Je dümmer, desto besser

Intellektuelle haben es in den USA schwer. Darum stellt sich Al Gore jetzt dumm. US-Präsidentschaftskandidat Al Gore kommt mit seiner Kompetenz schlecht an. In der Endrunde setzt er deshalb auf Nichtwissen und kopiert damit seinen Konkurrenten George W. Bush. Antiintellektualismus bestimmt jetzt die Präsidentschaftswahlen.

Von Peter Hossli

Al Gore hat ein Problem. Er weiss zu viel, und er ist zu gescheit. Er ist belesen, und er kennt sich bestens aus. Der amerikanische Vizepräsident überhäufe sein Wahlvolk mit Fakten und Fachwissen, mäkeln die Politauguren. Besonders überfordert hätte Gore das Publikum bei der ersten Fernsehdebatte mit Konkurrent George W. Bush. Hernach wurde er als Streber, Neunmalkluger und Besserwisser gescholten. Bush, der englischen Grammatik selten mächtig, spreche hingegen die simplere Sprache des Volks. In den täglich publizierten Umfragen sackte Al Gore nach dem misslungenen TV-Auftritt ab – weil er zu klug ist.

Karges Wissen und schlechte Schulnoten bringen Stimmen

Da Gore die Wahl am 7. November gewinnen will, stellt er sich seither dumm. Bei der zweiten Debatte wiederholte er in der Not mehrmals die Floskel «ich weiss es nicht». Er nannte keinen einzigen Präsidenten beim Namen und verzichtete auf steuermathematische Abrisse. Schliesslich forderte der Möchtegerntor den sichtlich überraschten Interviewer auf, die Liste der Krisenherde nochmals aufzuzählen, in denen die USA jüngst militärisch interveniert hatten – obwohl sich Gore aussenpolitisch wie sonst keiner auskennt.

Obs nützt, ist fraglich. Gore trifft auf einen harten Gegner, einen texanischen Gouverneur, dem karges Wissen übers globale Geschehen, schlechte Schulnoten sowie grammatikalische Fehlleistungen und geografische Verwechslungen Stimmen bringen. Nicht zuletzt deshalb werden dem Republikaner Bush beste Chancen eingeräumt, am Dienstag Nachfolger von Bill Clinton zu werden. Erstmals würde Amerika trotz wirtschaftlichem Hoch die Regierungspartei wechseln.

«Bald lenkt der dümmste Bürger des Landes das Land», klagt der New Yorker Schriftsteller Tom McKeney, «ich bin zutiefst davon betroffen, dass der Intellekt hier zu Lande mit Verachtung gestraft wird.» Das Motto dieser Wahl sei, «echte Kerle denken nicht», schrieb der Kolumnist Paul Krugman in der «New York Times». Dieselbe Zeitung konstatierte, Gore sei ins Hintertreffen geraten, weil er zu gescheit sei und obendrein sein Wissen öffentlich zeige. «Bush ermutigt Idioten wie mich, sich für politische Ämter zu bewerben», sagt der Erfinder der TV-Serie «Seinfeld», Larry David. Als «geradezu absurde Situation» beschreibt der TV-Komiker Jay Leno die amerikanische Aversion gegen alles Intellektuelle: «Wir leben im einzigen Land der Welt, das Gescheiten gegenüber extrem misstrauisch ist.» Bushs hemdsärmliges Gehabe gefalle. Der gebildete Gore gelte aber als Eierkopf, dem nicht zu trauen sei.

Tiefes Misstrauen gegenüber Wissenden verbreitete sich letztmals nach dem Vietnamkrieg. Militärs und Politiker gaben den demonstrierenden Studenten und ihren Professoren die Schuld am Debakel. Das Selbstbewusstsein des Landes schlitterte ins Tief – bis der einstige Schauspieler Ronald Reagan kam und mit flapsigen Sprüchen die hintersinnigen Grübler ins Abseits stellte. Nun fühlte sich das Land gut, obwohl der Lenker im Weissen Haus nur vorformulierte Sätze sprechen konnte, Länder verwechselte und das Leben als Nonstopfilm verstand.

Erstmals trat der Begriff «Antiintellektualismus» während der McCarthy-Ära der Fünfzigerjahre ins öffentliche Bewusstsein. Im Zuge der Kommunistenhatz wurde im Morgengrauen des Kalten Krieges ein Klima heraufbeschworen, das kritische Geister als eine mit dem roten Virus infizierte, in den Hafen der Freiheit einfahrende Gefahr darstellte. Gleichzeitig entbrannte während der Präsidentschaftskampagne von 1952 zwischen Adlai Stevenson, einem Politiker mit herausragendem Geist und scharfer Beobachtungsgabe, und Dwight D. Eisenhower, herkömmlich in Esprit und Artikulation, eine wüste Debatte um den Kontrast zwischen Intellekt und Spiessertum.

Nicht Denker, sondern Popstars gelten als «Great Americans»

Nach dem Wahlerfolg von Eisenhower konstatierte das US-Magazin «Time» ein «alarmierendes Faktum»: «Es besteht eine grosse und äusserst ungesunde Lücke zwischen dem intellektuellen Amerika und dem Volk.» Der amerikanische Intellektuelle Arthur Schlesinger stellte 1952 nach dem Sieg Eisenhowers fest, dass der Antiintellektualismus «lange Zeit der Antisemitismus der Wirtschaftsleute war». Intellektuelle, so der heute an der City University in New York lehrende Professor und einstige Kennedy-Berater, befänden sich analog der Jüdinnen und Juden in den USA ständig auf der Flucht.

Zu Beginn der Sechzigerjahre beschrieb der Historiker Richard Hofstadter in seinem in akademischen Kreisen zum Klassiker avancierten Buch «Anti-Intellectualism in American Life» die jeweils zyklisch auftretende, stark ablehnende Haltung der Amerikaner gegen den Scharfsinn. Hofstadter bezeichnet den Antiintellektualismus als «tiefgründiges Misstrauen dem Leben und dem Geist sowie jenen Menschen gegenüber, die beides repräsentieren». Nicht Denker, sondern die Popstars oder Sportheroen gelten daher als «Great Americans», schreibt er. In der US-Literatur oder im Kino werden antiintellektuelle Traditionen in regelmässigen Abständen wiederbelebt.

Die Wurzeln des Antiintellektualismus sieht Hofstadter im Ursprung der Nation. Die fast ausschliesslich aufs Prosperieren bedachten Gründer betrachteten Literatur und Lernen als «Privileg der unbrauchbaren Aristokratie». Deswegen, so der Autor, bleiben in den USA ernsthafte Probleme wie der Rassismus oder die dürftigen Schulen hartnäckig bestehen. Dies macht sich seit längerem die Polit-Dynastie Bush zu Nutze. So besuchte der damalige Vizepräsident George Bush vor dem Wahlkampf 1988 Sprachunterricht. Er lernte, fehlerhaft zu reden – und wurde prompt gewählt. Ungestraft nannte dessen Sohn George W. einen Reporter der «New York Times» ein «Riesenarschloch». Seine Anhänger jubelten.

Nur einer ist gescheit und trotzdem beliebt: der abtretende Präsident Bill Clinton. Er verbarg den beachtlichen Intellekt.