Querausstieg eines Seiteneinsteigers

Als Botschafter in den USA vertrat Alfred Defago die Schweiz während der Wirren der Holocaust-Debatte. Jetzt übernimmt er eine Professur im Mittleren Westen und schreibt ein Buch über das gespannte Verhältnis zwischen Europa und Amerika.

Von Peter Hossli

Gestreng und in Öl erstarrt blickt der bärtige Südstaaten-General Robert E. Lee in den Salon der Residenz. Das Bild gehört der «schweizerischen Eidgenossenschaft», steht auf dem schmalen Label am oberen, goldenen Rand. Sehr zur Freude des Hausherrn. Es passt zu den viktorianisch anmutenden Möbeln und dem behäbigen Interieur. «Ein gelungenes Porträt», sagt der abtretende Botschafter Alfred Defago, 58. Schwärmerisch schildert er dessen abenteuerliche Geschichte.

Er selbst habe das unter Kennern des Sezessionskriegs berühmte, 1869 von Frank Buchser geschaffene Gemälde nach Washington schicken lassen. Als Direktor des Bundesamtes für Kultur (BAK) holte Defago 1989 den Feldherrn aus einem staubigen Keller der Bundesverwaltung und erhob das Bild zum offiziellen Wandschmuck der wohl wichtigsten diplomatischen Gesandtschaft der Schweiz.

Gefreut habe es ihn schon, als er Jahre später dem Porträt erneut begegnete – nun als Botschafter. Regelmässig reisen inzwischen Lee-Kenner nach Washington, allein um Buchsers Lee zu beäugen. Als Gegengewicht hängt noch ein Buchser-Bild vom Nordstaaten-General William Tecumseh Sherman in der Schweizer Residenz. Das sorge stets für angeregte Gespräche.

Jetzt geht Defago. Die Generäle bleiben.

Die Koffer sind gepackt. Maler haben begonnen, die Wände neu zu streichen. Für die Schweiz geht eine sie enorm prägende diplomatische Epoche zu Ende. Weil es während des jahrelangen Streits um die nachrichtenlosen Konten in den USA mit der Kommunikation haperte, schickte der Bundesrat den Kommunikator Defago in die USA, zuerst als Konsul nach New York, dann als Botschafter in die Hauptstadt. Er sei ein Glücksfall für die Schweiz gewesen, lobt Ex-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat, der die Schweiz zuweilen heftig kritisiert hatte. «Defago versteht Amerika. Er versteht die jüdische Gemeinschaft. Er weiss, was für sie der Holocaust bedeutet. Gleichzeitig hat er sich stark für die Schweizer Interessen eingesetzt.» Es schmeichelt Defago, wenn er das hört.

Eine Diplomatenkarriere war nie geplant

Turnusgemäss verlässt er Washington, denn Schweizer Botschafter besetzen jeweils vier Jahre einen Posten. Eine Fortsetzung der jungen diplomatischen Karriere in einer anderen Hauptstadt sei nie vorgesehen gewesen, «ein Quereinsteiger muss auch ein Queraussteiger sein». Statt nach Rom oder Buenos Aires zieht Defago in den Mittleren Westen, in die Milch- und Käsekapitale Madison. An der als aufgeschlossen geltenden University of Wisconsin bekleidet er vorerst ein Jahr lang einen Lehrstuhl am Institut für Internationale Beziehungen. Neben dem Unterrichten wird er ein Buch über eines seiner Lieblingsthemen schreiben: das gespannte Verhältnis zwischen Europa und den USA. «Für einen Konservativen wie mich ist es eine Ehre, von einer so progressiven Schule geholt zu werden», scherzt er. Er steht dazu, konservativ zu sein.

Das Büro des Botschafters ist schweizerisch möbliert: USM-Regale, schwarze, weich gehockte Corbusier-Sessel. Neben den Sachbüchern steht ein Marmeladenglas, in dem eine Sennengruppe aus Ton eingepfercht ist. Ausserdem ist da ein Bild, das zeigt, wie Präsident Bill Clinton den Botschafter im Oval Office empfängt. An der Wand hängen – gerahmt und hinter Glas – eine Schweizer Fahne, die im Space Shuttle die Erde umkreiste, und ein Satellitenbild von Chur, das Defagos Heimat ist.

Das Spannungsfeld zwischen Europa und den USA sei gewachsen, sagt der promovierte Historiker, darüber schreibe er. «Nicht wirtschaftlich, sondern kulturell.» Amerika sei in den vergangenen zwanzig Jahren konservativer geworden. Im Übrigen habe sich die Bevölkerungsstruktur radikal verändert. Nicht mehr hauptsächlich die europäische, sondern zunehmend die asiatische und die lateinamerikanische Kultur prägen das Leben. Der europäische Einwanderungsstrom in die USA versiegte schon vor Jahren. In Europa sei das noch nicht realisiert worden. Dort gelte Amerika noch immer als Ableger Europas. «Zwar gibt es eine gewisse amerikanische Ignoranz gegenüber dem Rest der Welt», sagt Defago. «Allerdings ist auch die europäische Ignoranz gegenüber den USA nicht zu unterschätzen.»

In der Schweiz pflegten vornehmlich die Eliten, rechte wie linke, den Antiamerikanismus, «ohne das Land wirklich zu verstehen». Was er als europäische Arroganz bezeichnet, liege nahe bei der Ignoranz. «Wir können auf unsere alteingesessene und vielfältige Kultur stolz sein», sagt Defago. «Hier zu Lande gibts aber ebenfalls viele regionale, soziale und kulturelle Unterschiede.»

Defago bleibt auch als Ex-Botschafter diplomatisch

Er wird nicht konkreter. Erst müsse er seine Thesen überdenken und sie zusammen mit den Studierenden überprüfen. Natürlich spielt bei vielen Aussagen auch die fortgeschrittene «déformation professionnelle» mit. Der Diplomat windet die Sätze aus, redet oft in der dritten Person, glättet und streckt die eigenen Meinungen, greift selten an – obwohl er ja aus dem Amt ausgeschieden ist.

Defagos Karriere verläuft brüchig, jedoch stets bergwärts. Meist von aussen herangetragene Neuanfänge bestimmen den Rhythmus. Er liebe die Herausforderung, sagt er. Er geht darin auf, Probleme zu lösen, «Aufgaben zu erledigen», wie er sagt. An der Universität Bern promoviert der Germanist und Historiker in mittelalterlicher Geschichte. Bei Radio DRS erlernt er das journalistische Handwerk. Hörerinnen und Hörer des politischen Abendjournals «Echo der Zeit» schätzen die tiefe, radiotaugliche Stimme. Dank Eifer, Talent und vielen guten Beziehungen wird er Chefredaktor des Landessenders.

Der Bruch, der Abtritt vom Presse- und der Eintritt ins Politparkett, kommt «viel zu früh und völlig überraschend». Binnen 48 Stunden hatte er sich entscheiden müssen. «Heute schaue ich etwas nostalgisch auf die Zeit als Journalist zurück.» CVP-Parteifreund und Bundesrat Alphons Egli beruft den Kunstliebhaber und -kenner 1986 an die Spitze des Bundesamtes für Kultur (BAK), wo er sich den Ruf eines versierten Kommunikators und Reformers holt.

Im drögen Beamtenbern sind das allzu seltene Eigenschaften, die ein anderer Christdemokrat bald für sich beansprucht. Ein knappes Jahr parkiert ihn der Tessiner Flavio Cotti, der Egli als Chef des Departements des Innern nachfolgte, als Generalsekretär im Aussenamt, bis 1994 der Posten des Generalkonsuls in New York frei wird.

Zwar schreiben einige Medien von Abstieg oder Versetzung. Cotti und Defago hätten sich überworfen, wird gemunkelt. Doch endlich ist der Churer dort, wo er insgeheim schon lange hinwollte – in den USA, einem Land, das er mag, das er oft bereist, das er zu verstehen glaubt.

«Schreiben Sie ja nicht, ich sei ein «bekennender Amerikafan»», bittet er zu Beginn des Gesprächs. Das habe mal ein übereifriger Journalist unvorsichtig formuliert. Seither haftet es ihm an. Das Wort «Fan» verschmäht er. «Und «bekennend» bin ich nicht.» Viel eher fasziniert ihn der weite Raum in den USA, geografisch wie in den Köpfen der Leute. Seis in Europa eng, schätzt er die hiesige Weite. Zelte abzubrechen und woanders neu aufzubauen, das gefällt ihm. Der Ruhelose mag den Neubeginn.

Amerika fordert Defago wie nichts zuvor, zuerst als Konsul, dann als Botschafter in Washington. Mitte der Neunzigerjahre bröckelt das Bild der heilen Schweiz, blättert das strahlende Image der Alpenrepublik ab. Zu lange hockten Banker auf nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern und Politiker aufs Maul.

Jüdische Klagen legen eine unangenehme Vergangenheit zu Tage. Wachmann Christoph Meili rettet historische Dokumente aus dem Reisswolf der Bankgesellschaft. Die Schweiz habe den Zweiten Weltkrieg durch ihr Verhalten verlängert, schreibt zudem das offizielle Amerika. Statt Heidiland ist Switzerland nun das Rafferland.

Probleme bei der Kommunikation seien für das komplexe Malheur hauptsächlich verantwortlich gewesen, sagt Defago. Deshalb habe man ihn geholt, den konservativen Kommunikator. Insbesondere seien hier unterschiedliche Rechtskulturen frontal aufeinander geprallt. In der Schweiz denke beispielsweise niemand an aussergerichtliche Einigungen. «Deals empfindet man bei uns als unanständig.» In den USA ists die übliche und billigste Lösung bei der Beilegung von Zwists.

Natürlich habe das miese Verhandlungsklima die Debatten geprägt. Nicht zuletzt hätten die Medien das angeheizt, dies- und jenseits des Atlantiks. «Die Schweiz igelte sich zu Unrecht so lange ein, statt ruhig und gelassen zu agieren.»

Defagos Rezept waren kecke Eingeständnisse. «Wenn man zu Beginn einer Diskussion offen sagt, «ja, die Schweiz hat Fehler gemacht wie andere auch, einschliesslich der USA», ist es okay. Danach werden die schweizerischen Stärken und Leistungen anerkannt.» Ohne die Nerven zu verlieren, habe er die Fakten auf den Tisch gelegt.

Das Image der Schweiz sei wieder intakt – nicht trotz, auch dank den Banken. «Sobald das Geld gesprochen war, kehrte in den USA Ruhe ein.» Er räumt den Grossbanken Credit Suisse und UBS grosse Verdienste ein. Etwas spät zwar, aber im Endeffekt hätten die Banken mit ihrem Einlenken den Staat vor einer schweren innenpolitischen Krise bewahrt, da sie auch die Forderungen gegenüber Staat und Nationalbank beglichen. Es wäre nämlich unmöglich gewesen, Steuergelder für Reparationen einzusetzen. Die privaten Gelder hätten das geschickt verhindert. «Zwar sind die Banken wegen der Einigung kritisiert worden», sagt Defago, «im Nachhinein muss man ihnen für die glimpfliche Lösung dankbar sein.» Die Summe – 1,25 Milliarden Dollar – sei im Vergleich zu anderen Vergleichen ja nicht allzu hoch ausgefallen. «Wenn wir schneller reagiert hätten, wäre es wahrscheinlich billiger geworden. Insgesamt kam die Schweiz nicht schlecht weg.» Er persönlich auch nicht.

Defago scheint heute eher amerikanisch zu sein

Defago sah die Krise als Chance, das schwierige Amt als willkommene Herausforderung. «Ja, ich habe das gerne gemacht», sagt er, schränkt aber ein: «Das soll in Anbetracht der Geschichte des Zweiten Weltkriegs aber nicht zynisch tönen.» Viel eher seis ein persönlicher Höhepunkt gewesen. Stolz? Zumindest kokettiert er nicht damit. «Man zahlt uns ja dafür, in ausserordentlichen Situationen auch Ausserordentliches zu leisten.»

Das Polittheater in Washington wirkt nach. Defago scheint heute eher amerikanisch als schweizerisch zu sein. Er lernte, auf Grund von Fakten zu argumentieren und nicht emotional. Das war ein wichtiger Prozess für Defago, der Journalisten jahrelang öffentliche Kritik nicht verzieh. Politische Feinde können durchaus auch persönliche Freunde sein, erkannte er. So esse Antonin Scalia, der konservativste Bundesrichter, gelegentlich bei ihm mit Sandy Berger, dem liberalen ehemaligen Sicherheitsberater von Bill Clinton. Erreicht hat Defago, wonach er insgeheim wohl stets strebte: ein staatsmännisches Profil.

Was überraschend ist und gleichzeitig für den eigenwilligen Gusto spricht: Defago mag George W. Bush. Der abtretende Botschafter hält das neue amerikanische Kabinett für die «stärkste Regierung seit den Fünfzigerjahren». Sie sei erfahrener und reifer als die Crew von Bushs Vater, der Ende der Achtzigerjahre ins Weisse Haus einzog. Während eines längeren Gesprächs in der texanischen Hauptstadt Austin habe er in George W. einen guten und aufmerksamen Zuhörer kennen gelernt. Ungläubig stutzten Bekannte aus der Schweiz, wenn er sage, er würde Bush wählen.

Im nächsten Jahr wird er sechzig. Was will er noch erreichen? «Mehr Freizeit haben, etwas Grösseres schreiben und reisen», sagt er. Er wirkt zufrieden. «Mein Ehrgeiz ist nicht unstillbar.» Statt Rufen aus der Privatwirtschaft zu folgen, locke ihn das Intellektuelle.

Und das Geld, das Verwaltungsratsmandate abwerfen würden? «Ich hatte stets genug zum Leben. Ausserdem erleichterte eine Erbschaft vieles.» Ob er dereinst ins Bündnerland heimkehren werde, wisse er noch nicht. «Ich kann es mir sehr gut vorstellen, in den USA zu bleiben.»

Kultur und Politik
Alfred Defago wurde am 10. November 1942 in Chur geboren. An der Universität Bern studiert er Geschichte und Germanistik. 1971 promoviert er in mittelalterlicher Geschichte. Kurz darauf beginnt er bei Radio DRS eine journalistische Karriere. 1986 wird er Direktor des Bundesamtes für Kultur, 1993 Generalsekretär des Departements für Auswärtige Angelegenheiten. Ein Jahr später tritt er das Amt des Generalkonsuls von New York an. Nach dem abrupten Rücktritt von Botschafter Carlo Jagmetti – er beschrieb die Debatte um die nachrichtenlosen Gelder in einem internen Papier als «Krieg» – wird er 1997 Botschafter in Washington. Am 13. August übernimmt Christian Blickenstorfer den Posten als US-Gesandter. Defago ist kinderlos verheiratet.