«Zerstörung ist ein Anfang»

Der amerikanischer Anarchist John Zerzan will in die Steinzeit.

Von Peter Hossli

zerzan_articleMr. Zerzan, sie gelten als intellektueller Anführer der anarchistischen Bewegung, die im vergangenen Dezember in Seattle das WTO-Treffen stoppte. Nächste Woche trifft sich der Internationale Währungsfond in Prag. Drohen dort erneut Krawalle?
John Zerzan: Anarchisten sprechen nicht über Pläne, und sie haben keine Anführer. Dann sind Sie der Guru, und die schwarz bewandeten Typen, die auf den Strassen randalieren, Ihre Jünger?
Zerzan: Anarchisten beenden den Unterschied zwischen Führern und Geführten. Mit meinen Texten habe ich höchstens dazu beigetragen, dass die Leute nachdenken.

Anarchie scheint als Gesellschaftsform illusorisch. Statt dessen formieren sich einflussreiche Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die der WTO oder der Weltbank auf die Finger gucken.
Zerzan: Da irren Sie sich. Zum ersten Mal seit den Sechziger Jahren gedeiht wieder eine radikale, schlagkräftige Widerstandsbewegung, auf lokaler und globaler Ebene. Sie ist komplett anarchistisch. Die Linke, die den Staat noch immer stärken will, hat ausgedient. Vermehrt verbreitet sich die Überzeugung, es reiche nicht mehr, die staatlichen Institutionen und Konsumkonglomerate humaner zu machen. Man muss sie loswerden. Nur so überwinden wir die ökologisch-menschliche Krise und schaffen die friedfertige Gesellschaft.

In Prag werden Ihnen die IMF-Herren entgegnen, es brauche die Globalisierung, um den armen Süden an den reichen Norden heranzuführen.
Zerzan: Globaler Handel schaltet die Kulturen gleich. Längst hat man im Süden erkannt, dass zusätzliche Shoppingmalls und Flughäfen nicht glücklicher machen. Weniger ist wirklich mehr.

Was ist denn Ihr Ziel?
Zerzan: Alles loszuwerden, die ganze Scheisse kaputt zu machen. Es gibt zuviele Formen der Unterdrückung. Die Entfremdung der Menschen ist enorm und überall spürbar. Wir müssens ausradieren.

Mit derart radikalen Ansichten verlieren Sie rasch die Gefolgschaft.
Zerzan: Der Zustand der Welt ist prekär – von der Erderwärmung bis zu unseren gestörten Psychen. Ein Alptraum. Dem widerspricht übrigens niemand, auch nicht die Machtelite. Deshalb gelten unsere Ansichten bald nicht mehr als extrem.

Vor Anarchie, vom Fehlen gesetzlicher Strukturen, schrecken viele zurück.
Zerzan: Falsch. Sie breitet sich weltweit aus. Der monatelange Streik an der Universität von Mexiko City war militant und anarchistisch. Der französische Bauernführer José Bové bewarf McDonald’s mit Steinen. Ironischerweise nimmt sogar die zeitgenössische Managementliteratur vermehrt anarchistische Haltungen ein – sie predigt, Hierarchien loszuwerden. Globalisierung ist anarchistisch: Die Firmen missachten Grenzen und Gesetze.

Anarchisten zerschlagen Fensterscheiben und zünden Autos an. Dem Image der Bewegung leisten Chaoten und Gewalt keinen guten Dienst.
Zerzan: Anarchismus hatte nie ein sehr hohes Ansehen. Aufhalten kann ich niemanden.

In den US-Medien werden die Aufwiegler von Seattle als Unruhestifter abgetan. Ernstgenommen werden bloss die NGOs.
Zerzan: Menschen im Widerstand wurden stets als Unruhestifter desavouiert. Auch jene, die sich gegen die Nazi-Herrschaft wehrten.

Sie wollen die heutige Situation doch nicht mit dem besetzten Europa vergleichen?
Zerzan: Täglich sterben hundert Tierarten aus. Die Ozeane darben. Die Klimakatastrophe schwellt. Fünzig Millionen Amerikaner schlucken Antidepressiva. Die Selbstmordrate schlägt aus. Sechs Millionen US-Kindern wird das Beruhigungsmittel Ritalin verschrieben, damit sie überhaupt die Schule aushalten. Väter ermorden sich am Rand der Felder, auf denen ihre Söhne Fussball spielen. Das ist vielleicht noch extremer als Nazi-Deutschland.

Umfragen zeigen aber, dass Amerika zufrieden ist.
Zerzan: Reine Selbsttäuschung. Niemand bestreitet, was ich eben aufgelistet habe. Der Glaube an die Institutionen – das Parlament, die Regierung, die Medien – ist minim geworden. Seit 1960 schrumpft die Wahlbeteiligung. Sie wird diesen Herbst noch geringer ausfallen. Bald geht niemand mehr an die Urne. Die repräsentative Demokratie löst sich auf.

Weniger militante Organisationen wollen die Demokratie stärken. Sie sehen die Einschränkung, nicht die Zerstörung der Aktivitäten der WTO, der Weltbank oder der NAFTA als realisierbaren Weg.
Zerzan: Das ist nur Kosmetik. Hierin unterscheiden sich die Widerstandströmungen. Die nach wie vor marxistisch geprägte Linie glaubt an Fortschritt mit Hilfe einer kontrollierten, harmloseren und Menschen freundlicheren Technologie. Wir sehen die Technologie als Kern des Problems.

Technologie ist doch Werte frei. Sie verursacht nur Schäden, wenn sie verantwortungslos eingesetzt wird.
Zerzan: Es spielt überhaupt keine Rolle, wer das Sagen hat. Technologie entfremdet immer. Sie ist die Verkörperung des standardisierten Systems.

Oft wissen Anarchisten zwar, wogegen sie kämpfen, jedoch ist ihnen selten klar, wofür. Ist das jetzt anders?
Zerzan: Wir wollen dezentralisierte Lebensformen, wo sich die Menschen wieder in die Augen schauen können und individuelle Räume finden. Wir primitiven Anarchisten sehen die Arbeitsteilung und die Landwirtschaft als Grundübel. Bevor sich die Menschen vor rund 12000 Jahren vom Jäger-und-Sammler-Dasein lösten, lebten sie friedlich, hatten genügend Freizeit und unterdrückten die Frauen nicht. Der Pflug brachte den Zerfall.

Sie wollen also zur Steinzeit zurück. Ohne effiziente Landwirte kann die Erdbevölkerung nicht ernährt werden. Müssen zuerst Milliarden verhungern?
Zerzan: Wenn wir die Autobahnen aufreissen, könnten alle genügend Nahrung in eignen Gärten ernten. Die heutigen Monokulturen sind nicht effizient. Neuste anthropologische Studien zeigen, dass die Landwirtschaft nicht eingeführt wurde, weil die Bevölkerung wuchs. Die Bevölkerung wuchs wegen der Agrikultur. Heute werden Kinder gezeugt, um eigenen Missmut zu überwinden, oder dann aus ökonomischer Not.

Warum radikalisiert sich der Widerstand gerade jetzt? Warum nicht in den repressiveren Achtzigern?
Zerzan: Nach einer herben Niederlage, wie jener der Sixties, dauerts eine Weile, bis die Leute zurückschlagen können. Die Achtziger endeten erst Mitte der Neunziger – mit der Verhaftung von Ted Kaczynski, dem so genannten Unabomber. Seine gezielten Bombenanschläge auf Repräsentanten des technolgischen Wahns beeindruckten und inspirierten manche. Ted machte öffentlich, was viele dachten. Ausserdem zeigte er die Verletzlichkeit des Systems. Ted stand am Anfang des neuen, nicht mehr linken Radikalismus.

Kaczynski tötete drei Menschen mit Briefbomben und verletzte 23. Solche Gewalt können Sie kaum rechtfertigen.
Zerzan: Eine schwierige Frage. Generell verschmähe ich das Töten von unschuldigen Menschen. Kaczynskis Opfer waren aber nicht unschuldig. Es waren alles Träger der Brave New World. Ted hat aus nackter Verzweiflung gehandelt. Verzweiflung ist keine gute Voraussetzung für Erfolg.

Sind Sie persönlich gewalttätig?
Zerzan: Niemand sollte öffentlich über seine Taten sprechen. Leider geniesse ich keine Anonymität mehr. Die Polizei überwacht mich. Nur so viel: Ich bin nicht bloss ein Autor, der die Risiken den anderen überlässt. Wer nicht kämpft verliert.

Sie wollen mit Krieg Frieden schaffen. Die Anarchisten zerlegten in Seattle McDonald’s- und Starbucks-Restaurants. Die waren eine Woche später wieder aufgebaut. Ihr Kampf scheint naiv.
Zerzan: Die zielgerichtete Zerstörung des privaten Besitzes ist der Anfang der Zerstückelung der industriellen Zivilisation. Das meinen wir wörtlich. Wir hauen die Sachen zusammen. Gewalt gegen Menschen ist das nicht. Die Bereitschaft zu handeln statt zu reden, verbreitet sich übrigens selbst bei gemässigten Gruppierungen.

Ted Kaczynski war konsequent. Er lebte zurückgezogen im Wald. Sie bewohnen ein Haus mitsamt Heizung, ihre Texte gibts bei Amazon.com. Predigen Sie Wasser und trinken Wein?
Zerzan: Ted war Mathematiker und interessierte sich nur kurz für sein Gebiet. Als Historiker suche ich die Nähe zur Zivilisation, die ich beschreibe. Ausserdem verfügt die University of Oregon über eine hervorragende Bibliothek.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?
Zerzan: Ich bin sehr zufrieden, und ich bin optimistisch. Bald schon kippt die Welt um.

Was macht Sie so sicher?
Zerzan: In den Sechzigern wurde ich politisiert. Damals keimte das unheimlich starke Gefühl, tiefgreifende Veränderung seien möglich. Das blieb bei mir hängen.

Jetzt romantisieren Sie eine kurzlebige Epoche, die nur einen bescheidenen sozialen Wandel hervorbrachte.
Zerzan: Weit kamen wir tatsächlich nicht, weder theoretisch noch praktisch. Heute inspirieren mich junge Leute, die zwar alle pessimistisch sind und nicht glauben, dass sie gewinnen – und trotzdem kämpfen sie. Manche Amtsträger oder Wirtschaftsführer würden erblassen, wenn sie wüssten, wie radikal die Jugendlichen eingestellt sind, und wie rasant die Bewegung wächst. Selbst Frauen schrecken vor Gewalt nicht mehr zurück.

Die meisten Anarchisten agieren anonym. Sie selbst treten im US-Fernsehen auf und reden mit der «New York Times». Ist das nicht ein Widerspruch zur harten Anti-Establishment-Linie?
Zerzan: Bestimmt. Oft werde ich dafür kritisiert. Ich nutze die Plattform der grossen Medien, um unsere Botschaft nach Iowa, Nebraska oder Illinois zu tragen. Dort liest keiner Untergrundmagazine. Ich bin mir bewusst, dass meine Aussagen oft stark redigiert werden. Die meisten können aber zwischen den Zeilen lesen. Leser sind nicht dumm.

John Zerzan, 56, gilt als intellektueller Kopf der anarchistischen Bewegung der USA. Er lebt in einem kargen Häuschen in Eugene, Oregon, dem Zentrum des radikalen Widerstands. Dort verfasst der melancholisch wirkende Autor Essays, in denen er das Jäger-und-Sammlertum preist. Um finanziell zu überleben, hütet er Kinder und jätet Unkraut. Hautnah erlebte Zerzan als Student während den Sechzigern das Aufbegehren in Berkeley mit. Spätere Konvertiten verabscheut er: «Säße ich heute im Chefsessel, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen.» Unabomber Ted Kaczynski rückte den unbekannten Zerzan 1995 in Rampenlicht. Beide teilen eine radikale Anti-Technologie-Haltung. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden die Anarchisten um Zerzan durch die Krawalle anläßlich des WTO-Gipfels in Seattle im Dezember 1999. Während zahlreiche Gruppierungen friedlich demonstrierten, richteten sie Sachschdden in Millionenhöhe an. Die US-Medien beschuldigten die Gruppe aus Eugene für das Scheitern des WTO-Gipfels. Zerzan wurde als deren Anführer bezeichnet. Beflügelt von der Medienaufmerksamkeit störten dieselben Anarchisten im April die Sitzung des Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank in Washington. Am Parteitag der Republikaner in Philadelphia brachten sie den Verkehr zum Erliegen. Über sechshundert Personen besuchten daruf das Anarchistentreffen während des Parteitages der Demokraten in Los Angeles.