Noch liegt Phönix in der Asche

Ob New Yorks Financial District je wieder sein wird, was er war, ist zweifelhaft. Das Attentat auf das World Trade Center hat die Finanzwelt mitten ins Herz getroffen. Für lange Zeit dürfte New York seine Position als globale Kapitale des Geldhandels einbüssen. Es sei denn, die viel beschworene Unverdrossenheit der Stadt überrage das Desaster.

Von Peter Hossli

Die USA, das zeigt deren Geschichte, entwickeln stets dann eine geradezu bewundernswerte Vitalität, wenn das Land am ärgsten getroffen ist. «Klar, wir machen alle weiter», sagt der Aktienhändler Robert Jordan am Montagmorgen vor Börsenstart an der Wall Street. «The USA still stands», die USA steht noch, heisst es auf einem riesigen Transparent an der Flusspromenade in Brooklyn. Dort, von wo aus das World Trade Center vor dem 11. September stets am besten zu sehen war.

Dessen Zerstörung, lautet derzeit die emotionale Losung, werde man überwinden. «Wir müssen das Trade Center exakt so aufbauen, wie es war», verlangt Ed Koch, einst New Yorks Bürgermeister. «Die Baupläne existieren noch. Wir sind stark genug, um das zu leisten.»

Just unterstützten Politiker jeder Couleur Kochs Begehren. Forderungen nach einem «Marshall-Plan für New York» wurden laut. Die USA haben Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Es werde doch jetzt möglich sein, den angeschlagenen Financial District aus eigener Kraft wieder herzurichten. Zumal New York die globale Wirtschaftskapitale bleiben müsse.

Die Fakten sprechen eher dagegen. So halten Ingenieure den Wiederaufbau der 1973 fertig gestellten Zwillingstürme technisch für schwierig. Hinzu kommen emotionale Vorbehalte. «Wer will schon auf einem Friedhof arbeiten?», sagt eine Brokerin. «Wenige werden noch in Hochhäusern arbeiten wollen», sagt der Anwalt des New Yorker Financiers Carl Icahn, Yevgeny Fundler.

Schleunigst erstellte Wolkenkratzer genügen kaum, das südliche Manhattan und das dortige Finanzquartier mit seinen rund 14’000 Firmen wieder zu beleben. Der Exodus hat bereits begonnen. Überdies droht eine langfristige Stigmatisierung des bis vor kurzem blühenden und jetzt geschockten Quartiers. «Es ist absurd, hier zu arbeiten», sagt die Kellnerin des «Vine Market», des bei Aktienhändlern so beliebten Restaurants unweit der Börse.

Allein die CSFB verlor 180’000 Quadratmeter Büroraum

Schon Stunden nach dem Kollaps begannen etliche Firmen neue Bleiben zu suchen, viele ausserhalb New Yorks. Über zehn Prozent der Bürofläche in Downtown Manhattan wurde entweder ausgelöscht oder unbrauchbar verwüstet.

So verlor die CS First Boston 819 Arbeitsplätze und 180’000 Quadratmeter Bürofläche. Deren Pressesprecher Pen Pendelton gibt sich bedeckt. «Unsere Daten sind sicher», sagt er bloss, «das Back-up-System läuft einwandfrei.» Das obdachlose Personal sei an anderen Orten in der Region untergebracht worden. Über den finanziellen Schaden oder den genauen Standort der neuen Büros äussert sich Pendelton nicht. «Wir glauben nach wie vor an New York als Finanzkapitale der USA», sagt er noch. Von der Welt sagt er nichts.

Insgesamt sind 1,3 Millionen Quadratmeter betroffen. Noch liegen 1,25 Millionen Tonnen Schutt im russverschmierten Finanzdistrikt. In den ersten zehn Tagen konnten gerade 50’000 Tonnen weggeräumt werden. Kann im selben Tempo weitergearbeitet werden – was angesichts der Ressourcen und der Verkehrssituation zu bezweifeln ist -, dauern die Aufräumarbeiten rund neun Monate. Der Bau von dem WTC ebenbürtigen Türmen würde nochmals zwei Jahre beanspruchen.

Dabei erlangte Downtown erst in den letzten paar Jahren neues Ansehen. Wohlhabende Anwälte und Broker liessen sich in Lofts des einstigen Industriequartiers Tribeca nieder, dem mittlerweilen teuersten Wohnquartier Manhattans.

Glich die Gegend rund um die Wall Street zu Beginn der Neunzigerjahre jeweils nach Börsenschluss einer verwahrlosten Einöde, gingen in den letzten Jahren Feinschmeckerrestaurants und Nachtclubs auf. Der Finanzdistrikt stand plötzlich nicht mehr nur für Geld. Ein Dutzend Museen und ein Kino siedelten sich an. Den Höhepunkt der Revitalisierung wollte der Museumsgigant Guggenheim setzen: Am Ostende der Wall Street hatte Stararchitekt Frank Gehry im Sinn, eine Kunsthalle zu bauen. Terroristen haben diesen Prozess nun abrupt gestoppt.

Die Finanzwelt beklagt einen enormen Knowhow-Verlust

Der menschliche wie der intellektuelle Verlust sind erschütternd. Unter den womöglich 5500 Toten befanden sich etliche hoch talentierte Finanzanalysten mit Spezialwissen. «Abgesehen von der Tragik», sagt Finanzanwalt Fundler, «hat die Katastrophe ein enormes Loch in den Wissenspool der Stadt gerissen.» Es sei fraglich, ob die Stadt wie bisher ausländische Talente in Scharen anziehen könne. Viele Europäer denken laut an die Rückkehr und Amerikaner an den Wegzug nach Colorado oder Montana.

New York droht in einen Sicherheitswahn zu verfallen

An jeder Strassenecke könnten bald Überwachungskameras platziert werden, prophezeien Sicherheitsexperten. So genannte biometrische Software sei in der Lage, Gesichter von Passanten sofort mit Fahndungsbildern von Terroristen zu vergleichen. Die Polizeipräsenz werde massiv verstärkt. Um ein Haus zu betreten, müsse man strikte Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen. Am Montag patrouillierte die Nationalgarde vor der Börse. Personen, die in bedrohten Gebäuden arbeiten, werden künftig vor der Anstellung intensiv durchleuchtet werden – alles auf Kosten persönlicher Freiheiten.

Man solle New York deswegen nicht gänzlich abschreiben, glaubt Jurist Fundler. «Die US-Regierung wird extrem viel Geld investieren, um das Finanzzentrum wieder schön und leistungsfähig aufzubauen.» Statt zum Symbol der Apokalypse werde das arg geschüttelte Quartier vielleicht zum Symbol dessen, was New York stets gewesen sei, nämlich eine unverwüstliche und unverdrossene Metropole.

Tatsächlich überstand der Finanzdistrikt frühere Angriffe. Der erste fand vor achtzig Jahren statt, als Pferde eine mit Bomben beladene Kutsche vor die Bank Morgan an der Wall Street zogen. Bei der Explosion starben 38 Menschen, weit über 300 wurden verletzt. Die Tat blieb bis heute ungeklärt, man verdächtigte damals Anarchisten, die das Finanzwesen lahmlegen wollten – erfolglos.

So absurd es in Anbetracht der tausenden von Toten tönt: Derart langes Warten kann sich die Finanzwelt nicht leisten. Die ersten grossen Firmen ziehen bereits aus. Das «Wall Street Journal», journalistisches Symbol der potenten Finanzwelt, hat seine Redaktionsräume nach New Jersey verlegt. Andere ziehen in den Vorort Westchester oder nach Connecticut. Merrill Lynch, Citigroup und Morgan Stanley haben in New Jersey langfristige Mietverträge unterschrieben. Der Kreditkartenriese American Express und das Investmenthaus Lehman Brothers haben ihre neuen Büros bereits bezogen. Dieser Auszug kommt Stadt und Staat New York teuer zu stehen. Tausende von Arbeitsplätzen und Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar an Steuereinnahmen gehen verloren.