«Kinder im Schleckwarenladen»

Die Klägeranwälte von geprellten Investoren freuen sich ausgiebig über die faktenreiche Vorarbeit von Eliot Spitzer. Falsche Aktienanalysen kosten die Investmentbanken an der Wallstreet rund 1,4 Milliarden Dollar - vorerst. Mit dem Vergleich ist die Sache nicht ausgestanden. Eine Klagewelle ist im Anzug. Die Forderungen geschädigter Anleger könnten 40 Milliarden Dollar erreichen.

Von Peter Hossli

Rund 97 Prozent aller Zivilklagen enden in den USA mit einem aussergerichtlichen Vergleich. Statt kostspielig zu prozessieren, einigen sich die Parteien in geheimen Verhandlungen auf eine Schadensumme. Die wichtigsten Vorteile: Es ist billiger, und das angeprangerte Gebaren bleibt im Dunkeln.

Anders liegt der Fall bei den tausenden von aussergerichtlichen Schlichtungsverhandlungen, die derzeit zwischen den Anwälten von Investoren und Investmentbanken wegen falscher oder gar betrügerischer Aktienanalysen im Gang sind. Der letzte Woche geschlossene und rund 1,4 Milliarden Dollar umfassende Vergleich zwischen zehn Wallstreet-Banken und der Staatsanwaltschaft von New York bringt neue Dynamik in diese Verfahren.

Die zivilen Kläger – während des Börsenbooms geprellte Investoren – halten plötzlich weit bessere Karten in den Händen. Die Beklagten – die Banken, die sie mit fingierten Analysen zum Aktienkauf verleitet hatten – konnten infolge der Untersuchung der Staatsanwaltschaft ihre Machenschaften nicht unter Verschluss halten. «Die Ermittler der Regierung haben kostenlos die höchste Hürde für die Kläger beseitigt», sagt Lynn Lincoln Sarko, Anwalt aus Seattle. «Sie haben die ausgesprochen teure und zeitlich aufwändige Faktenfindung erledigt.»

Betrügerische Handlungen auch von der CSFB?

Weil der New Yorker Staatsanwalt Eliot Spitzer bei der Bekanntgabe des Vergleichs gleichzeitig Bände von Beweisen offen gelegt hat, seien nun Legionen selbst kleinerer Anwaltskanzleien bereit, Investoren allein auf Erfolgsbasis zu vertreten und neue Klagen einzureichen.

Spitzers Beweise erleichtern ihre Arbeit. Es seien zudem hervorragende Unterlagen, um bei den laufenden Verfahren eine höhere Summe zu erhalten, sagt Sarko. So zeigen die Dokumente, wie angesehene Analysten während des Internetbooms absichtlich positiv über aussichtslose Aktien berichtet haben – einzig, um zusätzlichen Umsatz für das Investmenthaus zu generieren.

Besonders schmerzlich dürfte sich die Wortwahl Spitzers für drei Banken auswirken. Merrill Lynch, die Citigroup-Tochter Salomon Smith Barney und die CS-Tochter Credit Suisse First Boston hätten die Öffentlichkeit «betrügerisch» in die Irre geführt.

Deshalb würden sich die Anwälte derzeit fühlen «wie Kinder im Schleckwarenladen», sagt der Wirtschaftsprofessor der New York University, Kenneth Froewiss. Spitzer hätte ihnen eine grosse Auslage von appetitanregenden Möglichkeiten präsentiert.

Diese Ansicht teilt auch der Rechtsprofessor Henry Hu von der University of Texas. Das Material von Spitzer sei enorm hilfreich für neue Klagen. Darüber hinaus, sagt Hu, dürften bereits laufende Verfahren beflügelt werden. Insbesondere nennt er eine in New York eingereichte Sammelklage gegen 55 Wallstreet-Banken. «Es ist Wasser auf die Mühlen der Kläger.»

Es wird teurer als die 1,4 Milliarden werden. Da sind sich alle einig. Doch wie viel die Banken an die Investoren bezahlen müssen, ist unklar. «Die Banken müssen hohe Summen für die zu erwartenden Kosten zur Seite legen und sich zusätzlich versichern», sagt Sarko. Professor Hu umschreibt die Summe mit «einer Zahl mit vielen Nullen». Genauer könne man nicht sein.

Es bleibt abzuwarten, wie viele klagen. Allerdings, so Hu, hätte der Vergleich viele Investoren überhaupt erst darauf gebracht, sich zu wehren. «Dass fundamental etwas faul ist an der Wallstreet, wissen nun selbst diejenigen, die den Wirtschaftsteil der Zeitung nicht lesen», sagt er.

Keine amerikanische Anwaltskanzlei vertritt mehr Klienten wegen Aktienbetrugs als Shepard, Smith & Bebel. Geschäftspartner Christopher Bebel beschreibt jene 387,5 Millionen Dollar, die von den insgesamt 1,4 Milliarden an die geprellten Investoren gehen, als «Tropfen auf den heissen Stein». «Der eingerichtete Fonds entspricht bestenfalls einem Prozent der Schadenssumme», sagt Bebel. Rechnet man dies hoch, kommt man auf Forderungen von bis zu 40 Milliarden Dollar.

Langwierige Verfahren von bis zu sechs Jahren stehen bevor

Bebel, dessen Firma rund 50 Klagen gegen Investmentbanken betreut, warnt allerdings seine Kollegen vor überschwänglichen Einschätzungen: «Das ist nicht der Asbest der Finanzindustrie.» Im Gegensatz dazu sei die Beweislage hier komplexer. Entscheide, Aktien zu kaufen, würden nicht immer auf Grund von Analysen getroffen, sagt Bebel. Die Beweggründe für eine Investition seien oft weitaus diffuser. «Diffus» komme vor Gericht nicht an.

Ausserdem, räumt Bebel ein, dürften die für die Kläger nachteiligen Konsequenzen des Vergleichs nicht unterschätzt werden: «Die Anwälte der Banken sind smart genug, um darzulegen, das Settlement decke sämtliche Schäden ab.»Es liege an den Klägeranwälten, die kolossalen Einbussen glaubhaft darzulegen. Angesichts der aussichtsreichen Erfolgsprämien bestimmt eine reizvolle Aufgabe. Die Verfahren dürften mindestens fünf bis sechs Jahre laufen, schätzt Bebel.

Tief greifender Strukturwandel
Die vom Vergleich betroffenen Wallstreet-Banken müssen die Analyse-Abteilung künftig strikt vom Investmentbanking trennen. Angestellte der beiden Bereiche dürfen sich nur noch im
Beisein einer unabhängigen dritten Person zu geschäftlichen Absprachen treffen. Das führe zu weit weniger Analyse als bisher, glaubt der Rechtsprofessor Henry Hu von der University of Texas. Deshalb würden die Banken ihr Research verkleinern und weniger Aktien analysieren.

Bisher sei der Analyst die wichtigste Person gewesen, um einen Titel einem Kunden anzubieten, sagt Wirtschaftsprofessor Kenneth Froewiss. Etliche Kunden hätten ein besonders enges Verhältnis zu Analysten aufgebaut. «Die Banken wollen diese Kontakte weiterhin nutzen», sagt Froewiss, «viele Analysten werden die Seite wechseln und künftig als Banker wirken.» Das dürfte zu einem weiteren Personalabbau führen. «Die Banken nehmen die Kosten für den Vergleich und die Zivilklagen nicht einfach hin», sagt Froewiss. «Sie werden Leute entlassen.» Weder CSFB noch UBS wollten dazu Stellung nehmen. �