Retro als TV-Rettungsanker

Amerikanische Fernsehsender verlieren Publikum ans Internet. Mit Konzepten aus den Fünfzigerjahren versuchen sie den Quotensturz zu stoppen. Erstmals seit vierzig Jahren wurde wieder ein Livedrama ausgestrahlt.

Von Peter Hossli

Das Fernsehen leidet unter Atemnot. Werbegelder, Publikum und Medientalente wandern weltweit in die Internetindustrie ab. Seit Jahren sinken die Quoten vieler US-Sender. Kritikerinnen wie Zuschauer stellen Verblödungstendenzen fest. Die Schaulust schlafft ab.

Was liegt da näher als die Rückbesinnung auf televisionäre Glanzzeiten. Aufs schwarzweisse Damals, als Fernsehsendungen noch Nationen erregten, Kinos räumten und Strassen leer fegten. Wie in den Fünfzigern locken heute abermals dumpfe Quiz- und Spielshows zum Daheimbleiben. Am vergangenen Sonntag langte das US-Network CBS erneut tief in die Fernsehmottenkiste und holte ein längst für tot erklärtes Genre hervor: Das Livedrama. Namhafte Filmstars spielten auf mehreren Bühnen in einem Studio in Los Angeles Kalten Krieg. Sechzehn Kameras übertrugen das Atombombendrama “Fail-Safe” von sieben Sets aus direkt in die amerikanischen Stuben.

“Alte Schule und alte Welt”

Letztmals führten US-Schauspieler 1961 ein zweistündiges Stück Fiktion live auf. Als “alte Schule und alte Welt” bezeichnete “Fail-Safe”-Produzent und Hollywoodstar George Clooney das Livedrama in einem Interview mit der “Washington Post”. Der einflussreiche Clooney, 38, erfüllte sich einen Bubentraum: Er produzierte das Remake seines Lieblingsfilms live fürs Fernsehen. 1964 verfilmte Regisseur Sidney Lumet mit Henry Fonda den gleichnamigen Roman von Harvey Wheeler und Eugene Burdick. Der ernsthaft und allzu didaktisch geratene Film floppte 1996, gleichzeitig lief Stanley Kubricks umwerfende Bombensatire “Dr. Stranglove” in den Kinos.

“Fail-Safe” erzählt eine moralische Geschichte. Ein fehlgeleiteter US-Bomber wird versehentlich nach Moskau entsandt. Unwiderruflich erhalten die Piloten den Befehl, eine 20-Mega-Tonnen-Bombe über der sowjetischen Hauptstadt abzuwerfen. Die gedrillten Krieger nehmen ab einem gewissen Punkt keine Funkbefehle mehr entgegen – es könnten vom Feind fabrizierte Ablenkungsmanöver sein. Bald ist dieser Punkt überschritten. Russische wie amerikanische Abfangjäger scheitern zusätzlich daran, den Hightech-Bomber abzuschiessen. Was ist zu tun? Um den totalen nuklearen Krieg zu verhindern, offeriert der US-Präsident dem Kremlchef, sofort nach der Zerstörung Moskaus eine amerikanische A-Bombe auf dem Empire State Building inmitten von New York zu zünden. Die immense Kraft des Stoffes liegt in einem dramaturgischen Kniff der Autoren: Alle fällen ausnahmslos integre juristische und moralische Entscheide – trotzdem brennen am Ende zwei Weltstädte. 10 Millionen Menschen sterben.

Unter der Regie des Briten Stephen Frears (“Dangerous Liaisons”) agierten sonntagabends illustre Kinostars wie Harvey Keitel, Richard Dreyfuss und Produzent Clooney selbst. Die von den Werbetrommlern im Voraus lauthals prophezeiten Zwischenfälle – Schauspieler würden allenfalls Texte vergessen, einige Toneffekte kämen wahrscheinlich zum falschen Zeitpunkt, ein Kameramann könnte unverhofft ins Bild treten – blieben gänzlich aus. Statt Lachern boten die theatererprobten Schauspieler geradezu langweilige Perfektion. Nichts lief schief. Dynamisch wirkten allenfalls die Werbespots. Ein Quotenrenner wars nicht, vornehmlich ältere Männer schauten hin. “Dem Fernsehen gehts schlecht”, klagt “Fail-Safe”-Produzent Clooney, “es muss sich dringend vom Internet absetzen.”

Zweifelhaftes Resultat

Sein Rezept gegen den anhaltenden Publikumsschwund sind Direktübertragungen. Rohe Darbietungen, ungeschnittene Shows und Intimität sollen die I-Generation vor den Fernseher bringen. Obs aufgeht, ist eher fraglich. Trotz packender Story geriet der “Fail-Safe”-Abend reichlich altbacken. TV-Eminenz Walter Cronkite, eine Art Erich Gysling des amerikanischen Fernsehens, leitete mit erhabener Lehrerstimme ein. Die schwarzweissen Bilder wirkten prätentiös und altmodisch. Der Kalte Krieg hat die Halbwertzeit längst hinter sich. Schnodderig übergoss die “Los Angeles Times” daher schon im Voraus das Experiment mit Häme. Ein “sinnloser Streich” seis. Dessen einziges Ziel – “Publikum anlocken” – gar simpel, schrieb das Lokalblatt. Es rügte “Fail-Safe” als “Antiquität”. Höchstens an “Gedächtnisschwund Leidende” könnten sich noch an Kalten-Kriegs-Geschichte erheitern. Die erhoffte Debatte über die Bombe konnte die TV-Show ebenfalls nicht entfachen. Zwar erinnerten die Rollbalken am Ende des Films daran, dass nunmehr neun Nationen Atombomben besitzen. Die “Fail-Safe”-Partys der Anti-Nuklearwaffen-Organisation “Project Abolition” besuchten jedoch nur wenige.

Nachahmer gefunden

Einzige Lehre des Abends: Retro allein taugt nicht als TV-Rettungsanker. Gleichwohl: Noch bevor Manhattan live verglühte, kündete die Konkurrenz bereits etliche Nachahmer an. ABC plant noch dieses Jahr, einzelne Episoden der TV-Serie “The Drew Carey Show” direkt zu übertragen. Schauspielerin Glenn Close (“Fatal Attraction”) entwickelt für den Kabelkanal HBO vier Dramen, die alle live ausgestrahlt werden. Anfang Jahr wurde die Station Broadway Television Network gegründet. Deren Absicht: Liveübertragung von Theaterstücken gegen Bezahlung. Im Herbst überträgt CBS ein weiteres Drama direkt, eine neue Version des ehemaligen Fonda-Films “On Golden Pond” mit der bekannten Julie Andrews.

Variationen des fiktionalen Livetrends schwappen demnächst zusätzlich ins Lichtspieltheater. So bringt Regisseur Mike Figgis (“Leaving Las Vegas”) Ende April den Film “Time Code” ins Kino, aufgenommen in Realzeit mit vier Kameras. Auf dem gevierteilten Bild sind alle Einstellungen nonstop und ohne Schnitt zu sehen. Statt drei Monate zu drehen, surrten die Kameras nur 93 Minuten, der tatsächlichen Filmlänge. Mit solchen Fastfood-Produkten gedenken die alten Medien den neuen entgegenzuhalten.