Über dem Hudson kreist der Pleitegeier

New York befindet sich in der schlimmsten Krise seit über einem Jahrzehnt. Die globale Wirtschaft erholt sich schneller von den Folgen des 11. Septembers als erwartet. Doch in New York droht ein Rückfall in die vergessen geglaubten Siebziger- und Achtzigerjahre. In der Metropole geht wieder das Bankrottgespenst um.

Von Peter Hossli

Flink taucht der junge, hagere Bursche den Schwamm in den dampfenden Kessel. Mit einem Wisch macht er die Frontscheibe des still stehenden weissen Lexus nass. Rasch zerrt er den Wischer zweimal von rechts nach links. Dann schaltet die Ampel auf Grün. Der Fahrer steckt dem Putzer einen Dollar zu und braust über den Broadway nach Westen.

Dreieinhalb Monate nach den Terrorattacken aufs World Trade Center ähnelt das neue New York dem alten und vergessen geglaubten New York der Siebziger- und Achtzigerjahre. Als Bürgermeister Rudolph Giuliani 1994 sein Amt antrat und der heruntergekommenen Stadt eine Blütezeit versprach, attackierte er zuallererst die Scheibenputzer. Sie waren ihm als Zeichen der sichtbaren Armut ein Dorn im Auge und mussten sofort weg.

Jetzt sind sie zurück – ein tristes Symbol für die arg geschundene Stadt. New York befinde sich in der schlimmsten Krise seit über einem Jahrzehnt, sagt der städtische Finanzminister Alan Hevesi.

Es kriselt allenthalben. Sichtbar wie unsichtbar. Verschwanden Obdachlose in den Neunzigerjahren zumindest aus dem Blickfeld, wachsen wieder Zelt- und Kartonschachtellager an der Fifth Avenue oder beim Fulton Fish Market. Notschlafstellen quellen über. Die Kleinkriminalität und die Mordrate, unter Giuliani kräftig zurückgegangen, nehmen nun stetig zu.

Die Kleinkriminalität blüht, Notschlafstellen quellen über

Mit «Early sale»-Schildern – frühem Ausverkauf – versuchten Geschäftsbesitzer in Downtown Manhattan bereits Wochen vor Weihnachten zögernde Kundschaft anzulocken. Füllten jeweils im Dezember ausgabefreudige Europäerinnen die Boutiquen in SoHo, so präsentiert sich das historische Einkaufsviertel heuer eher öde. New York gehört derzeit den New Yorkern. Es kamen zwölf Prozent weniger Touristen. Hunderte von Geschäften schlossen gänzlich. Hotels, obwohl wieder besser ausgelastet als im Oktober, senken die Preise. Luxusrestaurants – im Sommer ständig besetzt – manifestieren zur Freude der Gourmets die Deflation auf der Speisekarte. Man isst wieder preiswert gut.

Freude herrscht auch bei Wohnungssuchenden. In Tribeca, dem pittoresken Industriequartier, wo einst das World Trade Center stand, flattern etliche «For rent»-Fahnen. Schlanken Stellenanzeigern stehen gut gefüllte Wohnungsanzeiger gegenüber. Hausbesitzer offerieren beim Abschluss neuer Mietverträge bis zu zwei Monate Gratismiete. Viele Immobilienhändler prophezeien fürs kommende Jahr den Kollaps des Marktes. «Die Zeit ist reif zum Kaufen», sagt Makler Bruce Ehrmann. Im Zuge des Booms seien tausende von zusätzlichen Wohnungen erstellt worden. Der am 12. September erfolgte Exodus aus New York hätte das Spiel von Angebot und Nachfrage umgekippt. «Es ist ein Käufermarkt», so Ehrmann.

Zwar schätzen Ökonomen die wirtschaftliche Verfassung der Stadt robuster ein als während der Siebzigerjahre. Damals drohte New York der Bankrott.

Im kommenden Jahr droht ein ökonomisches Erdbeben

Baldige Besserung steht aber nicht an, im Gegenteil. 2002 droht zum ökonomischen Erdbeben zu werden, das weit über New Yorks Stadtgrenzen hinaus zu spüren sein wird. Gingen seit den Terroranschlägen allein in der Stadt 80’000 Stellen verloren, dürften nächstes Jahres nochmals 70’000 den blauen Brief erhalten. Pessimisten rechnen für 2002 mit einer städtischen Arbeitslosenquote von nahezu sieben Prozent.

Wuchs das Bruttostadtprodukt im Jahr 2000 noch um stolze 5,2 Prozent, prognostiziert Finanzminister Hevesi für 2002 einen markanten Rückgang von 3,1 Prozent. Die Attacken vom 11. September verursachten Kosten von insgesamt 105 Milliarden Dollar, berechnete er.

Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen nächstes Jahr um mindestens 7,1 Prozent. 2002 gelangen 1,3 Milliarden und 2003 sogar 3,6 Milliarden Dollar weniger in die Staatsschatulle, weil viele Zahler aus dem Finanzdistrikt ausziehen.

Die markant magerer ausgefallenen Bonifikationen der Wallstreet-Firmen, das Elixier New Yorks, sind besonders schmerzlich. Heuer werde einen Drittel weniger ausgeschüttet, errechnete der Finanzkämmerer des Staates New York, Carl McCall. Einige Firmen würden den Bonus sogar halbieren. Sorgen um die direkten Empfänger der Boni – die Bankiers und Investoren – muss sich niemand machen. Sie kaufen halt einen Mercedes weniger oder schenkten der Gattin einen kleineren Diamanten zu Weihnachten.

Wie konzentrische Wellen schlägt sich der Schnitt aber auf die lange Verdienstkette der Metropole nieder. Der Gärtner bekommt weniger, die Putzfrau, der Chauffeur, die Kellnerin.

Zwar arbeiten bloss fünf Prozent der New Yorker an der Wallstreet, sie beziehen aber 15 Prozent der besteuerten Einkommen. Ein Drittel der Löhne wird in Form von Boni ausbezahlt. Damit geht eine seit August 2000 anhaltende Entlassungswelle im Finanzsektor einher. Der 11. September verstärkte an der Wallstreet massiv den Abwärtstrend, den das Ende des Dotcom-Hypes und die landesweite Rezession ausgelöst hatten.

Der Broadway zwängt sich durch die engen Häuserschluchten zur Spitze Manhattans an der Wall Street vorbei. Erstmals seit dem 11. September bilden sich Schlangen im Battery Park. Die Fähren zur Freiheitsstatue und der Einwanderungsinsel Ellis Island sind erstmals wieder geöffnet – ein Lichtblick. So richtige Freude kommt bei den Touristen aber nicht auf. Als wärs ein Flughafen, müssen sie vor dem Besteigen des Schiffs durch Metalldetektoren gehen. Piepsts, tastet ein Bundesbeamte die Passagiere ab.

Welcome to the new New York.

Auswirkungen des 11. Septembers
Staatliche Kompensation: Für Angehörige der Opfer werden durchschnittlich 1,6 Millionen Dollar ausbezahlt – total etwa 6 Milliarden Dollar Steuergelder (privat gesammelte Gelder sind nicht eingeschlossen).

Minimale Kompensation: 300’000 Dollar für Angehörige von schlecht bezahlten, älteren Opfern.

Maximale Kompensation: 4,3 Millionen Dollar für Angehörige von Opfern, die 175’000 Dollar jährlich verdienten und zwei Kinder hatten.

Entlassene Personen: (in New York wegen der Auswirkungen des 11. Septembers) 97’600.

Mietreduktion: (in Battery Park City, einen Steinwurf weit vom World Trade Center entfernt) 30 Prozent.

Gesamtkosten des Anschlags für New York: 105 Milliarden Dollar.

Wachstumsrate für New York 2000: 5,2 Prozent.

Prognostizierte Wachstumsrate für New York 2002: -3,1 Prozent.

Anzahl Amerikaner, die wegen des 11. Septembers über Weihnachten und Neujahr nicht reisen: 8 Millionen.