Der Schweizer in Den Haag

Valentin Zellweger ist der einzige Schweizer am Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Der Jurist startet als Stabschef in Den Haag mit vielen Vorschusslorbeeren.

Von Peter Hossli

valentinzellweger08-01.gifEs war ein Angebot, das er nicht habe ausschlagen können. Valentin Zellweger sass in seinem New Yorker Büro mit Blick auf das elegante Empire State Building, als Anfang April das Telefon klingelte. Von Den Haag rief Philippe Kirsch an, der Oberrichter des neuen internationalen Strafgerichtshof (ICC). Er wolle ihn als persönlichen Berater, als Stabschef des Gerichtspräsidiums, bestellte der Québécois Kirsch dem Basler Zellweger. Man sprach Französisch. «Es wird sicher ein grosses Abenteuer», so Kirsch. Der Berufene sagte, nach kurzer Bedenkzeit, zu.

Knapp zwei Monate später, der Blick aufs Empire State Building ist Wolken verhangen, nennt Zellweger den Job eine «fantastische Herausforderung». Neben dem Computer hat der bisherige Rechtsberater der Schweizer Uno-Mission Fotos seiner beiden Töchter angebracht. Er trägt einen graublauen Anzug, dazu eine dunkelblaue Krawatte. Er ist gross, aber nicht staatlich, das bebrillte Gesicht ist freundlich und einnehmend, der blonde Haaransatz auf dem Rückzug. Er gestikuliert, wenn er redet, hört aufmerksam zu, antwortet stets überlegt, ja charmant.

Qualitäten, die den Ausschlag gaben bei der Besetzung des einflussreichen Postens. «Valentin ist smart, präzis, schnell – ein sehr angenehmer Mensch, ruhig und offen», sagt Kirsch, der jemanden gesucht habe, dem er «total vertraut». Zellweger sei in Den Haag sein «alter ego».

Mitte Juni fängt Zellweger in Holland an, wo «regelrechte Frontierstimmung» herrsche, sagt der 40-Jährige. Er freue sich, dem Weltgericht nun eine Gestalt zu geben, ihm «Ansehen zu verschaffen». Es müsse einen eigenen Platz finden unter den internationalen Institutionen, die die Bewältigung von Konflikten abwickeln. Zellwegers Ziel: «In 15 Jahren wissen Schulkinder, was der ICC ist.»

Anfänglich gehe es darum, interne Regeln aufzustellen und eine griffige Organisation einzurichten. Danach wird er das Büro des höchsten von insgesamt achtzehn Richtern führen. Er amtet nicht bloss als Kirschs wichtigste Ansprechperson. Er ist dessen Mann fürs Grobe – und überbringt die schlechten Nachrichten, um den Chef zu decken. «Ich mache mir die Finger dreckig», sagt er. Damit Kirschs Autorität unantastbar bleibe, führe er die unangenehmen Verhandlungen.

Etwas das der als brillanter Unterhändler und eloquenter Redner geltende, weit herum geschätzte Zellweger keineswegs scheut, sondern sucht. Ihn würden die verzwickten Fragen interessieren, er löse am liebsten hartnäckige Probleme. «Die besten Lösungen sind stets jene, an die zuvor niemand gedacht hat», sagt er.

Die braucht es in Den Haag. Es geht um viel. Nach wie vor stehen wichtige Länder wie Russland, China, Israel und besonders die USA abseits. Nicht bloss argwöhnisch, ja feindselig schauen die Amerikaner zu. «Wohl noch immer fragiler als viele glauben», sei der ICC, sagt Zellweger. Bis anhin sei der Gerichtshof ja vor allem erst «ein Stück Papier». Nun müsse man ihn aufbauen. «Wir haben nur diese eine Chance», sagt er. «Es gibt keinen zweiten ICC.»

Mit der Brücke eines Supertankers vergleicht der ehemalige Matrose die künftige Arbeitsstätte. Kursänderungen bemerke man erst dreissig Kilometer später. «Wir müssen wahnsinnig aufpassen. Flüchtigkeitsfehler sind nicht erlaubt.»

Zumal die Amerikaner geradezu auf Pleiten hoffen. Sie sind beim ICC nicht nur nicht dabei, sie lehnen ihn aktiv ab. An einen baldigen US-Beitritt glaubt Zellweger nicht. Statt dessen hofft er, die amerikanische Haltung ändere sich graduell – von der aktiven Gegnerschaft zu einer passiven Duldung des Gerichts.

Die Furcht der USA, der ICC werde politisch missbraucht, sei ohnehin unbegründet. Im Gegensatz zu klassischen amerikanischen Anklägern, die Bluthunden gleich blindlings Verbrecher hetzen, habe der ICC eine klar definierte Aufgabe. «Wir verfolgen die schlimmsten Verbrechen.» Das Gericht habe «nicht das geringste Interesse» politisch zu agieren.

Zellweger muss es wissen, er hat massgebend am ICC mitgebaut. Als einer von über 2000 Delegierten vertrat der promovierte Jurist 1998 die Schweiz bei der Gründungskonferenz in Rom. Später beteiligte er sich bei der Erarbeitung der verschiedenen Straftatbestände, die der ICC verfolgen wird. Dank dessen Geschick, sagen Diplomaten, hätten die USA zumindest da zugestimmt. Mit den Innereien des Gerichts machte er sich im letzten Jahr vertraut, als er das 31 Millionen Euro umfassende Budget erstellte und die Verhandlungen darüber leitete.

Weil er den ICC so gut kennt, dämpft er die Vorfreude. Schlagworte wie «die wichtigste Errungenschaft seit der Uno-Gründung» würden sich eher negativ auswirken. Das Gericht könne solch plakativen Erwartungen nicht erfüllen, müsse es auch nicht. Nur wenn das Rechtssystem eines Landes zusammenbreche, die Gewaltentrennung abhanden komme, schreite der ICC ein. «Solange die nationalen Gerichte aktiv werden, braucht es uns nicht», sagt er. «Je weniger Fälle wir behandeln, desto grösser der Erfolg.»

Das Gericht werde sich den wenigen Schlüsselfiguren von Unrechtsregimen annehmen. «Figuren, die das Heimatland die aus politischen Gründen nicht aburteilen kann», sagt er. Ein Schweizer beispielsweise, glaubt Zellweger, werde vom ICC kaum je angeklagt werden. «Die Schweiz funktioniert, die USA ebenfalls. Es sind Länder wie Ex-Jugoslawien, in denen wir aktiv werden. Seit Milosevic weg ist, funktioniert es dort wieder.»

Das weisse Kreuz lege er ab, wenn er nach Den Haag wechsle. Der Schweizer arbeitet für das Weltgericht, vertritt die Schweiz dort aber nicht. Er ist auch kein Trostpreis für zwei Nichtwahlen. Vergeblich hatten sich unlängst Carla Del Ponte um den Posten der Chefanklägerin und Barbara Ott um ein Richteramt bemüht.

Gleichwohl sei das Gericht für die Schweiz wichtig, sagt Zellweger. Die Genfer Konvention, ein Pfeiler des modernen Völkerrechts, sei allzu lange wie «die Sonntagspredigt» behandelt worden, nicht zuletzt von der Schweiz. «Man hat sie runter gebetet, war bei der Einhaltung aber nicht immer rigoros genug». Da der ICC die Einhaltung der Konvention durchsetze, falle dem Gericht neben der offensichtlich institutionellen Rolle eine katalytische zu. Allein dank dessen Existenz dürfte sich die rechtliche Situation in manchen Ländern verbessern, hofft er.

Er ist ein unverwüstlicher Idealist, «einer, der im Gegensatz zu vielen in unserem Geschäft, seine Passion nicht verloren hat», sagt William Pace, der Vertreter der Nichtregierungsorganisationen zur Schaffung des ICC. «Er ist aufrichtig daran interessiert, das internationale Recht zu verbessern», sagt Pace, der Zellweger als einen der «derzeit profiliertesten Völkerrechtsberater» bezeichnet. Er sei in der Lage, selbst mit den mächtigsten Nationen umzugehen, mit ihnen Kompromisse zu schliessen – «ohne die Integrität des Rechts zu verletzen».

Als «ausgezeichneten Kenner des Römer Statutes» lobt ihn der Botschafter Liechtensteins an der Uno, Christian Wenaweser. Dessen direkte Art sei in diplomatischen Kreisen ausgesprochen beliebt. «Kirsch hätte keinen besseren finden können», so Wenaweser. Eine «ausgeglichene Intelligenz», attestiert ihm der jordanische Uno-Botschafter, Prinz Zeid Raad Al Hussein. Zellweger sei nicht nur technisch ein hervorragender Jurist, so Zeid, er sei witzig und wisse stets, was möglich sei und was nicht. «Wer in Den Haag mit Valentin spricht, spricht auch mit mir», sagt sein Chef, Richter Kirsch, undiplomatisch offen.

Die Nähe zu Frankreich hat dem Basler einst die Welt eröffnet. In Neuenburg und Basel studierte Zellweger Recht. Für seine völkerrechtliche Doktorarbeit erhielt er eine Qualitätsprämie. Ein Jahr lang reiste er alleine durch Asien, wo er sich selbst kennen gelernt habe, sagt er. In Indien entdeckt er, gerade 21, was ihm wichtig sei: Menschen in unterschiedlichen Lebensumständen zu beobachten und mit ihnen in Kontakt zu treten. 1991 trat er ins EDA ein. Nach Posten in Kenia und Bern wurde er 1999 Rechtsberater der Schweizer Uno-Mission in New York, wo er sich zuvorderst um den Aufbau des Strafgerichtshofes bemüht hatte.

Nun geht er nach Holland, von der aufregenden Metropole in die kulturell dürre Verwaltungsstadt. Er freut sich. Beruf und Familie hätten es ohnehin selten zugelassen, New York zu geniessen. Zudem vermisse er die europäische Sinnlichkeit. Er sei der «klischierten Verhaltensweisen» der Amerikaner überdrüssig.

Privat gibt er wenig preis. Die politische Partei, der er betreten würde, gebe es nicht. Er möge klassischen Rock, den Blues des Mississippi-Deltas sowie Jazz aus New Orleans. Zu einem Superlativ greift er im dreistündigen Gespräch nur zweimal. Seinen neuen Chef, Kirsch, bezeichnet er als «Non-Plus-Ultra» unter den Völkerrechtlern. Und Rockbarde Bob Dylan sei ein «Jahrhundertereignis.»

Das neue Gericht in Den Haag

Der internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag richtet über Gräueltaten, die nach dessen Gründung am 1. Juli 2002 weltweit begangen werden. Verfolgt werden jene Verbrechen, die die nationale Justiz nicht ahnden will oder kann. In Betracht kommen Massenmord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Folter oder Vergewaltigung, sowie Kriegsverbrechen. Das Gericht besteht aus zwei Hauptorganen – dem Büro der Anklage sowie den 18 Richtern. Präsidiert wird das Richtergremium vom Frankokanadier Philippe Kirsch. Dessen Berater ist der Schweizer Valentin Zellweger. 90 Länder haben das ICC-Statut ratifiziert. Abseits stehen die USA, Japan, China, Russland oder Israel. «Es ist erstaunlich, dass in derart kurzer Zeit so viele Nationen den komplexen Staatsvertrag ratifiziert haben», sagt Zellweger.