Artenschutz für ein Handwerk

Luxusuhren finden in den USA reissenden Absatz. Aber es gibt kaum noch Menschen, die diese reparieren und warten können. Darum bildet Rolex in der amerikanischen Provinz Uhrmacher aus.

Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)

Das Universum der angehenden Uhrmacherin umfasst eine Fläche von 736 Quadratzentimetern, ist 32 Zentimeter lang und 23 breit. Platz findet auf der haudünnen Gummimatte alles, was Brigitte DeGroff für ihren Beruf benötigt – das gerade mal Briefmarken grosse mechanische Uhrwerk, ein fein gewobenes Stahlkörbchen, gefüllt mit winzigen Ersatzteilen, Schräubchen und Federn, dazu ein paar schmale Präzisionswerkzeuge.

Setzt sie ihre Lupe aufs rechte Auge, taucht sie ab in eine Miniaturwelt, in der alles richtig tickt und Fehler verboten sind. DeGroff, 24-jährig, die Haut blass, das Haar lang und blond, erkundet das verästelte Innenleben einer mechanischen Uhr Made in Switzerland. «Ich liebe Uhren», sagt die ehemalige Kunststudentin, «vor allem deren Form und deren Töne. Es sind wunderschöne Objekte.» Schöner noch sei es allerdings, «wenn Du es schaffst, etwas derart Komplexes wieder fehlerlos zum Laufen zu bringen.»

Genau das lernt Brigitte DeGroff derzeit in Lititz, im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die in eine sanfte, saftig grüne Hügellandschaft eingebettete Stadt ist drei Autostunden von New York entfernt und liegt mitten im ländlichen Gebiet, das einst die protestantischen europäischen Sekten der Amischen, der Mennoniten und Herrenhüter besiedelt hatten.

Anfang September 2001 eröffnete der schweizerische Luxusuhrenfabrikant Rolex am Stadtrand von Lititz, gegenüber dem lokalen Gebrauchtwarenhändler, eine Schule für Uhrmacher, das Lititz Watch Technicum. Alljährlich startet hier ein zweijähriger Lehrgang, bei dem jeweils zwölf Schülerinnen und Schüler zu vollwertigen Uhrentechnikern getrimmt werden. «Nach Abschluss des Kurses müssen sie in der Lage sein, alle hochwertigen Chronometer zu warten und zu reparieren», sagt der deutsche Rektor des Technicums, Hermann Mayer.

Schulgeld verlangt Rolex keines. Bloss die Spezialwerkzeuge für rund zwei Tausend Dollar bezahlen die Studierenden selbst. Die Schule wird von einer Non-Profit-Stiftung getragen, die Rolex extra gegründet hat und jährlich mit 250000 Dollar speist. Mit demselben Betrag unterstützt die Firma eine ähnliche Schule am North Seattle Community College im Nordwesten Amerikas. «Wir investieren in die Zukunft», sagt Mayer. Gänzlich uneigennützig agiert das in Genf beheimatete globale Unternehmen allerdings nicht. Weil die Branche dringend eine Blutauffrischung nötig hat, investiert Rolex kräftig in die Ausbildung, weltweit. So geht im nächsten Jahr auch in Tokio eine Rolex-Schule auf.

An geradezu akutem Uhrmachermangel leiden die USA. Während sich exklusive Zeitmesser nach wie vor bestens verkaufen, fehlt es an Leuten, die sie Art gerecht flicken und instand halten können. Besonders in Amerika, dem wichtigsten Absatzmarkt der Schweizer Uhrenindustrie. Seit bald zwei Jahrzehnten fehlt hier eine heimische Industrie, die den Nachwuchs fördern könnte. Bei nahezu sechzig Jahren liegt mittlerweile das durchschnittliche Alter hiesiger Uhrmacher.

Zu alt, um das boomende Geschäft mit dem nötigen Support zu versorgen. Die Not lässt sich einfach erklären. In den späten siebziger Jahren begannen automatische Quarzuhren vornehmlich aus Japan traditionelle mechanische Uhren zu verdrängen. Das dazugehörige traditionelle, seit Jahrhunderten wenig veränderte Handwerk drohte auszustreben.

Was der gross gewachsene Rektor Mayer frivol als «Quarzuhrenkrise» bezeichnet, traf den Berufstand mitten ins Herz. Firmen schlossen. Uhrmacher gingen stempeln. Das deutsche Arbeitsamt strich den Beruf aus dem Register. Dann erfand Nicolas Hayek die Swatch, scheffelte mit der Plastikuhr Milliarden – und rettete fast eigenhändig das alteingesessene Metier. Er kaufte etliche Firmen auf und produziert mittlerweile 99 Prozent aller Uhrwerke, auch jene für die Luxusuhren. «Heute ist der Bedarf an Uhrmachern geradezu überwältigend», sagt der 36-jährige Mayer. «Nun müssen wir die verloren Jahrgänge rasch auffüllen.»

Ein Unterfangen in kleinen Schritten. Trotz Notstand ist das Technicum eine bescheidene Lehrstätte. Gerade mal ein Dutzend Uhrmacher wird jährlich ausgebildet.
«Die Uhrmacherei ist schwierig zu lernen und schwierig zu unterrichten», sagt Mark Jones, einer der bloss drei vollamtlichen Instruktoren in Lititz. Wie alle seine Kollegen trägt er unter der einem langen Arztkittel ähnelnden Schürze eine schlichte Krawatte. Er gleicht einem Beamten, vergleicht sich aber mit einem Artenschützer im Amazonas. «Wir versuchen, eine vom Aussterben bedrohte Tierart im letzten Moment zu retten.» Das brauche viel Geduld – und viel Ruhe.

Eine schalldichte Glaswand teilt die beiden Klassenzimmer, die wie eine Mischung aus Operationssaal und Werkstatt aussehen. Pikefein geputzt. Jeder der in Vierergruppen angeordneten neuen Tische in bester Verfassung, versehen mit einem Amboss, einer grellen Lampe, einem Hochdruckschlauch, der den feinen Staub wegbläst, sowie diversen Werkzeuge, die alle einen zugewiesenen Platz zu haben scheinen. Die meisten Utensilien stammen aus der Schweiz: die Möbel von Lista und USM, sämtliche präzisen Uhrmacherwerkzeuge. Dazu die Hochdruckmaschine, die testen kann, ob eine Uhr wasserdicht ist. «Das Technicum sieht aus, als ob es direkt aus der perfekten Schweiz herausgerissen und ins hiesige Kuhland verpflanzt worden wäre», sagt Ron Landberg, mit 38 der älteste Schüler.

Er sitzt im östlichen Zimmer der Fortgeschrittenen. Hier tragen die werdenden Uhrmacher weisse Schürzen mit der Aufschrift «Lititz Watch Technicum». Drüben, hinter der Glaswand, sitzen die Frischlinge. Sie haben den zweijährigen Lehrgang erst im September aufgenommen. Der Klassenunterschied wird betont – die neuen tragen erdfarbene Kittel.

Weit mehr noch unterscheiden sich die beiden Schulräume in der Tonlage. Laut und schnell sprechen die Schüler des ersten Jahres. Sie feilen Messing- und Stahlklötze zu, polieren Zapfen und bohren Löcher. Einige rutschen nervös auf den Stühlen hin und her. Ruhig geworden, fast in sich gekehrt sind hingegen die erfahreneren Uhrmacher in spe.

Stundenlang sitzen sie da und bewegen kaum mehr als ihre mit feinen Gummihäuten verhüllten Finger. Es ist still, nur die Lüftung surrt. Das Reporterteam scheint unerwünscht. «Meine Frau sagt, ich bewege mich bloss noch in Zeitlupe», sagt Landberg, ein feingliedriger und besonnener Mann, das Haar und den Ziegenbart kurz geschnitten. «Die enorme Konzentration, die uns diese Tätigkeit ständig abverlangt, stellt einem relativ rasch ruhig.»

Hinzu kommt der tägliche Frust. Ein minimaler Missgriff kann das Werk vieler Stunden zunichte machen. Gute Uhrmacher seien daher in der Lage, einiges wegzustecken, sagt Rektor Mayer, der seine Kollegen als «still, introvertiert und zuweilen eigenbrötlerisch» beschreibt.

Eigenschaften, die man in Lititz einfach findet. Das 8000 Einwohner zählende Kaff, mit siebzehn unterschiedlichen christlichen Kirchen zwar keineswegs Gott vergessen, liegt weit ab der grossen Zentren. In der Luft der von Silos übersäten Region hängt der Duft frischen Kuhmists. Traditionell wachsen die begabtesten Uhrenflicker hinter den Wäldern und in engen Tälern auf, etwa im jurassischen Vallé de Joux oder den entlegenden, dunklen Ecken Finnlands. Und im nach einer böhmischen Stadt benannten Lititz. Abends ist hier niemand auf den Strassen. Die Restaurants schliessen früh. Nicht selten hält eine schwarze Kutsche der Amischen den Verkehr auf.

Deshalb verfügt die Region über eine reiche Uhrmachertradition. Europäische Einwanderer begründeten im benachbarten Lancaster einst die Hamilton Watch Company; sie gehört heute zu Swatch. Unweit von Lititz stellt zudem ein Museum rund 12000 historische Uhren aus.

Im Umkreis von bloss fünfzig Meilen suchte deshalb das Technicum mit Hilfe von Radiospots und Inseraten Schüler für die erste Klasse. 150 bewarben sich, zwölf bestanden Aufnahmegespräch und -prüfung. Nicht fixfertige Handwerker, lernfähige Kreative hatten beste Chancen. Eine einzige praktische Prüfung mussten sie bestehen: einen krummen Nagel flach abschleifen, damit der alleine steht.

«Ich suche Leute, die Anweisungen ausführen können», sagt Mayer, der Rektor, der zuerst ein Studium in deutscher Literaturwissenschaft abgeschlossen und erst dann Uhrmacher gelernt hatte. Die Schule obliege den «sehr strengen» Anforderungen des Watchmakers of Switzerland Training and Education Program (WOSTEP), dem offiziellen Lehrgang der stolzen Schweizer Berufsgattung.

Nach 3000 theoretischen und praktischen Schulstunden, so das WOSTEP-Pflichtenheft, werden die Schüler zu vollwertigen Uhrmachern, die keinerlei Fehler tolerieren. «Es geht hier manchmal etwas militärisch zu», sagt Mayer, der zugibt, «auch ein paar schwache Schüler» zu unterrichten. Wer den Anforderungen nicht genügt, muss gehen. Nach dem ersten Jahr gingen vier. «Beim hohen Standard gehen wir keine Kompromisse ein.»

Der Toleranzbereich liegt bei 5/1000 eines Millimeters, achtmal feiner als ein Menschenhaar. Nicht Maschinen, allein die primären Sinne, das menschliche Auge und die Hände erreichen solche Genauigkeit. Gefragt sind deshalb Schüler mit reichlich taktischem Feingefühl, die logisch, analytisch und visuell denken sowie komplexe Probleme lösen könnten. Zudem brauche es den Hang zur absoluten Perfektion, die Liebe zum Detail und «allerhöchste Berufsethik», sagt Mayer.

Zuweilen wie ein Arzt fühlt sich Instruktor Mark Jones, 41, der beim WOSTEP-Hauptsitz in Neuenburg mehrere Lehrgänge absolviert hat. «Die defekten Uhren sind meine Patienten», sagt er. Bevor er operiere, erstelle er die Diagnose und finde im Uhrenkörper kranke Teile. Wie die Menschen weise jede Uhr individuelle Züge auf. Sogar hinsichtlich der Geschlechter würden sie sich unterscheiden. Bei der Reparatur der etwas klobigeren Männeruhren tauchten andere Probleme auf als bei grazileren Frauenuhren.

Flickt Jones eine Uhr, verfahre er ähnlich behutsam wie ein Chirurg, der zertrennte Nerven verbindet. «Nicht selten halte ich den Atem eine Weile lang an», sagt er. Damit stoppe er unkontrollierbare Bewegungen. Schülerin DeGroff verzichtet deshalb auf Koffein. «Es ist schon hart, dem Duft frisch gebrauten Kaffees zu widerstehen.» Sie könne es sich aber «schlicht nicht leisten», mit zittrigen Fingern an die Werkbank zu treten. Uhrmacher werden oft sehr alt. Wohl auch, weil Kaffeetrinker, Pillenschlucker und Alkoholiker hier nichts verloren haben.

Dafür die ewigen Bastelbuben. Seit er sich erinnern kann, zerlegt Jason Behney, 27, grosse wie kleine Maschinen, die er dann just wieder zusammenbaut. Vornehmlich die rosige Zukunft hätten ihn jedoch dazu bewogen, am Technicum zu studieren. Zuvor be- und entlud er Passagierjets. Nach den Terrorattacken vom 11. September verlor er den Job, war monatelang arbeitslos. Selbst ein wirtschaftlicher Niedergang dürfte hingegen die beruflichen Aussichten seiner Zunft nicht so rasch trüben. «Wer Uhrmacher wird, hat immer Arbeit», sagt Mayer. Die meisten Qualitätsuhren halten Generationen und benötigen regelmässige Wartung. Überdies hilft Rolex bei der Jobsuche.

Vorerst nähert sich Behney noch den Materialien an. Im ersten Jahr lernen die US-Schüler die metrischen Masse und befassen sich hauptsächlich mit Feinmechanik. In monotonen Übungen bearbeiten sie Holz, dann Messing und Stahl, die beiden wichtigsten Materialien der Uhrmacherei. «Bis zum Umfallen», sagt Mayer, drehen die Schüler Zapfen. Stetig kleiner werden die zu lösenden Aufgaben. Ebenso stetig schrumpft der Toleranzbereich, der über bestanden oder durchgefallen entscheidet. Ein präziser Massstab allein legt die Qualität fest. Anfänglich in Zehntelmillimetern misst der dritte Lehrer, Michael Pahl, später in Hundertstel, am Schluss nur noch in Tausendsteln.

Eine Universität will das Technicum nicht sein. Theorie werde nur vermittelt, wenn sie die Praxis beeinflusse. Als eine «Auswahl unterschiedlicher feiner Winkel» vereinfacht Jones die Uhrmacherei. Genau das würde im ersten Schuljahr am Technicum endlos geübt. Besonders begabte Schüler schaffen es in dieser Zeit, ein eigenes Uhrwerk zu fertigen. Die etwas langsameren stellen einzelne Bestandteile davon her und fügen sie mit bestehenden Teilen eines Standarduhrwerks zusammen. «Zuerst fördern wir die Kreativität», begründet Mayer die Bastelei. «Was folgt, ist eintönig genug.»

Im zweiten Jahr legen die Studierenden die weisse Schürze an. Die sieht etwas adretter aus. Zudem finden sie die winzigen Schrauben und Federn aus gelblichem Messing besser, die sich auf dem weissen Stoff verirren. Fast ein Jahr lang wird nun auf kleinstem Raum repariert.

Zur Krönung folgt das achtstündige Schlussexamen. Gänzlich zerlegen und wieder zusammensetzen, reinigen und schmieren müssen die Prüflinge in dieser Zeit ein mit Fehlern gespicktes Uhrwerk.

Wert legt Mayer aufs Etikett. Künftig werden die Uhrmacher Zeitmesser im Wert von über hunderttausend Franken reparieren. Um das Bewusstsein für den Luxus zu schärfen, käme in Lititz überall bloss das beste zum Zuge: bei der aufwändigen Architektur des Gebäudes, den edlen Baumaterialien – Schweizer Birnbaumholz, deutscher Zink fürs Dach, die Böden aus Brasilien – dem Design der Klassenzimmer oder den Werkzeugen. Protzt hier Rolex, die Firma des Prunks? «Es ist unmöglich, sich in einer drittklassigen Umgebung eine erstklassige Performance anzueignen», entgegnet Mayer.

Rolex bleibe ohnehin mehrheitlich im Hintergrund, sagt er, während und nach dem Lehrgang. Kein einziges Firmenschild ziert das einem Bauernhaus der Amischen nachempfundenen, von US-Architekt Michael Graves entworfene Gebäude des Technicums. Diskret schmückt das Logo der exklusiven Marke, das fünfzackige Krönchen, nur die Werkzeugschränke. Keiner der Schulabgänger verpflichtet sich, bei Rolex anzuheuern. «Wenn sie gut sind, wird Rolex sie nehmen», sagt der Rektor, «wenn sie woanders hingehen, wird keiner wütend.» Grundsätzlich anders wird die Arbeit kaum sein. Auch bei der Konkurrenz umfasst das Universum der Uhrmacher nicht mehr als 736 Quadratzentimeter.