Die Pillenfahrt nach Kanada

Die Alten und Kranken Amerikas haben genug davon, die weltweit höchsten Preise für Medikamente zu bezahlen. Unterstützt von lokalen Politikern üben sie massiven Druck aus, die Einfuhr weitaus billigeren Arzneien aus Kanada zu erlauben. Die US-Pharmaindustrie fürchtet um ihre Gewinnmargen.

Von Peter Hossli

Eine regelrechte Revolution wird derzeit in Springfield, Massachusetts, losgetreten. In der beschaulichen Kleinstadt mit 152000 Einwohnern erhalten die Beamten und Senioren neuerdings rezeptpflichtige Medikamente aus Kanada, erstmals legal.

Erwirkt hat das der örtliche Bürgermeister, Michael Albano. Letzten März reiste er nach Kanada, um für seinen zuckerkranken Sohn Insulin zu kaufen. Die Arznei wirkte beim 13-Jährigen so wie das US-Pendant – und war weitaus billiger. Seither lassen Springfields Stadtherren Tabletten und Mixturen en Gros von anerkannten kanadischen Apotheken einführen.

Durchschnittlich spart die Stadt damit 40 Prozent, bei gewissen Medikamenten gar 80 Prozent. Aufs ganze Land hochgerechnet gäben Amerikanerinnen und Amerikaner jährlich dank kanadischen Importen 40 Milliarden Dollar weniger aus, errechnete das Congressional Budget Office. Immerhin ein Fünftel des Umsatzes der hiesigen Pharmaindustrie.

Die Nation scheint Springfield zu folgen. Ende Oktober sprach sich der Bürgermeister der 8-Millionen-Stadt New York, Michael Bloomberg, für die Zulassung ausländischer Essenzen aus. Vier Gliedstaaten – Minnesota, Illinois, Iowa und Wisconsin – erwägen dasselbe. Maine, Vermont und Rhode Island haben bereits solche Verordnungen verabschiedet. Trotz republikanischer Mehrheit stimmte im Juli das US-Repräsentantenhaus einem Gesetz zu, das kanadische Einfuhren vorsieht. Noch sperrt sich der Senat.

Zur Missgunst der Wähler. Gemäss einer Gallup-Umfrage befürworten 71 Prozent der Amerikaner kanadische Arzneien. Ebenso die demokratischen Präsidentschaftskandidaten, welche das Gesundheitsweisen zum bestimmenden Wahlthema erheben möchten. Nahezu 44 Millionen Amerikaner leben gänzlich ohne Krankenversicherung, so viele wie nie zuvor in der US-Geschichte. Senioren geben im Schnitt 22 Prozent ihres Einkommens für die Gesundheit aus. Rasch liessen sich die Kosten bloss durch Parallelimporte senken.

Einfach ist das nicht. Bisher gab es nur zwei Möglichkeiten, die günstigen Medikamente zu kaufen, beide illegal: Die beschwerliche Reise per Car über die Grenze oder der unsichere Einkauf auf kanadischen Websites. Trotzdem steigt die Kundenzahl stetig. Laut Studien beziehen zurzeit sieben Prozent aller Amerikaner ihre rezeptpflichtigen Medikamente nördlich der Grenze. Dafür geben sie 800 Millionen Dollar aus. Vor einem Jahr waren es erst fünf Prozent gewesen.

Oft handelt es sich um Heilmittel, die in den USA produziert, nach Kanada ausgeführt, dort preislich festgesetzt und wieder zurück geschickt werden.

Das sei absurd, sagt der Sprecher der mit 35 Millionen Mitgliedern einflussreichen Altenorganisation AARP, Steve Hahn. «Die Pillenreisen nach Kanada sind eine nationale Schande», sagt er. Es sei aber die einzige Möglichkeit, ein langfristiges Ziel zu erreichen, nämliche «tiefere Preise in den USA», sagt Hahn. Dank den Parallelimporten entstehe endlich eine echte Konkurrenzsituation. Das werde die Preise drücken, sagt Hahn. Es gebe 40 Millionen Amerikaner, die rezeptpflichtige Medikamente kaufen. «Sie stellen ein enormes Potenzial dar», sagt er. «Decken die sich in Kanada ein, sind die US-Anbieter gezwungen, ihre Preise zu senken.»

Genau das fürchtet die Pharmaindustrie – und wehrt sich lautstark. «Medikamenten-Importe in die USA sind illegal», sagt Novartis-Sprecher Mark Hill.

Forschung und Entwicklung bedingen hohe Preise, heisst es unisono. Tatsächlich wird dafür in den USA pro Einwohner fast viermal mehr ausgegeben als in Kanada.

Diesem Argument widerspricht der derzeit aggressivste Kritiker der Pharmaindustrie, der Gouverneur von Illinois, Rod Blagojevich. Dreimal mehr verzehrten bei den zehn grössten Firmen Marketing, Werbung und Verwaltung. Dafür wolle er nicht bezahlen. Er hofft, 90 Millionen Dollar jährlich zu sparen, wenn die Beamten von Illinois ihre Mittelchen künftig diesseits der Grenze erwerben dürfen.

Das sei gefährlich. «Die Sicherheit der US-Bürger ist für uns vorrangig», sagt Roche-Sprecherin Judith Glova. «Die kanadische Regierung kann sie nicht garantieren.» Das, obwohl eine Mehrheit der Medikamente von den USA nach Kanada exportiert und dann wieder importiert werden. «Die FDA hat keine Kontrolle darüber, was in Kanada passiert», sagt Glova. Ausserdem fänden sich vermehrt Fälschungen in kanadischen Regalen oder in Internet-Angeboten wieder.

Als «faule Ausrede der Industrie» bezeichnet AARP-Sprecher Hahn das Sicherheitsargument. Ihm seien «keinerlei Beweise» bekannt. Zudem sei es möglich, einzelne kanadische Apotheken zu prüfen und ihnen ein Gütesiegel auszustellen. «Es geht den Pharmafirmen einzig darum, ihre Gewinne zu sichern.»

Als «eine schlechte Politik» beschreibt hingegen Roche-Sprecherin Glova die Preiskontrollen. Amerika sei der grösste freie Markt für pharmazeutische Produkte. Deshalb sei das Land das Zentrum für Forschung und Entwicklung. Preisregulierungen hätten demnach verheerende Folgen für die Zukunft. «Sie würden die Entwicklung lebenswichtiger Stoffe verhindern», sagt Glova.

Noch hat die Industrie die amerikanische Behörde für Lebensmittel und Medikamente, die FDA, auf ihrer Seite. Sie lehnt die Importe partout ab und verfolgt Schmuggler vehement. «Wir verschaffen bloss den Gesetzen Geltung», begründet der FDA-Kommissär Mark McClellan den Widerstand der Behörde. Der FDA fehlten die Ressourcen sowie die gesetzlichen Grundlagen, kanadische Medikamente zu kontrollieren.

Währenddessen fürchten die Kanadier, die steigende Nachfrage in ihrem Land treibe die Preise in die Höhe. Nicht zu Unrecht, es droht der Engpass. Etliche US-Firmen haben angekündigt, Exporte nach Kanada zu vermindern. Damit wäre Schluss mit der Pillenfahrt in den Norden. Noch hat Roche keine Exportbeschränkungen verhängt. «Wir beobachten die Situation aber genau», droht Sprecherin Glova.

Box

Als «kurzsichtige Taktik» bezeichnet Novartis-Sprecher Mark Hill die Importe aus Kanada. Chronisch Kranke und Senioren sollen mit Hilfe privatwirtschaftlicher Lösungen, nicht Preiskontrollen mit günstigen Medikamenten versorgt werden. Das will Novartis in den USA mit ihrer Care Card bewerkstelligen. Dabei erhalten Patienten ohne Krankenkasse für eine Pauschale gewisse Medikamente bis zu 40 Prozent billiger. Ausserdem beteiligt sich Novartis an Together Rx, einer von sieben Pharma-Firmen getragenen Initiative für günstige Medikamente.