Kreisen über Ground Zero

Wer entscheidet, was am Ground Zero gebaut wird? Das weiss eigentlich niemand.

Von Peter Hossli

Die ersten amerikanischen Bomben hatten eben Bagdad getroffen, als Daniel Libeskind im Marriott Hotel in Manhattan ans Mikrofon trat. «Letzte Nacht hat der Krieg begonnen», sagte der Architekt. «Wir werden unsere Truppen unterstützen – und wir werden mit einem rasch realisierten Neubau beim Ground Zero ein Zeichen für die Demokratie setzen.»

Auf dem Buffet lagen Lachs-Kanapees, frische Brötchen sowie Melonenbällchen in drei verschiedenen Farben. Der Anlass des Frühstücks war die Ankündigung eines Vertrags, der «innert Monatsfrist» abgeschlossen werden soll. Damit reagierten die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) und die Port Authority, beides staatliche Behörden, auf wachsende Kritik: Niemand sei wirklich verantwortlich und zuständig für das, was dereinst das World Trade Center ersetzen soll. «Wir nehmen Daniel unter Vertrag», sagte LMDC-Direktor Kevin Rampe. Libeskind erstelle den Masterplan. Zudem amte er als Berater, um die Richtlinien des international auszuschreibenden Wettbewerbs für die Gedenkstätte aufzustellen. «Natürlich», so Rampe, sei noch nichts entschieden. «Wir werden mit Daniel die Machbarkeit aller einzelnen Elemente diskutieren.»

Libeskind, wie stets in Cowboy-Stiefeln, schwarzem Anzug und schwarzem Hemd, lächelte. Ihm sei klar, sein Projekt würde am Schluss anders aussehen als ursprünglich geplant. Das sei in Ordnung. «Mit jeder Veränderung wird es bestimmt besser», sagte er, «die Vision bleibt ja unberührt.» Alle klatschten.

Libeskind zeigte sich an diesem Morgen von jener Seite, die ihm den Auftrag für den wohl berühmtesten Bau der Welt beschert hatte – der des kompromissbereiten und patriotischen Pragmatikers.

Der Ankündigung vorausgegangen war ein monatelanges, erbittert geführtes und für New York typisches Gezänk. Ein mit dem Hang zur bizarren Dramatik inszeniertes Spektakel um viel Geld und viel Macht. Dabei prallten enorme Egos aufeinander. Zuletzt ging es aber um übliche Pfründe. Ein Seilziehen darum, wer entscheidet, was wann gebaut wird.

Ein klärendes Machtwort gesprochen hat fürs erste der republikanische Gouverneur von New York, George Pataki. Dank ihm habe das Projekt des in Polen geborenen, später in die USA ausgewanderten Libeskind schliesslich den Zuschlag erhalten. In einem stark kritisierten Auswahlverfahren übertrumpfte er den argentinischen Architekten Rafael Vinoly.

Wo einst die Türme in den Himmel ragten und jetzt eine riesige Lücke klafft, sieht Libeskind eine rund zehn Meter tiefe Gruft vor. Seine Anhänger nennen sie liebevoll «Badewanne». Östlich des von anderen verächtlich als «Loch» verschmähten Grabens plant er ein Museum mit typisch Libeskindschen Ecken und Kanten. Die Wand auf der Westseite, welche das Wasser vom Hudson River fernhält, will der 56-jährige Architekt stehen lassen und mit Glas verkleiden. Sie hätte den Angriffen standgehalten und strahle reichlich Symbolkraft aus. «Die muss sichtbar sein.» Wie eine Spirale schwingen sich zudem fünf Bürotürme um die Wanne herum, wobei der höchste Wolkenkratzer 1776 Fuss hoch werden soll. Die Zahl steht für das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Einweihen will Libeskind Badewanne und Gedenkstätte in vier Jahren. Andere Schätzungen gehen von sieben bis zehn Jahren aus.
Wenn es denn dazukommt. Schon am Tag nach der Wahl Libeskinds stellte die Stadtkolumnistin der «New York Times», Joyce Purnick, die zentrale Frage: «Wie kann das jemals in die Realität umgesetzt werden?»

Trotz Vertragsankündigung steht nämlich keineswegs fest, ob Libeskind wirklich bauen wird. Wie hungrige Geier kreisen breitschultrige Bauherren, raffgierige Investoren und windige Politiker über den Boden, wo fast 2800 Menschen starben; die Angehörigen der Opfer wollen mehr Gehör; Einsprachen und gerichtliche Kabbeleien drohen, den Bau jahrelang zu verzögern. Nicht wenige glauben, Libeskind werde vielleicht bloss das Land den privaten Bauunternehmern zuordnen. Die wiederum werden dann eigene Architekten anheuern. «Sieht Ground Zero in 15 Jahren so aus wie jetzt auf dem Plan?», fragte der fürs Bauen zuständige Vizebürgermeister von New York, Daniel Doctoroff. «Nein», antwortete er selbst.

Bis am 11. September 2001 thronte das World Trade Center auf sieben Hektaren Land zwischen Vesey, West, Church und Liberty Street an der südwestlichen Spitze Manhattans. Das Gelände gehört der Port Authority of New York and New Jersey (PA). Die Hafenbehörde regelt Verkehrsangelegenheiten im Grossraum von New York, kontrolliert Tunnel, Brücken und Flughäfen. Zwar wird sie von den beiden Staaten New York und New Jersey reglementiert, Steuern bezieht sie jedoch keine. Die PA muss sämtliche Einnahmen selbst erwirtschaften. Deshalb will sie die zerstörten Büros und Verkaufsläden nun ersetzen.

Die hat nämlich Larry A. Silverstein gegen gutes Geld gemietet. Zwei Monate vor den Terrorattacken hatte der Immobilienmakler einen auf 99 Jahre laufenden Mietvertrag für die Zwillingstürme abgeschlossen. Dieser Vertrag, sagt Silverstein, sichere ihm jetzt das Mitspracherecht beim Neubau. Er will nicht nur zahlen, er will mitbestimmen. Mit guten Aussichten. Noch gibt es kein Gesetz, das jemanden zwingt, einen vom Staat auserkorenen Architekten zu beschäftigen.

Mit dem Amerikaner David Childs hat Silverstein überdies bereits einen eigenen Architekten unter Vertrag. Gut möglich, dass am Schluss Childs den kommerziellen, also grössten Teil am Ground Zero entwerfen wird. Zumal Libeskind zwar den Masterplan überwachen soll, bis anhin allerdings nicht für den Bau der Bürotürme angestellt worden ist. Zudem, bemängeln dessen Kritiker, habe er bisher noch nie ein hohes Gebäude realisiert.

Leisten können sich die fünf bis sechs Milliarden teuren Bürotürme ohnehin nur Silverstein sowie dessen Partner, Westfield America, eine Firma, die sich auf den Bau von Shoppingzentren spezialisiert. In Lower Manhattan stehen 1,5 Millionen Quadratmeter Bürofläche leer. Neue Büros bauen will unter solchen Voraussetzungen nur, wer überschüssiges Bargeld hat – vielleicht bald Silverstein.

Der hatte für das World Trade Center bei der Rückversicherungsgesellschaft Swiss Re eine Police über 3,5 Milliarden für den Fall eines Terroranschlages abgeschlossen. Da die Terroristen mit zwei Flugzeugen angegriffen hätten, argumentiert er in einer Klage gegen Swiss Re, stünde ihm die doppelte Summe zu. Obsiegt er, dürften ihm sieben Milliarden Dollar ausreichen, das Zepter zu übernehmen.

Ebenfalls vor Gericht streiten Silverstein und die Port Authority darüber, ob der Pächter oder die Besitzerin das Bauvorhaben vorantreiben darf. Dieser Zwist könnte sich bald verlagern. Allenfalls kontrolliert nämlich schon bald die Stadt New York den Bauplatz. «Ja, wir verhandeln noch immer über den Landtausch», sagte jüngst der Direktor der Port Authority, Joseph Seymour. Daran ändere der nun angekündigte Vertrag mit Libeskind nichts.

Noch im vergangenen Jahr hatte die Stadt New York einen viel versprechenden Tauschhandel vorgeschlagen: Ground Zero gegen zwei städtische Flughäfen. New York träte die Kontrolle – und die Mieteinnahmen – über den John F. Kennedy und den La Guardia Airport der PA ab und erhielte im Gegenzug Ground Zero. Ist die Port Authority mal weg, so die Überlegung, könne freier gestaltet werden. Verschwinden würde der Zwang, möglichst viele Verkaufsläden zu bauen. Vorgesehen ist eine Verdoppelung der Verkaufsfläche des World Trade Centers. «Der Neubau darf nicht wie eine Mall aussehen», fordern dagegen die Angehörigen der Opfer.

Eine Ansicht, die der Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, teilt. «Die Leute gehören auf die Strasse, nicht in den Keller», verlangte er und erntete Beifall in Architekturkreisen. «Er ist der erste Bürgermeister seit Jahrzehnten, der sich für das Aussehen der Stadt interessiert», sagt David Golab vom New Yorker Architekturbüro Superstructures. Erstmals seit langem führe die Stadt wieder eine öffentliche Diskussion über Design, nicht zuletzt dank Bloomberg.

Der Bürgermeister geniesst hohes Ansehen, weil er es wagte auszusprechen, was viele denken: Das World Trade Center hätte den Süden Manhattans nicht wie erhofft belebt. Im Gegenteil. Da alle Geschäfte und Restaurants unter dem Boden lagen, spielte sich das Leben hauptsächlich unter Kunstlicht ab. Nun müssten Parks, Boulevards, Spiel- und Sportplätze hin, verlangt Bloomberg.

Sowie eine stark verbesserte Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr. Private Firmen würden nämlich erst dann neue Büros mieten, wenn die Gegend um Ground Zero verkehrstechnisch gut erschlossen sei. So soll ein neuer Busbahnhof verbunden werden mit der Untergrundbahn sowie Nahverkehrszügen, welche die Passagiere von New York nach New Jersey sowie nahtlos zu den Flughäfen JFK und Newark bringen.

Libeskind hat auch hier seine Hand im Spiel. Zumindest kündigte dies die Port Authority an, die den Terminal kontrollieren wird. «Wir überlegen uns, Libeskind mit dem Design zu betrauen», sagt Seymour, ohne sich allerdings festzulegen. Zumal noch offen ist, wer das teure Projekt überhaupt bezahlt – und Libeskind bisher keinerlei Erfahrungen mit Bahnhöfen hat.

Nicht nur die Kosten für den Transit-Hub, sondern für das gesamte Projekt wirft mehr Fragen auf, als dass Antworten vorlägen. Die USA erleben ihre schlimmste fiskalische Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Für aufwändige Bauten fehlt das Geld. Derzeit lobbyieren die beiden New Yorker Senatoren Hillary Clinton und Charles Schumer in Washington für Geld aus der Bundeskasse. Die ist wegen den Kriegskosten und Steuersenkungen leer.

Für Ground Zero existieren weder Budgets noch konkrete Schätzungen. Dafür kursiert die Idee, man könne für das Denkmal eine internationale Spendensammlung durchführen. Angesichts des grassierenden Anti-Amerikanismus’ ein Vorhaben mit geringen Chancen.

Gouverneur Pataki habe das Projekt von Libeskind vornehmlich gefördert, weil es für den Staat am preiswertesten sei, sagt ein Architket, der anonym bleiben will. Abgesehen von der Gedenkstätte und dem geplanten Museum wird die öffentliche Hand nämlich kaum etwas bezahlen müssen. Libeskinds Konkurrent Vinoly setzte auf einen höheren Anteil nichtkommerzieller Gebäude, was die Kosten für die Stadt und den Staat vervielfacht hätte.

Abhanden kommen könnten überdies die Einnahmen der lokalen Ableger der nationalen Fernsehanstalten. Sie verloren am 11. September 2001 ihren Sendeturm. Eine Mehrheit der US-Fernseher empfängt ihre Programme nach wie vor per Antenne. Nahezu dreissig Jahre lang verbreitete das World Trade Center das Fernsehsignal. Nach 9/11 hat sich die Empfangsqualität rapide verschlechtert. «Wir würden gerne von Libeskinds Turm senden», sagte der Präsident der Metropolitan Television Alliance, Edward Grebow, der «New York Times». Aber nur, wenn der rasch genug fertig gestellt sei. In der Schublade der Fernsehleute liegt ein Projekt für einen 610 Meter hohen Sendemast in New Jersey. Sollte sich der Ground-Zero-Neubau verzögern, würden sich die Fernsehleute dort einrichten.

Auf mehr Mitsprache pochen die Familien der Opfer, die Anwohner sowie die Inhaber kleiner Geschäfte in Ground Zero Nähe. Sie treffen sich regelmässig mit Libeskind, der Port Authority und der LMDC.

Voll des Lobes für Libeskind zeigten sich die diversen Interessensvertreter an einem Donnerstagabend Ende März. Als einziger habe es der Architekt geschafft, die Tragweite der Tragödie zu fassen, sagte die Gattin eines getöteten Feuerwehrmannes. Sie bedankte sich bei Libeskind, dass er die Abdrücke der Zwillinge unbebaut lassen wolle. Danach stellte sie Forderungen. So müsse für die Familien der Verstorbenen ein separater, nur ihnen zugänglicher Ort der Andacht errichtet werden. Immerhin sei das für viele der einzige zugängliche Friedhof.

Nichts zu suchen hätte die geplante Busgarage direkt unterhalb der Badewanne. Die zu erwartenden fünf Millionen Ground-Zero-Pilger jährlich sollen mit Bussen in den Süden von Manhattan gekarrt werden. Die parkieren unter dem Boden, den einige «heilig» nennen. Dieses Vorhaben sei vorerst «auf Eis gelegt», versicherte LMDC-Präsident Rampe der Witwe.

Die Bewohner von Battery Park City, westlich von Ground Zero, befürchten, die Badewanne werde ein bereits vom World Trade Centers kreiertes Problem nur noch verschärfen: man bleibe vom Rest der Stadt abgeschnitten.

Zu lange dauere es, bis etwas passiere, monieren währenddessen die Geschäftsbesitzer. Zudem müsse auf dem Gelände unbedingt eine wichtige kulturelle Institution eingerichtet werden. Sie allein könne sicher stellen, dass die Gegend abends lebendig bleibt. «Wir führen Verhandlungen», sagt Rampe. Die Art der dargebotenen Kultur bestimme dann die Art des Baus. Libeskind reagiert gelassen: «Ich passe mich den Umständen an.»