Harlem in alter Grösse

Harlem erlebt zurzeit eine wundersame Renaissance: Aus dem New Yorker Schwarzen-Getto wird ein modernes, selbstbewusstes und friedliches Quartier.

Von Peter Hossli (Text) und Markus Bertschi (Foto)

basketball.gifFleckenlos die flächigen Fenster, schimmernd die stämmigen Stahlträger, vertraut das bunte Angebot: Unter dem Metalldach des neusten New Yorker Shoppingpalasts «Harlem U.S.A.» verkauft Disney Stofftiere; auf einer der neun Kinoleinwände verkörpert Mel Gibson den patriotischen Helden.

Ein dreistöckiger Konsumtempel in New York – an sich nichts besonders. Nur: Der moderne Glas-Stahl-Beton-Bau thront an der Ecke 125. Strasse und dem Frederick Douglas Boulevard, Mitten im Zentrum des jahrzehntelang als gefährlich und verrucht gegoltenen Schwarzen-Ghettos Harlem. Seit diesem Frühjahr scheffelt das 65 Millionen Dollar teure Prestigobjekt kräftig Geld in die einst ärmste Innenstadt der USA.

Sinnbildlich für das «neue Harlem» stehe das glitzernde Kaufhaus, sagt Terry Lane, Präsident und Manager der Upper Manhattan Empowerment Zone, einer staatlich finanzierten Investitionsgesellschaft. In seinem Büro am Malcom X Boulevard erhascht der schwarze Ex-Banker einen Blick der «Harlem U.S.A.»-Fassade. Dahinter trimmen im Fitnessclub gestresste schwarze Städter ihre Waden, in der neonfarbenen Cafébar palavern fidele Zeitvertreiberinnen. Der legendäre Basketballer Ervin «Magic» Johnson betreibt die Kinos. Modernes Stadtleben im abgewirtschaftesten Flecken Amerika. Wo vor kurzem Oltönnenfeuer loderten, sippen elegante Frauen bittere Esspressi – mit Harlem gehts aufwärts. Etwas verloren steht Joseph, ein Pensionär, der nur in Versen redet, vor der Mall. «Das alte Harlem gibts nicht mehr», dichtet er.

Mitinitiiert hat die unverhoffte Blüte der kräftig gebaute Terry Lane. Seit 1994 investiert er Steuergelder in Harlem. Sein Projekt, von Präsident Bill Clinton gestartet, ist mit 300 Millionen Dollar bestückt und ambitiös. «Wir lassen Harlem auferstehen», verspricht er.
Aufbruchsstimmung ist an allen Ecken spür- und erkennbar. Kaum eine Strasse in der nicht gebaut, geputzt, geschrubbt, renoviert, überdacht und unterkellert wird.

Wöchentlich berichten Zeitungen über die Einweihung von der Verslumung geretteter Strassenabschnitte, der Eröffnung eines Kindergarten, der Auferstehung eines abgetakelten Jazzclubs, eines Spielplatzes. In bläulichen Schwimmbädern, die einst als Müllhalden dienten, plantschen wieder Kinder. Ausgebrannte, leerstehende und zugemauerte Trümmerbuden werden gemäss ursprünglichen Plänen detailtreu aufgemöbelt. New York, der vitale und überlebenswillige Koloss, feiert einmal mehr eine Wiedergeburt – diesmal im vormals siechen Bezirk, den einst Holländer benamsten. Verschwunden sind die Crack-Babies in den Armen zerschlagener Kokainmütter. Schiesswütige Banden leben friedvoller denn je. Die Kriminalitätsrate sank in den Neunzigern um 80 Prozent. US-Rekord.

Fürs Auge ists ein Schmaus. Mächtig wölbt sich der Himmel Harlems, mächtiger als irgendwo sonst in Manhattan. Nicht enge und finstere Wolkenkratzerschluchten versperren den Blick zu den Wolken, niedrige viktorianische Backsteinhäuser aus dem 19. Jahrhundert säumen breite Avenues. Harlem hat das abhanden gekommene Gefühl alter Grösse wieder.

Der unverhoffte Boom reflektiert eine historische Wende: Endlich beteiligt Amerika seine Armen am Wohlstand. Zum ersten Mal nehmen Schwarze am bereits seit neun Jahren andauernden wirtschaftlichen Aufschwung teil. Nie waren mehr beschäftigt, nie waren deren Löhne höher und nie schlossen mehr zumindest die High School ab. Von einer «zweiten Harlem Renaissance» spricht deshalb die «New York Times». War die erste in den zwanziger Jahren kultureller Natur, so stellt ökonomischer Aufschwung ein Novum für die Wiege moderner schwarzer Kultur dar.

Prächtig florierte die zwischen 1923 und 1929. Literaten wie Langston Hughes oder Nora Zeal Hurston dichteten und lasen öffentlich im YMCA an der 135. Strasse, lange Zeit die einzige Herberge, die in New York Schwarze aufnahm. Duke Ellington jazzte. Bessie Smith’ Blues bezirzte im Alhambra Ballroom weisse Jazzfreunde. Ein schwarzer Regisseur – der sagenumworbene Oscar Micheaux – filmte von Hollywood unabhängig für segregierte Kinos im Süden. In Harlem wurde in den «roaring twenties» der Grundstein für all das gelegt, was heute als amerikanische Kultur gilt. Vergnügungssüchtige pilgerten in Scharen in die Oberstadt. Schwarze bewohnten herrschaftliche Häuser, die deutsche Juden um 1880 in Harlem errichteten und später stadtfluchtartig fürs Gärtchen in Suburbia eintauschten.

Dann krachte die Börse. Die Depression setzte allen, den Schwarzen besonders zu. Weisse kamen nur noch, weils in Harlem illegalen Schnaps gab. Als das Alkoholverbot 1933 aufgehoben wurde, tranken sie Downtown. Die meisten Kneipen schlossen. Wems gelang, zog weg. Zurück blieben Kriminelle, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger. Fortan galt die einstige «Weltmetropole der Neger» als globale Verbrecherhauptstadt, als gesellschaftliches Spiegelbild des von Rassismus und Ausgrenzung gepeinigten Amerika.

Crack zerfrass deren Rückgrat, Bandenkriege hielten selbst Schwarze vom Harlembesuch ab. «Drogen nahmen Harlem den Stolz», sagt Burroughs York, der grossgewachsene Marketingleiters des YMCA. Nirgends in den USA starben mehr Leute gewaltsam. Rund zwei Drittel aller Gebäude fielen der Stadt anheim. Weisse, hiess es, sollten keinen Fuss mehr dorthin setzen. Stadtpläne für Touristen hörten auf der 110. Strasse auf. Dort, wo Harlem beginnt. Vom Besuch der nebulösen Uptown rieten Reiseleiter dringendst ab.

Heute kommt an Harlem niemand mehr vorbei. Präsidentschaftskandidaten auf Stimmenfang – Bush wie Gore – besuchten das Schwarzenviertel merhmals. Bill Clinton war da, mitsamt Finanzminister und Schwarzenführer Jesse Jackson. Als «Vorbild hinsichtlich Revitalisierung» pries der US-Präsident den einstigen Verfallgürtel. Tatsächlich wurde bereits einiges erreicht. Vier Millionen Touristen karren rote Doppeldeckerbusse jährlich ins schwarze Faszinosum. Weisse fahren per U-Bahn sonntags in Kirchen zum Gospel. Junge hippe Hedonisten, die zuvor in SoHo oder TriBeca lustwandelten, entdecken trendige Nachtclubs. Als cool gilt, wer in Harlem feiert. Schwarz und Weiss vermischen sich auf Tanzflächen oder Barhockern. Sie horchen so genanntem Slam, eine Mischung aus Rap und Dichtung, essen Soulfood in Sylvia’s Restaurant und swingen durch die Nacht. «Wir haben viele schlechte Zeiten erlebt», sagt Sylvia Woods, die seit vierzig Jahren hier wirtet und Sylvia’s zum kulinarischen Zentrum Harlems kochte. Bei ihr essen Senatoren, Schauspielerinnen oder Jazzerinnen. Im September organisiert die 74-Jährige ein Wahlkampffest für First Lady Hillary Clinton. «So gut wie jetzt gings uns noch nie», sagt Woods. Nicht nur hier boomts. Der Hollywoodriese United Artist baut ein weiteres Multiplexkino. Seit vergangenen April hat Harlem, immerhin die 23. grösste US-Stadt, endlich einen Supermarkt. Das umsatzstärkste Medienunternehmen der Welt, Time Warner, kaufte sich ins sagenumwobene Apollo Theater ein. Dort wo einst Louis Armstrong trompetete und Duke Ellington der Untergrundbahn in «Take the A Train» huldigte, hat jetzt Bugs Bunny das Sagen.

Big Business und Globalisierung prägen Harlem, die Kehrseite des Aufschwungs. Die Grossen unter den Konsumbescherern sind da. Disney. Pizza Hut. Taco Bell. Kentucky Fried Chicken. Gap. Selbst Starbucks, der Espressoriese und styroporenes Symbol des US-Yuppietums, eröffnete ein Café. «Gut» findet das Investor Lande. «Schwarze sollen konsumieren, wo sie verdienen», sagt er. Allein 1999 wurden zehn Tausend neue Jobs geschaffen. «Endlich nehmen wird an der Hausse teil», sagt er.

Freude allein herrscht nicht. «Harlem könnte zum Disneyland verkommen», fürchtet Boroughs und fügt an: «Weisse kommen und kaufen uns die Häuser weg». In Manhattan herrscht akute Wohnungsnot, in Harlem ist das Dach überm Kopf günstig zu mieten. Wenn sich die Nachricht vom auferstandenen Quartier mal in den Köpfen weisser New Yorker festgesetzt habe, «hält die nichts mehr davon ab, mit Geld um sich zu werfen und hierher zu ziehen», sagt YMCA-Mann York. «Es droht vieles zu verschwinden, was Harlem so einzigartig macht.»