Der Fall Skakel

Das Blutbad im Nobel-Idyll Greenwich. Zum US-Mordprozess des Jahres.

Von Peter Hossli

Der bestialische Mord geschah in der Nacht vor Halloween. Zwölf kräftige Hiebe mit einem Golfschläger zertrümmerten die Schädeldecke von Martha Moxley. Hernach zerbrach der Täter das Metallrohr in drei Teile und stach mit dem gezackten Ende fünf weitere Male zu, stets in den zierlichen Hals. Das blonde Haar der 15-Jährigen erkannten die Cops vorerst nicht, als sie deren Leiche anderntags bäuchlings liegend unter einer Fichte entdeckten. Ihr eigenes Blut hatte es geschwärzt. Bis unter die Kniekehlen gezogen waren Bluejeans und Unterhosen. Spermaspuren fand niemand.

Das scheussliche Verbrechen passierte Ende Oktober 1975 im Millionärskaff Greenwich im US-Bundesstaat Connecticut, eine knappe Zugstunde entfernt von New York City. Bis Mitte Januar tappte die örtliche Polizei vermeintlich im Dunkeln. Nicht einmal Anzeige hatte sie in all den Jahren erstattet. Zu dünn erschien ihr die Beweislage, zu diffus der Hergang während der frostigen Tatnacht.

Im Idyll der Reichen

Inzwischen haben die Ordnungshüter Michael Skakel, 39, einst Marthas Nachbar und angeblich deren amouröser Schulfreund verhaftet. Skakel entstammt einer der reichsten amerikanischen Industriellendynastien. Mit schwarzer Kohle scheffelt seine Sippe seit der Jahrhundertwende Vermögen in Milliardenhöhe. In Michaels Venen fliesst überdies das blaue Blut Amerikas: Er ist ein Neffe von Robert F. Kennedy, dem Bruder von Ex-Präsident JFK. Die Schwester seines Vaters, Ethel Skakel, heiratete 1950 den Kennedy-Sprössling Robert. Bis zu dessen Attentatstod im Juni 1968 zeugten sie elf Kinder.

Gegen eine Kaution von 500 000 Dollar kam der des Mordes verdächtigte Michael Skakel vorerst frei. Am Dienstag dieser Woche begann nun die gerichtliche Anhörung. Die überraschende Festnahme und die Wiederaufnahme des jahrelang verdrängten und verschwiegenen Mordfalls erschüttert ein Idyll, die reichste Gemeinde der USA. Über eine Million Franken kostet in Greenwich durchschnittlich ein Einfamilienhaus. Schöne und Reiche residieren in Prachtsbauten am Atlantik oder in den sanften Hügeln im welligen Hinterland. Erfolgreich betrieb Tennisass Ivan Lendl hier eine Sportschule für tennisbegeisterte Söhne und Töchter der Besitzenden. Sängerin Diana Ross, die Familie von Ex-Präsident George Bush sowie ausländische Zeitungskorrespondenten geniessen die Nähe zu Manhattan ohne die Hektik der stickigen Grossstadt. Mächtige und Wohlhabende ziehen meist wegen den tiefen Steueransätzen und der niedrigen Kriminalitätsrate hierher.

Schützte Polizei Bonzen?

Villa an Villa reiht sich in Belle Haven, dem erlesensten Quartier Greenwichs. Dort, wo Martha Moxley starb. Ein uniformierter Wächter stoppt jedes Auto. Nur Anwohner lässt er auf die Privatstrasse. Neugierige Presseleute versuchen, zum Tatort vorzupirschen. Keinem gelingts. In der Bar neben dem Bahnhof übertragen vier Fernseher ein Basketballspiel. Die meisten Gäste reden von Skakel. Alle scheinen einer Meinung: «Michael ist der Mörder», sagt ein Stammkunde. Warum der so lange unbescholten blieb und die Skakels nie kooperieren mussten, stehe fest: «Die Polizei schützt die Bonzen von Belle Haven.» Die Moxleys, die Familie Marthas, zogen von Kalifornien an die US-Ostküste. Der Vater betrieb erfolgreich eine Anwaltskanzlei. Freunde hatte er in Connecticut keine. Hilflos strampelten die neureichen Aussenseiter gegen das weit verflochtene Beziehungsnetz der Altreichen.

Diese Ansicht vertritt auch Mark Fuhrman, einst Detektiv in Los Angeles und rassistischer Zeuge im O.J.-Simpson-Prozess. In seinem 1998 veröffentlichten «True Crime»-Buch «Murder in Greenwich» schildert der inzwischen pensionierte Gendarm mittels Insidertipps und aufwändiger Eigenrecherche den möglichen Tathergang in der verhängnisvollen Nacht vom 30. Oktober: Tommy Skakel, damals 17, hätte das Nachbarsmädchen Martha im Freien gestreichelt und innig geküsst. Von einem Baum aus beobachtete dessen zwei Jahre jüngerer Bruder Michael missgünstig und alkoholisiert das Treiben. Aus Eifersucht geriet er in Rage. Um halb zehn verliess Tommy das Moxley-Haus. Ungefähr zwei Stunden später soll Michael Martha zuerst erschlagen, dann erstochen haben. Den Schlagstock stahl er zuvor der Stiefmutter aus der ledernen Golftasche.

Wie eine Boulevard-Story

Schon am nächsten Morgen begann gemäss Fuhrman die nebulöse und lange Zeit erfolgreiche Vertuschung, orchestriert vom um Ruhm und Ehre bangenden Familienpatriarch Rushton Skakel. Eine Geschichte, scheinbar ersonnen von den perfidesten Göttern des Boulevards. Ein naher Verwandter der Kennedys als wahrscheinlicher Mörder. Alteingesessenes Geld obsiegt gegen das Vermögen der Neureichen. Macht. Sex. Korruption. Alkohol. Stars. Frühreife Eifersucht als Motiv. Die Tatwaffe ein Golfschläger, der Freizeitstängel der Privilegierten. Ein Ort, an dem Reichtum nichts Aussergewöhnliches, sondern Alltag ist. Dazu Mark Fuhrman, der verurteilte, noto-rische Lügner im Simpson- Prozess, als zwielichtiger Wahrheitsfinder.

«Kein Gerichtsverfahren warf je grössere Wellen, als dieses noch werfen wird», sagt die Rechtsreporterin von National Public Radio, Judy Muller, «es dürfte zehn Mal aufsehenerregender werden als der Simpson-Prozess.» Hunderte von Journalisten und Kamerateams belagerten jedenfalls zur Prozesseröffnung am Dienstag das Gerichtsgebäude in Stamford, der Nachbarsgemeinde von Greenwich. Ob und wie die Medien berichten dürfen, ist jedoch fraglich. Fünf amerikanische Zeitungen versuchen, ihr Beisein im Gerichtssaal juristisch zu erzwingen. Vorerst verschob der Richter die diesbezügliche Weisung auf Mitte März.

Jugendlich und straffrei?

Überhaupt birgt der Fall eine Reihe kniffliger juristischer Hürden. Entscheidet der Richter, der damals 15-jährige Michael werde gemäss Jugendstrafrecht angeklagt, urteilt er wohl hinter verschlossenen Türen. Journalisten blieben draussen. Überdies sänken damit die Chancen auf den erhofften und erlösenden Schuldspruch. Seit Mitte siebziger Jahre änderten sich die Gesetze und deren Auslegung. Damals galten in den USA schnelle Rehabilitation, nicht wie heutzutage lange und harte Strafen, als gerecht. Jugendliche Mörder sassen im Bundesstaat Connecticut allerhöchstens bis 21 in Erziehungsanstalten.

Die Anklage gedenkt deshalb, Skakel als Erwachsenen zu belangen. Die Verteidigung beharrt auf der amerikanischen Rechtstradition, wonach stets das zur Tatzeit gültige Gesetz sowie das Alter gelten. Selbst bei einem Geständnis oder einer Verurteilung könnte Skakel demnach straffrei bleiben. Zumal sich kaum ein Zeuge nur vage an die folgenschwere Nacht erinnert. Beweisstücke gingen in der Zwischenzeit verloren. «Für Juristen wirds eine der aufregendsten Episoden der US-Geschichte», prophezeit Harvard-Rechtsprofessor Alan Dershowitz.

Nach wie vor sucht die Polizei etwa den schwarzen Gummigriff des Golfschlägers. Darauf kleben vielleicht Fingerabdrücke, Haar-, Blut- oder Spermaspuren des Mörders. Auf den beiden vorhandenen Metallstücken fand die Polizei bloss Blut von Martha Moxley. Der Staatsanwalt besitzt ausschliesslich mündliche, weit zurückliegende Zeugenaussagen. So will ein ehemaliger Mitschüler Skakels den Verdächtigen mehrmals ausführlich über den Mord sprechen gehört haben. Nachbarn der betroffenen Familien gaben glaubhaft an, zwischen dem Opfer und dem mutmasslichen Schuldigen hätte ein sexuelle Liaison bestanden – eine zentrale Aussage für die Anklage. Diese hofft, Eifersucht als Motiv geltend zu machen: Auf Tonbandaufnahmen gestehe Michael gemäss seinem Biografen die Liebe zur damaligen Nachbarin. Angeblich änderten Tommy und Michael Skakel 1995 ausserdem ihre Aussagen über den Verbleib während der Tatnacht.

Wer war wann wo?

Hauptsächlich am Mangel an genetischen DNS-Belegen dürfte die Anklage scheitern, vermutet Rechtsprofessor Dershowitz. «Es gibt keine Beweise», sagt er. Zweifelsfrei könne man den Mord kaum belegen. Nach amerikanischem Recht darf die zuständige Jury jemanden in einem Strafprozess nur bei absoluter Sicherheit aburteilen.

Gegen Skakel sprechen jedoch widersprüchliche Zeitangaben. Bis anhin ging die Polizei von Greenwich davon aus, Martha Moxley sei um zehn Uhr nachts gestorben. Zu diesem Zeitpunkt schaute Michael bei Freunden in Ruhe fern. Am Fernsehen lief der preisgekrönte Krimi «The French Connection». In einer ersten Aussage gab er an, nach Filmschluss um elf sofort nach Hause gegangen zu sein. Er habe sich schlafen gelegt. Jahre später sagte er aus, um 23.30 Uhr das Haus nochmals verlassen und ans Fenster von Martha geklopft zu haben. Als sie nicht öffnete, sei er auf einen Baum gestiegen und hätte onaniert.

Fidel auch die beiden anderen in den Fall involvierten Teenager: Der einst ebenfalls verdächtigte Tommy sagte aus, er hätte zwischen neun und zehn Uhr abends gemeinsam mit Martha Moxley masturbiert. Privatdetektiv Mark Fuhrman glaubt, Michael habe dem Bruder und der Freundin beim Heavy Petting zugeschaut – und sei ausgeflippt. Der Mord aus Eifersucht hätte also um halb zwölf, und nicht wie bisher angenommen um zehn Uhr stattgefunden. Nur wenn das stimmt, käme Michael Skakel als Täter tatsächlich in Frage.

Mit dem juristischen Kniff der Verjährung werden dessen Anwälte versuchen, ihren Klienten vor der Bestrafung zu bewahren. 1975, als Martha Moxley starb, verlangte das Gesetz die Anklage innert einer Frist von fünf Jahren. Zwar wurde diese Regelung 1976 fallen gelassen. Gleichwohl ist der Präsident der Strafverteidiger von Connecticut, David Moraghan, der Ansicht, es könnte mittlerweile zu spät sein, Skakel zu belangen.

Respekt vor Kennedy-Clan

Den Nimbus, ein Verbrechen verheimlicht zu haben, wird der Nobelort am Atlantik selbst dann nicht los. Ausgerechnet in Greenwich, wo sich betuchte New Yorker stattliche Wochenendhäuser kaufen und jahrelang Juden und Schwarze unerwünscht waren. Einheimische fühlen sich dem britischen Königshaus weit näher als der US-Regierung in Washington. Den Jahreswechsel feiert die neuenglische Kommune am 31. Dezember jeweils um 19 Uhr – dann, wenn in Greenwich bei London die Uhren Mitternacht anzeigen.

Alteingesessenes Geld behandelt man bevorzugt.

Als «Country-Club-Geflüster» beschreibt der Schriftsteller Dominick Dunne das Verhalten der Behörden und der illustren Bürger: «Alle wussten, was vorfiel. Keiner sprachs aus.» Obwohl auf der Tatwaffe etwa die Initialen AS für Michaels Stiefmutter Anna eingraviert waren, unterliess es die Polizei, deren Nobelresidenz zu durchsuchen. «Die Familie nutzte Ansehen und Wohlhaben, um davonzukommen», sagt Dunne.

Sowohl die Presse wie die Polizei seien bestochen und eingeschüchtert worden, glaubt er. Die Notabeln der noblen Gemeinde hätten alles unternommen, die Angelegenheit zu verwässern. So blieb der Druck auf die Untersuchungsbehörden gänzlich aus. Gerichtsmedizinische Analysen fehlen bis heute. Kein Mitglied der Skakel-Familie wurde jemals ordentlich befragt. Den damaligen Privatlehrer von Michael und Tommy, Kenneth Littleton, trieb der ungeklärte Mord offensichtlich zum Wahnsinn. Er ist heute Patient einer psychiatrischen Klinik. Der von Fuhrman als «dilettantisch» bezeichneten Polizei mangelt es offenbar an ordentlichen Handbüchern zur Klärung von Kapitalverbrechen. Kein Wunder, während vierzig Jahren hatte sie in Greenwich nie einen Mord zu klären. In der Regel liessen die Cops die wilde, begüterte Jugend bei ihren Kapriolen gewähren.

Enthüllung in Romanform

Aufgeflogen ist der Fall wegen einer Fehleinschätzung von Michaels Vater Rushton. Der Kohle-Tycoon heuerte 1991 eine private New Yorker Detektivfirma an. Sie hatte die Unschuld seiner beiden Söhne zu beweisen. Die Ermittler spürten jedoch Ex-Insassen einer Entzugsklinik auf, denen Mitpatient Michael zwischen 1978 und 1980 den von ihm verübten Mord im Detail geschildert haben soll. Patriarch Skakel hielt den brisanten, 1995 fertig gestellten Bericht unter Verschluss – bis ein junger Journalist das Schriftstück klaute und es Autor Dominick Dunne zuspielte.

Der schrieb einen spekulativen Roman, aus dem eine mehrteilige Fernsehserie entstand. Später weihte «Vanity Fair»- Autor Dunne Detektiv Mark Fuhrman ein. Die beiden hatten sich während des Simpsons- Prozesses getroffen. Fuhrmans Ergebnisse zwangen vergangenes Jahr die Staatsanwaltschaft von Connecticut, endlich eine unabhängige Jury mit den ungeklärten Geschehnissen zu betrauen. Deren am 12. Januar beendete Untersuchung beinhaltete genügend glaubhafte Indizien für die sofortige Festnahme Skakels.

Abkehr von der Sünde

Der katholische Tatverdächtige eilte aus Florida herbei und stellte sich mitsamt Rosenkranz. Er beteuerte seine Unschuld. Dank der Hingabe zum Herrn und den Anonymen Alkoholikern habe der Familienvater Bier und Wein längst überwunden, teilte ein Skakel-Pressesprecher umgehend mit. Täglich bete er. Ein Musterknabe, der einst für das amerikanische High-Speed-Skiteam steile Berge runterraste und 1992 die Aufnahme ins Olympiateam von Albertville nur knapp verpasste. Mit seinem Cousin Michael Kennedy weilte er oft wochenlang in den Bergen – bis der beim Frisbeespielen auf Skiern stockbetrunken in einen Baum raste.

Hinter der Maske des liebevollen Michaels stecke ein verstörter Mann, sagen die, die ihn kennen. Zusammen mit seinen sechs Geschwistern verlebte er eine verkorkste Jugend. Früh starb die Mutter an Krebs. Die Stiefmutter kümmerte sich kaum um die wilden Parties des Nachwuchses. Dort wurde freizügiger Sex praktiziert und reichlich Alkohol konsumiert. Als «arrogant, aufmüpfig, verzogen und superreich» beschreibt ein lokaler Schriftsteller die Skakels. Ständig sei deren Verwandschaft zu den Kennedys betont worden. Mit 18 wurde Michael nach Maine in einer Privatschule für schwer erziehbare Jugendliche versorgt. Mehrmals versuchte er abzuhauen.

Für Kennedys ein Verräter

Eine Dekade lang streifte Michael Skakel durchs Land und verprasste sein Erbe. Mit 33 schloss er doch noch ein Englischstudium ab und arbeitete 1994 für die Wiederwahl seines Grossonkels, Senator Edward Kennedy. Er heiratete, zeugte einen Sohn und zog nach Florida. Erstmals schien es ihm gut zu gehen. Bis ihn ein weiterer Sexskandal der Kennedys einholte: Cousin Michael Kennedy wurde 1997 bezichtigt, Skakels minderjähriges Kindermädchen vergewaltigt zu haben. Skakel gab dem Staatsanwalt scheinbar genügend Hinweise für eine Anklage. Seither gilt er bei den Kennedys als illoyaler Verräter. «Die Kennedys hassen ihn», sagt Autor Dunne. Skakel selbst sei durch die Aussage und mit Gottes Hilfe mit sich ins Reine gekommen.

Nun wird sich zeigen, ob der Gottesfürchtige jahrelang mit einem brutalen Mord gelebt hat und dennoch gemächlich von Golfplatz zu Skipiste gependelt ist.