Das China-Syndrom

China ist Amerikas neuster Prügelknabe. Politiker wie Wirtschaftsführer machen das Land der Mitte und den billigen Yuan verantwortlich für die Arbeitslosigkeit zu Hause. Geeint ist die Front nicht. Viele US-Firmen in China produzieren und profitieren wie die Konsumenten vom tiefen Kurs.

Von Peter Hossli

Es ging in der Brandrede für einmal um Kaugummi. Chinesische Fabrikanten, holte US-Handelsminister Donald Evans jüngst aus, betrieben regelrechte Piraterie mit amerikanischen Schleckwaren. So hätten sie ihre Lastwagen mit denselben Farben angemalt wie das der US-Spearmint-Riese Wrigley tue. Fast identisch sähen die chinesischen Produkte aus, führte Evans fort. Damit chinesischer statt amerikanischer Gummi in den Regalen der Läden Pekings liegt, wechsle Schmiergeld die Hand.

Aggressiver noch ging der demokratische Senator Joe Lieberman mit China ins Gericht. In einem Zeitungsartikel bezichtigte er das Land der Mitte jüngst offen des Diebstahls. Ständig würden Patente geklaut und der Kopierschutz verletzt, so Lieberman. 200 Milliarden Dollar gingen den USA deshalb jährlich verloren. Was der Beziehung zwischen Amerika und China fehle, schrieb der Präsidentschaftskandidat im «Wall Street Journal», seien «Aufrichtigkeit» und «Vertrauen».

Ausgesprochen frostig sind die Handelbeziehungen zwischen den USA und China geworden. Galt der Riese im fernen Osten in den neunziger Jahre noch als asiatischer Musterschüler, als eines der wenigen Länder, das nicht in den Währungsstrudel geriet, ist es nun der Prügelknabe. Wie einst Japan muss China für Amerikas hohe Arbeitslosigkeit und das enorme Handelsdefizit herhalten. Schuld, so der Konsens, sei die künstliche Unterbewertung der chinesischen Währung, des Yuan.

Die anti-chinesische Stimmung hat zwei Ursachen. In den vergangenen fünf Jahren ist China eine wichtige Produktionsstätte für ausländische Firmen geworden, nicht mehr nur für Konsumgüter, sondern vermehrt auch für Investitionsgüter. Die schwache Währung und geringe Lohnkosten locken Unternehmer von Illinois oder Ohio in die chinesische Provinz – was in den USA Jobs kostet.

Hinzu kommen die US-Wahlen im nächsten Jahr. Mit China haben die demokratischen Herausforderer neben Präsident Bush den Bösewicht gefunden für die dümpelnde Wirtschaft. Protektionistische Eingaben im Parlament sowie Strafzölle sollen das Land dazu bringen, die Währungspolitik zu lockern. In einer Fernsehdebatte diskutierten letzte Woche die demokratischen Kandidaten darüber, ob China den Status des bevorzugten Handelspartners verlieren soll.

Solches Vorprellen hat Bush unter Zugzwang gebracht. Flugs entsandte er Anfang September seinen Finanzminister John Snow nach Asien. In Tokio und vor allem Peking warb der für eine Freisetzung der Währungen. Seit 1994 ist der Yuan stabil, rund 8,3 Yuan zum Dollar. Regelmässig stützt die chinesische Zentralbank die US-Währung durch den Kauf amerikanischer Staatsanleihen.

40 Prozent liege der Yuan deshalb unter seinem Marktwert, so Lieberman. Daraus resultierte im letzten Jahr das 103 Milliarden Dollar hohe Handeldefizit mit China. Heuer soll es 130 Milliarden, in fünf Jahren sogar 300 Milliarden Dollar betragen.

Trotz Säbelrasseln in den USA kam Finanzminister Snow mit leeren Händen aus China zurück. Schroff lehnte es die chinesische Führung ab, ihre Währungspolitik zu ändern.

«No Way!», auf keinen Fall, titelte eine englischsprachige Zeitung in Peking, ein griffiges Zitat, das hier zu Land etliche Zeitungen und Nachrichtenmagazine nachdruckten.
Kaum war Snow zurück, orderte Bush seinen Handelsminister an, ein «Team gegen unfaire Handelspraktiken» einzusetzen. In denselben Tenor schlug sodann die National Association of Manufactures (NAM) ein. Gemäss dem Industriellenverband sei China hauptverantwortlich für den Verlust von 2,7 Millionen Stellen in US-Fabriken. Die 71000 im Juli gestrichen Stellen wurden ebenfalls China angekreidet. Nun will der Verband bei der Welthandelsorganisation WTO klagen.

Vergangene Woche haben überdies republikanische und demokratische Repräsentanten im Parlament eine Resolution eingereicht, welche die Regierung Bush auffordert, gegen die Währungspraktiken Chinas vorzugehen. Sie verlangen unter anderem Importzölle auf chinesischen Produkten von 27 Prozent.

Einheitlich ist die Front aber nicht. Etliche US-Firmen sowie die Konsumenten profitieren direkt vom niedrigen Yuan – und wollen das weiterhin tun. Nahezu 70 Prozent der von der Supermarktkette Wal-Mart verkauften Produkte stammen beispielsweise aus China. Wal-Mart ist nicht nur die grösste Firma der Welt, es ist der grösste Verbrauchermarkt Amerikas. «Amerikanische Konsumenten profitieren vom niedrigen Yuan», sagt der Ökonom R. Glenn Hubbard von der Columbia University zu CASH.

Stiege der Yuan um 40 Prozent, hätte das demnach drastische Folgen für die hiesigen Preise – und die Zinsen. Die amerikanischen Staatsanleihen, welche die japanische und chinesische Zentralbank emsig kaufen, halten nämlich nicht nur deren Währung niedrig, sie finanzieren das US-Defizit und sorgen für geringe Zinslast.

Etliche US-Firmen müssten sich zudem neue Produktionsorte suche. Längst profitieren Intel, Kodak oder Procter and Gamble von den vorteilhaften Bedingungen, die China bietet. Rund 10 Prozent der ausländischen Investitionen in China tätigen US-Firmen.
Ökonom Hubbard sieht eine zusätzliche Gefahr, die von der Freisetzung des Yuan ausgehen könnte: das labile chinesische Bankensystem wäre gefährdet. «China muss zuerst die Banken flicken», sagt er. Noch seien die Finanzinstitute nicht in der Lage, die bei einer Aufwertung zu erwartende Zufuhr von Kapital zu verarbeiten. Die Folge wären finanzielle Instabilität – und eine fallende Währung.

Andere Ökonomen bezweifeln, ob die Aufwertung des Yuan die Abwanderung von Jobs stoppen würde. Die Lohnkosten seien bei der Wahl des Produktionsortes weit wichtiger als die Währung, argumentiert etwa der Präsident des Economic Strategy Institute, Clyde Prestowitz.

Dem stimmten die Leitartikler der «New York Times» zu. Zu glauben, das Handelsdefizit mit China und die Abwanderung von Jobs hätte mit der niedrigen Währung und nicht mit billigen Arbeitskräften zu tun, sei «albern». Man soll sich hüten, so das Blatt, alte gegen Japan gerichtete Argumente auszugraben und in Richtung China abzufeuern. Das sei «abstruses ökonomisches Denken».