Kisten in der Kiste

Mit 21 tötete Michael Mathie einen Menschen. Seither sitzt er hinter Gittern. Jetzt ist Mathie 33-jährig und Multimillionär, dank der Börse.

Von Peter Hossli (Text) und Yvon Baumann (Foto)

michael_mathie.gifDer bullige Wärter löst die Fuss- und Handschellen. Dann führt er den Gefangenen in den kargen Besuchsraum. «Hi», sagt Michael Mathie. Er ist bleich, die grünblauen Augen sind matt. Viel zu gross ist die Sträflingsmontur, beige Baumwollhosen und ein weisser Pullover. 2 X steht auf der Brust, die Kleidergrösse. «Ich allein bin schuld, dass ich hier bin», sagt der Häftling.

Michael Mathie tötete einen Sexualverbrecher, der ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Im Gefängnis wurde er selber vergewaltigt. Und wurde Multimillionär.

Sein mit Börsengeschäften erworbener Reichtum brachte Häftling Nummer 90T1282 auf die Titelseite der «New York Times». Und ins «Loch»: Kurz nach dem Artikel, der ihm über eine Nachrichtenagentur globalen Instant-Ruhm eintrug, wies das Gefängnisdepartement in seinem Urin Opiate nach und bestrafte ihn mit 18 Monaten Isolationshaft. «Man hat mich reingelegt», sagt Mathie, der als Teenager zwar Kokain schnupfte. «Heroin nahm ich nie.» Nun will er seine Unschuld beweisen.

Nicht zum ersten Mal hilft Mathie sich selbst. Seine Jugend in Nassau auf Long Island verläuft klassisch, eine typische Vorstadtgeschichte. An der Schule lernt er weder Lesen noch Schreiben. Der Vater, ein Polizist, säuft, prügelt und ist spielsüchtig. Die Mutter, eine Krankenschwester, mag ihn nicht heilen. Sie türmt. Michael ist 13 und flüchtet zuerst mit Marihuana, dann mit Kokain. Frühzeitig bricht er die Highschool ab. Er heuert als Trucker bei der Zügelfirma Mayflower an und chauffiert hölzerne Fertighäuser von der Ost- zur Westküste. Er kann wenig. Eine Zukunft hat er nicht.

1988 passiert Schreckliches. Der 49-jährige Paul Lamariana vergewaltigt die achtjährige Tochter von Mathies bestem Freund. Am Strassenrand findet die Polizei kurz darauf Lamarianas Leiche, in einen Plastiksack verpackt und eingerollt in ein Stück zerfetzten Teppich. Der Schädel ist zertrümmert, der Hals bläulich. Mathie gesteht, Lamariana mit einer Eisenstange geschlagen und mit einem elektrischen Kabel gewürgt zu haben. Die Jury entscheidet auf Totschlag. Der damals 21-Jährige fasst 30 Jahre.

Ein Häftling, der sich juristisch zu wehren weiss

Kaum im Gefängnis, wird er vom dortigen Sicherheitschef vergewaltigt. Erneut wehrt sich Mathie gegen einen Vergewaltiger – dieses Mal per Gesetz. Er verklagt den Staat New York auf Schadenersatz.

Einen Anwalt findet er nicht, niemand glaubt ihm. Minimal erscheint die Aussicht auf Erfolg. Nie zuvor hat in den USA ein Häftling vor Gericht in einem Fall von sexueller Nötigung Recht erhalten. Obwohl, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kürzlich nachwies, Vergewaltigungen in Gefängnissen alltäglich sind. Mathie holt die abgebrochene Highschool nach und lernt sämtliche Gesetzestexte, die ihm behilflich sind.

Sieben Jahre lang arbeitet er am eigenen Fall. Heuert Experten und Detektive an, schreibt Juristen und lokale Politiker an. Schliesslich entscheidet der Richter, dass der Staat New York Mathie 750’000 Dollar für emotionale Schäden bezahlen muss. Nach der Berufung bleibt eine halbe Million. Seine Familie erhält ein geräumiges Haus. 75’000 Dollar investiert er 1998 an der Börse. Inzwischen sind daraus acht Millionen geworden.

Jahre zuvor, 1994, hat das Nachrichtenmagazin «Time» eine Titelgeschichte über den Daten-Superhighway abgedruckt. Ihm ist klar: «Das Internet verändert alles.» Mathie eröffnet ein Spiel: Mit fiktiven 10’000 Dollar kauft er fiktiv Aktien realer Firmen. Über den imaginären Handel führt der Gefangene genau Buch. Nach neun Monaten hat er eine halbe Million beisammen. «Das kann nicht sein», glaubt Mathie und wirft die Konten weg. Ein Jahr später spielt er das Börsenspiel erneut, mit noch besserem Resultat. Nachdem er vor Gericht obsiegt hat, investiert er echtes Geld.

«Eine tolle Zeit», erinnert sich Mathie, dessen Vorfahren einst aus Österreich in die USA eingewandert waren. Der Dotcom-Boom und Neuemissionen treiben die Aktienkurse scheinbar ins Unermessliche. An gewissen Tagen werden aus 50’000 Dollar 250’000. Der Börsenvirus infiziert den Häftling so sehr wie den Rest der USA. Als «neue Droge» beschreibt Mathie die eigene Lust, an der Börse aus wenig möglichst schnell möglichst viel zu machen. «Wer am Markt handelt, geht Risiken ein. Blindlings nahm ich einst Kokain und tötete. Heute sind die Risiken kalkuliert. Daraus wird Geld.»

Er bezahlt viel mehr Steuern, als er den Staat kostet

Kein Gesetz kann ihn stoppen. Politikern, die verlangen, er müsse die Inhaftierungskosten tragen, schickt er seine Steuererklärung. «Ich koste den Staat jährlich 25’000 Dollar, bezahle aber eine Million Steuern.» Für Kost und Logis im staatlichen Zuchthaus von Auburn im Nordwesten des Staates New York käme er gerne auf – falls der Fiskus ihn entlaste.

«Haben Sie jemals im Internet gesurft?»

«Nein. Ich war nie online. Ich kenne das Internet, weil ich in Internetfirmen investiert habe.»

«Haben Sie je ein E-Mail verschickt?»

«Nein, auch keinen Fax.»

«Wie viel haben Sie mit Internetaktien verdient?»

«Acht Millionen Dollar.»

Berühren kann er das Geld nicht. Seiner Mutter aber lässt er Bares schicken. Die Schwester fährt eine Lincoln-Limousine. Sich selbst erfüllt er einen Bubentraum und bestellt bei Dodge einen schwarzen Viper, einen schnittigen, zweitürigen Sportwagen, der 170’000 Franken kostet und problemlos 300 Kilometer die Stunde schafft. Noch steht das teure Auto still. In einer Garage wartet es auf den Fahrer. An Mathies Zellenwand hängt ein Bild des Viper.

Jeweils um drei Uhr früh beginnt im Knast der Börsenalltag. Mathie guckt und hört Nachrichten, weiss frühzeitig, wie die asiatischen Handelsplätze schliessen und die europäischen eröffnen. Politik interessiert ihn, sie beeinträchtigt die Kurse. «Knallts im Nahen Osten, beben die Börsen in New York.» Er kennt die Welt, weil er darüber gelesen hat. Im «Wall Street Journal», in «Barron’s», der «New York Times», «Fortune», «Forbes» und «U. S. News & World Report». Kabelfernsehen empfängt er nicht, nur die alteingesessenen Sender: ABC, CBS, NBC.

Um 9 Uhr 20, kurz bevor der Handel an der Wallstreet startet, ruft er den Vater an und erteilt Aufträge. Der hockt am leistungsstarken Computer, den Sohn Michael gekauft hat, ist verbunden mit einem Onlinebroker, kauft und verkauft. Nie widerspreche er. «Mein Vater kann ja nicht mal ein Scheckbuch alleine führen», sagt der inhaftierte Junior.

Ein Börsenexperte, der hinter Gittern viel Geld verdient

Zwei Stunden nach dem ersten Auftrag ruft er zurück, überprüft die Kurse, handelt – falls er kann. Im Gefängnis wisse man nie, was passiere. Bei risikoreichen Investitionen setzt er deshalb Limiten. Ideal sei Bürodienst. Zehnmal täglich telefoniert er dann. Jetzt, da er in Isolationshaft sitzt, kann er das freilich nicht – so dealt er eben per Post.

Wie ein ausgebuffter Profi gestikuliert er, bespricht profund die globale Wirtschaft, kritisiert Präsident Bushs Steuerplan – «bringt kurzfristig wenig» -, analysiert das Businessmodell des Internetgrossisten Amazon.com – «wenig Chance, irgendwann Profit zu erzielen». Nein, die USA schlittern nicht in eine Rezession, sagt Mathie, allenfalls stehe eine Beschäftigungsrezession an. Rascher als vor zehn Jahren müsse nämlich heute die Wirtschaft wachsen, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Er rät, die Baisse zum Investieren zu nutzen. Bis Ende 2002 erreiche der Nasdaq eh die neue Rekordmarke von 6000 Punkten.

«In welche Sektoren investieren Sie?»

«Informations- und Biotechnologie, Rüstungs- und Energiefirmen. Bush rüstet kräftig auf. Bald steigen die Preise für Gas- und Elektrizität.»

«Gibt es Firmen, die Sie empfehlen?»

«Ich mag Yahoo. Yahoo finanzierte meinen Sportwagen, jetzt ist die Firma günstig, ein idealer Übernahmekandidat.»

«Wie ist es, reich zu sein?»

«Nicht aussergewöhnlich. Ich sagte, ich würde es schaffen. Für mich ist das keine grosse Überraschung. Alle sagten, ich könne es nicht. Denen habe ich das Gegenteil bewiesen.»

«Spenden Sie Geld?»

«Ich finanziere eine Schüler-zu-Schüler-Lerngruppe in New York. Das schmälert die Gewalt unter Jugendlichen. Aids-Organisationen überweise ich Geld.»

«Warum? Schulden Sie der Gesellschaft etwas?»

«Ich tötete. Das ist falsch. Egal, was der Ermordete gemacht hat. Niemand hat das Recht zu töten, ob das Opfer ein Broker oder ein Kindervergewaltiger ist.»

Mathie lässt sein Wissen anderen zugute kommen. So legt er Wärtern Pensionskassengelder Gewinn bringend an. Beliebt sind seine Aktientipps. Besticht er? «Die Aufseher geben mir nur, was legal ist. Ich respektiere das Gesetz.» Andere lehrt er, es zu nutzen. Einem Mitinsassen, der sagt, fälschlicherweise wegen Mordes zu sitzen, zahlt er die DNS-Analyse eines Haarbüschels. Im Todeskampf hatte eine Frau dem Mörder besagtes Haar ausgerissen. Nun soll Mathies Geld die Unschuld des lebenslänglich sitzenden Mannes beweisen. Um den noch freien Mörder eines Freundes zu fassen, setzte er ein Kopfgeld von 25’000 Dollar aus.

Gute Strafgefangene missfallen den Behörden

Solche Eigeninitiativen missfallen den Behörden. Helden darf es im Gefängnis keine geben. Oft wird er bestraft, schon 1999/2000 erhielt er insgesamt 12 Monate Einzelhaft aufgebrummt. Erstmals, nachdem die lokale Zeitung von Nassau über den Börsianer berichtete. Tags darauf hatte es Heroin in Mathies Urin. «Sie hassen meine Erfolge.» Entmutigen lässt er sich nicht. «Je mehr sie versuchen, mich zu brechen, desto stärker werde ich.» Sein amerikanischer Traum lebt hinter Gittern. «Alles können sie dir nehmen, das Haus, die Kleider, den Job. Der Wille zum Lernen bleibt», sagt er. «Damit erreichst du alles.» Was abgeschmackt klingt, macht er vor. «Wie Zombies» läsen viele Mitgefangene Comics statt Bücher. Niemand ermutige die Häftlinge zum Lernen. Stattdessen dröhnten sie sich mit Drogen zu.

«Sie sind reich. Auch glücklich?»

«Wegen des Mordes an Paul fühle ich mich schlecht. Ich fügte seiner und meiner Familie Schmerz zu. Ohne Mord wäre ich nie vergewaltigt worden.»

«Dann sind Sie schuld daran?»

«Viele Vergewaltigungsopfer beschuldigen sich selbst. Niemand kann mich vom Gegenteil überzeugen. Ich allein habe mich in den Knast gebracht.»

«Sie haben gemordet und sind vergewaltigt worden. Sind Sie Opfer oder Täter?»

«Überlebender. Ich bin kein Opfer.»

«Wenigstens hätten Sie jemanden, den Sie beschuldigen könnten.»

«Ja, Michael Mathie.»

Ende Juni empfängt ihn erstmals die Bewährungskommission. Seine Chancen stehen schlecht – obwohl sein Anstandsrapport tadellos ist. Isolationshäftlinge erhalten selten Bewährung. Ein unabhängiges Labor analysiert derzeit sein Haar auf Heroinspuren. «Ist nicht teuer, sechshundert Dollar.» Der Millionär kann es sich leisten, seine Unschuld zu beweisen.

Kaltstellen würden sie ihn, «weil US-Politiker gute Gefangene verschmähen». Leute wie er verhindern den Neubau zusätzlicher Zuchthäuser. In ländlichen Regionen würden so Stellen verloren gehen, ein blühender Wirtschaftszweig – die rasant wachsende Gefängnisindustrie – schrumpfe. «Zwar reden alle von Rehabilitation. Aber: Ökonomisch ist es nachteilig, Sträflinge zu rehabilitieren.» Mathie sagt von sich, er sei rehabilitiert. Der Handel mit Aktien habe ihn stabilisiert und vom Vergewaltigungstrauma befreit.

Wenn sie ihn gehen lassen, will er an der Columbia University Jus studieren und sich auf Kinderrecht spezialisieren. Und das viele Geld? «Es hilft, Träume zu verwirklichen.»

Dann legt der Wärter Millionär Mathie wieder in Ketten und führt ihn ab, zurück ins Loch.

Millionär im Loch

Michael Mathie, 33, wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem New Yorker Vorort auf. Die Highschool brach er ab. Mit 21 Jahren rächte er die achtjährige Tochter eines Freundes, die vergewaltigt worden war: Er brachte ihren Vergewaltiger um. Mathie wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Dort begann er mit Erfolg Börsengeschäfte zu tätigen, die ihn zum Multimillionär machten.�