Showdown in Schokotown

Erbitterter Widerstand steht den Einkaufsplänen des Schweizer Multis Nestlé entgegen: Das US-Städtchen Hershey wehrt sich gegen den Verkauf des Schokoladeunternehmens Hershey Foods. Die US-Schokoladestadt Hershey kämpft mit allen juristischen und moralischen Mitteln gegen Nestlé. Die Übernahme von Hershey Foods durch den Schweizer Multi bedeutet in den Augen der Bewohner nicht weniger als das Ende des Schokolade gewordenen amerikanischen Traums.

Von Peter Hossli

Ein beiläufiger Blick in die gepflegten Vorgärten genügt, und jeder weiss, es rumort im Paradies. Nicht nur weissrotblaue Sternenbanner, zusätzlich aufmüpfig beige Protestschilder zieren die putzigen Häuser in Hershey. Eingebettet in die sanften Hügelzüge Pennsylvanias, probt das 13000 Einwohner zählende Städtchen den Aufstand gegen die Globalisierung. «Stoppt den Verkauf», verlangt eines der an kurzen Holzstilen angehefteten Schilder. «Lasst die Schokolade in der Schokoladenstadt», fordert ein anderes. Oder: «Der Verkauf ist unamerikanisch».

Das süsse Sein ist bitter geworden. Die Hauptaktionärin des Schokoladenriesen Hershey Foods, eine gemeinnützige Stiftung, will das Traditionsunternehmen an den Meistbietenden abtreten. Das beste Angebot soll von Nestlé stammen.

Es wäre das «Ende des Traums», sagt Bruce McKinney, ein pensionierter Hershey-CEO. Der Traum vom ewig guten Leben begann vor 99 Jahren, als Milton S. Hershey, Sohn deutscher Einwanderer, ein Maisfeld mähen, darauf eine Schokoladenfabrik errichten und darum herum eine Stadt bauen liess. Weit gehend Sorgen frei hat man dort seither gelebt.

Beinahe ein Jahrhundert später hätten die Verkaufspläne einen «Feuersturm der Entrüstung» ausgelöst, sagt McKinney. «Bis auf die Knochen» reiche die Wut.
Pausenlos klingelt sein Telefon. Fein säuberlich notieren er und Gattin Sally die Namen und Nummern der vielen Anrufer. «Unsere Küche dient mittlerweile als Kriegszentrale», sagt McKinney, der ein Leben lang in Hershey lebte und jetzt zusammen mit anderen ehemaligen Managern den Widerstand organisiert. Mit «allen fairen, moralischen und juristischen Mitteln» würden die Friends of Hershey versuchen, den Verkauf zu stoppen.

«Alle machen mit», sagt McKinney. Tatsächlich liegen in sämtlichen Läden Flugblätter auf, auf denen die angeblichen Folgen des Verkaufs detailliert geschildert sind. Besorgte Bürger schalten Anzeigen in Zeitungen. Radio und Fernsehen treten dem Widerstand kostenlos Werbezeit ab. Vor ein paar Wochen kam es zur grossen Demonstration, der allerersten politischen Kundgebung in Hershey. Längst befassen sich die Gerichte mit den Verkaufsabsichten. Eingeschaltet hat sich der Gouverneur von Pennsylvania sowie beide Parteien. McKinney und seine Kollegen haben einen Bericht erstellt, in dem sie die negativen Auswirkungen für Firma wie Region darlegen.

Ihre Sorge gilt Hershey. Die Stadt ist Schokolade und sonst nichts. «Willkommen im süssesten Ort auf Erden», begrüsst ein Riesenplakat am Eingang der Stadt. Gleich dahinter ragen die Karamell farbenen Zwillingskamine der Schokoladenfabrik als Wahrzeichen in den Himmel. Die Hauptstrasse heisst Chocolate Avenue. Wo die sich mit der Cocoa Avenue kreuzt, liegt das Stadtzentrum. Nebenstrassen tragen die exotischen Namen von südamerikanischen oder afrikanischen Städten, von wo die Kakaobohnen nach Hershey gelangen.

Nachts leuchten grelle Laternen in der Glockenform von Hershey Kisses, dem bekanntesten, 95 Jahre alten Produkt der Firma. Touristen nächtigen im Chocolate Town Motel. An der Türe des hiesigen Bräunungsstudios prangt die Aufschrift «Cocao Tanning Salon». Liegt über der umliegenden Region der ländlich stechende Duft von abgestandenem Kuhmist, riecht die Luft von Hershey klebrig nach heisser Schokoladenmilch.

Aus ganz Amerika besuchen Touristen die Schoko-Achterbahnen im Freizeitpark neben der Fabrik. Dort spielen sie mit lebendigen Schokoriegeln aus Plüsch, in denen sich Animatoren abmühen. Kaufen in der Chocolate World ein. Bestaunen im Museum Hersheys Lebenswerk. Längst ist der Tourismus zum zweiten Standbein der Region geworden. Das drohe nun ebenfalls zu verfaulen. «Verschwindet die Fabrik», ist Kathleen Lewis überzeugt, kämen die Touristen nicht mehr hierher. «Das Tal stirbt.»

Zusammen mit Schwester Joanne leitet die weisshaarige Kathleen seit zehn Jahren die Historical Society und sammelt alles von und über Hershey. Als Kinder genossen die Geschwister die Annehmlichkeiten der reichen Stadt, das Schwimmbad, die guten Schulen, den überdurchschnittlichen Lohn des Vaters. Ein Leben lang hatten beiden nachher für den Schokolodenzar gearbeitet, mal in der Fabrik, mal als Hostessen für Firmenführungen. Schon die Eltern verdingten sich für «Mister Hershey», wie der Gründer nach wie vor ehrfürchtig genannt wird. «Mister Hershey schaute dazu, dass es allen gut ging.»

Mit einer Karamellfabrik in Lancaster verdiente der Patron sein erstes Geld. An der Weltausstellung von Chicago entdeckte er 1893 deutsche Maschinen, die preiswert Milchschokolade herstellten. Es befiehl ihn die lebenslange Obsession, das damalige Luxusgut für die Massen zu produzieren. 1903 errichtete der Philanthrop die erste Fabrik. Nicht in Mietskasernen wie bei den Manchester-Kapitalisten, in richtigen Häusern sollten die Arbeitern leben. Er liess architektonisch schön bauen und verkaufte kostengünstig ans Personal. Bald folgten ein Supermarkt, der Freizeitpark, ein mondänes Theater mit Kinoprojektion, ein riesiger öffentlicher Swimmingpool, sogar ein eigenes Tramsystem erhielt das kleine Kaff weit ab von den grossen Zentren.

Mitten in Amerika entstand so ein Paradies auf Erden, an dem selbst die grosse Depression spurlos vorüber zog. «Wir lasen davon, spürten sie aber nie», sagt Lewis. Antizyklisch liess der Schokoladenbaron nach dem Crash von 1929 ein Stadium, eine Eishockey-Arena sowie auf dem Hügel ein Hotel mit Aussicht errichten – Arbeit hatten in dieser Zeit alle.

Hershey gehörte alles. Hershey zahlte alles. Und Hershey regierte über alles. «Es war eine wohltätige Diktatur», sagt Lewis.

Etwas blieb Milton Hershey entsagt – der Kinderwunsch. Deshalb gründete er 1909 eine Schule für Waisen und Halbwaisen. Später übertrug er sein ganzes Vermögen dem Milton Hershey School Trust. Die Stiftung, reich begütert von den Schokoladenmilliarden, sollte das finanzielle Wohlergehen der Schule sichern – auf ewig. Selbst nachdem Hershey 1927 seine Firma an die Börse geführt hatte, behielt die Stiftung rund 30 Prozent der Kapitals, aber über dreiviertel der stimmberechtigten Aktien. In dieser bis heute anhaltenden Dominanz liegt jetzt die Krux.

Aufgeschreckt vom Kollaps angeblich gesunder Firmen wie WorldCom oder Enron entschloss sich der Trust Mitte Juli, das Portfolio zu diversifizieren. Zu riskant ist es in den Augen des Stiftungsrates, die Zukunft der Waisenschule zu 52 Prozent auf Hershey Foods zu stellen.

Ein Irrschluss, findet hingegen die Opposition. «Der Firma geht es blendend», sagt McKinney, der einst ebenfalls im Vorstand der Stiftung sass. «Hershey erzielt satte Gewinne, der Börsenkurs steigt stetig.» Abgesehen vom hohen Verkaufspreis, der jetzt zu lösen sei, mache es wirtschaftliche keinen Sinn, «den besten Wert im Portfolio abzustossen.» Längst bankrott wäre der Trust, hätte er vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt des Börsenbooms, diversifiziert. Schätzungsweise 12 Milliarden Dollar soll der Verkauf von Hershey einbringen. «Soll das viele Geld in Internet-Firmen fliessen?»

Überdies habe die Schule die Milliarden nicht nötigt, sagt McKinney, ein Halbwaise, der es vom Hershey Boy bis an die Spitze des Unternehmens geschafft hat. So hockt die am Südrand der Stadt gelegene Primarschule auf einem Stiftungskapital von beinahe sechs Milliarden Dollar. Pro Schüler kann sie allein vom Zinserlös jährlich 96000 ausgeben, weit mehr als die reichste Universität der USA, die Harvard University.

Wenn die Schule das Geld nicht braucht, warum denn der Verkauf? «Das weiss hier niemand», sagt Bruce Hummel, Presssprecher der Chocolate Workers Union, der Gewerkschaft. «Es ist die zweite Frage, die ich Gott stellen werde», sagt er, «die erste lautet, wer tötete JFK?»

Die angedrohte Übernahme hat nationale Sprengkraft. Hershey ist in den USA nicht minder bekannt und beliebt als Coca-Cola. Mit 42 Prozent Anteil ist das Unternehmen unangefochtener Marktführer im amerikanischen Zuckerwarengeschäft. Überregionale Zeitungen wie das «Wall Street Journal» oder die «Washington Post» haben auf ihren Titelseiten darüber berichtet, ebenso die nationalen Fernsehstationen. «Schreiben Sie ruhig, Nestlé sei hier nicht willkommen», sagt Hummel zum Schweizer Reporter.

Patriotismus spielt bei der Abwehr allerdings eine untergeordnete Rolle. Hershey soll nicht einfach amerikanische bleiben, Hershey soll in Hershey bleiben, lautet die Parole. Sorgen bereitet nicht die Herkunft eines möglichen neuen Eigners, eher die Branche. «Coca-Cola wäre uns lieber als Nestlé», sagt Ex-CEO McKinney.

Nicht, weil Coca-Cola in Atlanta zu Hause ist und Nestlé am Genfersee. Coca-Cola verkauft Getränke. Die Schweizer kennen sich im Süsswarengeschäft bestens aus, wüssten, wo Kosten zu sparen, Stellen zu streichen, Synergien zu nutzen wären. «Genau das hat Nestlé im Sinn», fürchtet McKinney, «ist ja klar.» Bestimmt geschehen wäre es um das teure Forschungszentrum in Hershey. «Nestlé hat ein eigenes und bräuchte unseres nicht mehr.» Coca-Cola hingegen wäre zumindest bis zum nächsten Verkauf auf das 100-jährige Know-how angewiesen.

«Wir mögen die Schokolode anders als die Europäer», sagt Lewis. «Uns schmeckt das Nestlé-Rezept nicht.» Damit meint sie nicht den höheren Kakao- und Milchgehalt in der Schweizer Schokolade, sondern das herbe Rezept der Globalsierer. 6500 Personen arbeiten in drei Fabriken in Hershey. Die ganze Region lebt davon. «Jeder Käufer würde die Firma aufteilen und zerstückeln», sagt Lewis. Dass das Modell der Einindustrie-Stadt passé geworden sei, akzeptiert sie nich. «Mister Hershey hätte anders entschieden», lautet ihr stärkstes Argument. «Er sah diese Stadt immer als Vorbild. Warum müssen wir uns der Welt anpassen? Sähe die Welt wie Hershey aus, würde es ihr bestimmt besser gehen.»

Gut geht es Hershey derzeit nicht. Die Angst geht um. Ausschliesslich Hershey-Angestellte essen in der Pizzeria Sorrentos zu Mittag. «Nein, wir sagen nichts», sagt eine junge Frau. Ein Hershey-Badge bammelt am schmalen Ledergurt. «Das Management untersagt es uns.» Ein Gruppe kräftiger Arbeiter, die beim Schichtwechsel von der Fabrik auf den Parkplatz schlendert, winkt ab. «No comment», die Verunsicherung ins Gesicht geschrieben. «Die Stimmung in der Stadt ist wie auf einer Achterbahn», sagt Gewerkschafter Hummel, je nach Nachrichtenlage sei sie mal «nahe am depressiven Tiefpunkt, dann wieder Himmel hoch jauchzend.» Jedoch, sagt Hummel, sei eine regelrechte «Welle der Solidarität» über die Stadt geschwappt.

Zuversicht regiert nach bald zweimonatigem Kampf. Keiner glaubt oder will glauben, dass der Trust am Schluss obsiegt und die Firma wirklich verkauft wird. Dabei klammert man sich mehr an einen Mythos denn an Fakten. «Das hier ist die typische amerikanische Geschichte», sagt Ex-CEO McKinney, «der Underdog wehrt sich gegen eine böse äussere Übermacht.» Er schmunzelt. «Am Schluss gewinnt der Underdog.» Trotzdem ändere der hart geführte Abwehrkampf die Stadt wohl für immer. «Wunden hinterlassen bleibende Narben.»