Als ob die Stadt im Krieg wäre

«Mein New York ist seit Dienstagmorgen ausgelöscht. Wohl für immer», schreibt CASH-Korrespondent Peter Hossli. Er lebt seit drei Jahren in New York. Während der Attacken auf das World Trade Center befand er sich in unmittelbarer Nähe - ein Augenzeugenbericht.

Ein Flugzeug sei ins World Trade Center gedonnert, berichtet der norwegische Bürokollege. Wir stürmen auf die Strasse, an der Ecke 6. Avenue und 17. Strasse, vielleicht drei Kilometer vom brennenden World Trade Center entfernt. Hunderte stehen da, starren in schie- rer Verzweiflung gegen Süden, die Ohren am Autoradio, die Augen auf die lodernden Türme gerichtet. Kurz darauf knallt eine zweite Maschine in den anderen Turm. «Das darf nicht sein», sagt Lars, der Norweger. «Es muss Kino sein.»

Es ist echt. Und es kommt noch schlimmer. Wie bei einem massiven Vulkanausbruch fallen Süd- und Nordturm nacheinander in sich zusammen. Sind plötzlich weg. Ein enormer grauer Geröll- und Staubpilz durchschneidet den klaren Spätsommerhimmel. Schreie des Entsetzens. Viele knicken in sich zusammen, können nur noch weinen. Auch ich. Man sucht einen Menschen, jemanden, an dem man sich halten kann. An Tote wagt niemand zu denken. Niemand will schätzen, wie viele Leute gestorben sind.

Wo ist meine Freundin? Sie ist heute später zur Subway gegangen. Erreichen kann ich sie nicht. Mobil- wie Festnetz sind zusammengebrochen. Chaos regiert die Metropole. Das Interview, das ich um 11 Uhr mit einem Menschenrechtsaktivisten im Empire State Building hätte führen sollen, sage ich ab. Der Wolkenkratzer wird ohnehin evakuiert.

Knöcheltief liegt der Staub auf meinen Strassen. Mein Lieblingsstadtteil ist kaputt – so wie das so immens wichtige Gefühl, in einer sicheren Stadt zu wohnen.

Endlich, meine Freundin kommt telefonisch durch. Sie ist wohlauf. Gut geht es ihr nicht. Noch fehlt eine nahe Bekannte, eine Filmemacherin, die unweit vom World Trade Center wohnt. Lebt sie noch? Und ihr Sohn, ein exzellenter Stürmer, mit dem ich jeweils am Donnerstag in der Nähe des World Trade Center Fussball spiele?

Bereits gegen Dienstagmittag legt sich eine gespenstische Ruhe über die Stadt. Südlich der Canal Street hat das FBI alles abgeriegelt. Büros und Geschäfte nördlich des World Trade Center sind geschlossen, Schulen evakuiert. Im Fitnesszentrum nahe meines Büros ist eine erste Leichenhalle eingerichtet worden.

Am Fernsehen ist das stark beschädigte World Financial Center zu sehen. Es beherbergt die Redaktion des «Wall Street Journal» und liegt gegenüber den eingestürzten Zwillingen. Für eine Reportage über das Wirtschaftsblatt besuchte ich im vergangenen April die Redaktion, interviewte den Chefredaktor und etliche Reporter. Wie geht es ihnen, konnten sie sich retten? Das Haus brennt.

New York ist mehr als Wall Street und Wirtschaft. New York ist ein unglaublich beladenes Symbol. Wer es hier schafft, schafft es überall, sang etwa Sinatra. Eine Stadt, wo über 200 Nationen friedlich zusammen leben, sich respektieren. Wo stets Leute hinzogen, die sich nach echter Freiheit sehnten. Niemand schreibt einem hier etwas vor. Ein sicherer Ort auch, der stolz war, eine der niedrigsten Kriminalitätsraten unter den US-Grossstädten zu haben. Dieser einst grenzenlosen Freiheit wurden am 11. September brutal Grenzen gesetzt. Noch weiss ich nicht, ob ich weiterhin hier leben werde. Traurig, denn wer mich kennt, weiss: Ich liebe New York.

Gegen neun Uhr abends bin ich zu Hause, in Brooklyns Quartier Carroll Gardens, genau östlich der Zwillingstürme. Es schneit. Eine dünne Staubschicht liegt auf den Autos. Es sieht aus wie in einem Film über den nuklearen Winter. Schlafen kann ich nicht.

Surreal wirkt die Stadt am Day after. Südlich der 14. Strasse ist nun alles abgesperrt. Abgesehen von Polizeiwagen und Ambulanzen fahren keine Autos mehr, nicht einmal die gelben Taxis. Am Himmel kreisen Kampfflugzeuge. Der Flugzeugträger «USS George Washington» ist unterwegs. Als ob mitten in New York Krieg herrschen würde.

Zu spüren ist eine unglaubliche Solidarität unter den Leuten. Die New Yorker, sonst bekannt für ihren rüden Umgangston, sind weich geworden. Man hilft einander, stellt denen ein Bett zur Verfügung, die keins mehr haben, vermittelt Nachrichten. Ein US-Kollege weiss, dass sich aus den Trümmern noch am Mittwochmorgen Lebende mittels Mobiltelefon gemeldet hätten. Kurz kommt Hoffnung auf. Bis die Feuerwehr berichtet, neue Flammen stiegen auf. «Ich fürchte, die Leute verbrennen», sagt ein Polizist.