustür. Geduldig stehen die Kinder auf der Schwelle. «Alles klar», ruft ein Mädchen, «die Sonne ist weg!» Wie erlöst rennen die Kinder ins Freie. Endlich atmen sie frische Luft. Mädchen und Jungen balgen sich im Gras. Der Nachtausflug führt zu einer Eisdiele, die extra bis nach Mitternacht geöffnet bleibt. Später lassen sich die besonders Mutigen von einer Kletterwand abseilen. Die Jüngeren sitzen am Lagerfeuer, die Älteren flitzen auf Golfwagen übers Feld. Nichts lässt erahnen, dass hier zum frühen Tod verurteile Wesen ein Riesengaudi haben. Ausser der Blick auf die Uhr. Es ist 4 Uhr morgens. Bevor es dämmert, müssen die Kinder zurück ins Haus. Mit staunenden Augen blickt der kleine Jackson Zinkann noch einmal Richtung Mondsichel. Seine dünnen Beine sind zu kurz, um den anderen zu folgen, der Zweieinhalbjährige hat eben erst das Gehen gelernt.

jack.jpgPlötzlich biegt ein Auto in die Waldlichtung ein. Die Scheinwerfer beleuchten die Spielwiese. Jacksons Vater Todd eilt dem Buben hinterher, schließt ihn in die Arme und wendet sich vom Auto ab. Er will sicher gehen. Kein Lichtstrahl soll ihn treffen. «Wir wissen noch wenig über XP und sind extra vorsichtig», sagt Todd. Unter jede Lampe hält er ein sensibles Messgerät, das die Menge der abgesonderten UV-Strahlen misst.

Behutsam setzt er Jackson ab. Just enteilt der aufgeweckte Bube in die Nacht. Einen Jungen wie Jackson wünschen sich alle Eltern, hübsch, frech und fröhlich ist Jackson. Blonde Haare strubbeln auf seinem Kopf, zufrieden strahlen seine blauen Augen. Die bleiche Haut schimmert hell. Seit Jackson neun Wochen alt ist, war er nicht mehr an der Sonne. Seine Mutter Tammy nahm ihn als Baby nur kurz mit bis zum nächsten Briefkasten. Er trug Verbrennungen dritten Grades davon. Nach der Diagnose verkleidete der Vater die Veranda ihres Hauses in Tennessee mit Holz und stellte in dieser Dunkelkammer einen Sandkasten auf. Im Haus halten Zäune den Jungen davon ab, zu nahe ans Fenster zu gehen. «Schreckliche Angst hat die Mama bekommen, als sie von Jacksons Krankheit hörte», erzählt seine zwölfjährige Schwester Sophia. «Angst, dass er nie erwachsen wird.» Sophia sagt, es mache ihr nichts aus, tagsüber mit eingesperrt zu sein. «Dann kann ich lesen.» Auch während der fünf Tage im Camp verlässt sie freiwillig nur nachts das Haus, wie alle anderen Geschwister. «Ich will wie ein Mondscheinkind sein», sagt Sophia.

Nicht die Sonne, die Vereinsamung bereitet der Mutter Sorgen, der sämtliche Gartenpflanzen verdorrt sind, weil sie das Haus nicht mehr verlassen kann. «Ich fürchte, Jackson wird keine richtigen Freunde haben.» Ein Zaun im eigenen Haus hält ihn davon ab, zu nahe ans Fenster zu gehen. Er gehört keiner Spielgruppe an, lernt selten Gleichaltrige kennen und «weiß, er ist anders». In der Vorortslandschaft von Tennessee wird er sich dereinst nur im abgedunkelten Auto fortbewegen können. Er darf bei niemandem einsteigen – die Autos der anderen sind nicht geschützt. «Ist Jackson ein Teenager, bekommt er den coolsten Wagen», witzelt Tammy sarkastisch. «Dann wollen alle mit ihm fahren.»

rey.gifReymond Vasquez will über das alles nicht viel reden. Er stammt aus der Dominikanischen Republik und lebt in New York. Sein Gesicht und seine Arme sind mit Flecken überzogen. Helle Narben am Haaransatz zeugen von den 15 Operationen, bei denen Ärzte Melanome entfernt haben. Alle drei Monate wird er untersucht. Da seine Mutter Sozialhilfe bezieht, behandelt ihn der Arzt kostenlos, ebenso die Schönheitschirurgin, die das geschundene Gesicht pflegt. Drei Jahre lang hatte ein New Yorker Anwalt dafür gekämpft, dass Reymond eine öffentliche High School besuchen kann. Ein dunkler Schulbus fährt den 15-Jährigen nun von der Wohnung in Harlem an die Park Avenue zur Norman Thomas High School. Der Rektor liess einen ganzen Stock für ihn lichtsicher herrichten.

Reymond ist der Star des Camps, wirkt ein wenig selbst verliebt. Er will hoch hinaus, Anwalt werden. Hat er keine Angst, vorher zu sterben? Ihm werde nichts passieren, sagt er nur. «Man kann XP gut im Zaum halten. Wenn Du drinnen bleibst, macht es ja nichts.» Doch Reymond lebt riskant: Bei düsterem Himmel wagt er sich heraus, den Kopf nur knapp mit einer Kappe bedeckt.

Der Leichtsinn, der ihn töten könnte, bedeutet für ihn Freiheit. Er will mehr sein als nur ein XP-Patient. Ein Schüler mit guten Noten. Ein cooler Typ, den die Mädchen anhimmeln. Tagsüber spielt er Computerspiele – «ist es nicht lustig, dass das neuste Windows-System XP heißt?» –, nachts durchstreift er New York. «Es ist die perfekte Stadt für mich», sagt er. «Die Stadt, die nie schläft.» Wie schafft er es, am Tag in die Schule zu gehen und danach zu Nachtwandeln? «Mit Kaffee.»

Umfassend bekannt ist XP seit nunmehr 30 Jahren, im Detail beschrieben der Krankheitsverlauf. Forscher wissen, welches Enzym den Patienten fehlt. Da man XP nun oft früher erkennt und die Kinder im Dunkeln bleiben, erreichen immer mehr Kinder wie Reymond das Teenageralter, «falls sie sich nicht vorher das Leben nehmen», sagt XPS-Gründerin Caren Mahar. Denn wenn die Kinder grösser werden und sich fragen, ob sie je eine Freundin oder einen Job finden werden, verstärkt sich ihre Verzweiflung. Der Krebs verletzt nicht nur die Seele, er raubt XP-Patienten auch mit jeder Operation ein Stück ihres Gesichts. Oft werden sie stark entstellt. Viele trauen sich auch nachts nicht mehr unter Menschen.

Bisher erfolglos blieb die Suche nach einer wirksamen Arznei. Trotzdem ist Mahar überzeugt, ihre Tochter und die anderen Kinder retten zu können. «Das treibt mich an.» Ständig drängt sie Wissenschaftler, neue Heilmethoden zu prüfen. Sie setzt auf Stammzellenforschung oder hofft, Viren als Träger des fehlenden Enzyms in Katies Körper zu jagen. Ende Sommer will sie die wichtigste Entscheidung ihres Lebens treffen. Ihr fünftes Kind, der 18 Monate alte Patrick, hat die gleiche Blutgruppe wie Katie und wäre geeignet für eine Knochenmarktransplantation. Die kaputte Zellstruktur des Mondscheinkinds könnte durch die gesunde ihres Bruders ausgetauscht werden. Wenn das Mark bei Katie jedoch nicht zu arbeiten beginnt oder ihr Körper es abstösst, könnte das Kind nach der Operation sterben. «Wir werden die Risiken abwägen», sagt Caren Mahar, «und dann reden wir mit unserer Tochter.»

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Die XP Society kann über www.xps.org erreicht werden.