Zentrum der Avantgarde

Boom in New Yorks attraktivstem Kulturquartier: In Williamsburg mischen sich unter Tausende von Kunstschaffenden die ersten Touristen.

Von Peter Hossli

Susanne Wimmer brach mit Ohio. Die zierliche Fotografin deutscher Abstammung zog nach New York. Sie benötigte viel Platz, konnte nur wenig Miete bezahlen. Günstige Räume gabs aber in Manhattan, einst Magnet aller Kreativen, nirgends mehr. Anwälte, Werberinnen und Börsianer hatten Räume aufgekauft, die zuvor als Ateliers dienten.

Wimmer überquerte den Fluss nach Brooklyn. Im Stadtteil Williamsburg, fünf U-Bahn-Minuten von Downtown Manhattan entfernt, fand sie in einem alten Rohstofflager ein leer stehendes Stockwerk zum Wohnen und Fotos Entwickeln. Und sie traf dort Gleichgesinnte. Rund tausend junge Malerinnen, Dichter, Theaterleute und andere Kulturschaffende lebten und wirkten buchstäblich im langen Schatten der überwältigenden Skyline von New York City.

Das war vor fünf Jahren. Inzwischen dichten, filmen oder tanzen beinahe sechstausend Kunstschaffende in Williamsburg, dem «aufregendsten Avantgarde-Zentrum der USA», wie die sonst selten zu Superlativen neigenden «New York Times» notierten. Galeristen und Kunstkenner glauben gar, der rund drei Kilometer breite und fünf Kilometer lange Landstrich am East River sei der innovativste Nabel der Kunstwelt. Ein Ort, an dem Spannendes und Neues entstehe.

Nicht der sprunghaft wachsende Kunstmarkt wird von hier aus bedient. Eher gehen Künstler noch Risiken ein, probieren aus, stossen an Grenzen vor. «Die pure Freude am Schaffen, nicht die Gier nach Gewinn bringenden Anlagen bestimmt die Arbeit der hiesigen Künstler», sagt Fotografin Wimmer.

Sie porträtiert Menschen und Häuser. Seit fünf Jahren folgt sie mit der Kamera meist abbruchreifen Gebäuden. Niemand kennt die Entwicklung des Stadtteils genauer. Als sie kam, herrschte im Osten New Yorks «Wilder Westen», sagt Wimmer. Es wurde geschossen, die Mafia entsorgte Giftmüll und Leichen. In einem verlassenen Haus fand Wimmer einen tiefgefrorenen Mann.

Heute prägen Kinderwagen das Bild. Die Stimmung auf den löchrigen Strassen ist ausgelassen. Als seien die auf Rendite erpichten Kunsthändler weit weg, ziehen Künstler beinahe naiv von Loft zu Loft, halten Happenings ab und denken selbst in der schwülen Sommerhitze ernsthaft über die kaum noch gestellte Frage nach, was denn gute Kunst sei oder soll. Die Antworten sind selten prätentiös. «Man muss Autorin und Absicht spüren», sagt etwa Fotografin Wimmer.

Viele fahren hier Rad. Gelassen kühlen sich Mädchen unter dem Wasserstrahl eines aufgedrehten Hydranten. Zum kurzen Schwatz haben alle Zeit – als seis ein Dorf mitten in der pulsierenden Achtmillionenstadt. Fast jeder ist sein eigener Galerist, stellt im selben Loft aus, in dem er malt, schläft, liebt, isst oder verkauft, was er erst am Vortag fertig gestellt hat.

Etwa Henry Ward, 28, ein kräftig gebauter Porträtmaler, der auf den Bermudas und in England aufwuchs. Er ist einer der dreitausend europäischen Kunstschaffenden, die sich in den letzten vier Jahren in Williamsburg niederliessen – natürlich in der Hoffnung, entdeckt zu werden. In Manhattan eine Galerie finden, sagt Ward, «das will hier jeder». Die Nähe zur Insel, auf der wie nirgends der Kunsthandel blüht, habe hauptsächlich zum Wandel in Williamsburg beigetragen. Weil die Künstler die explosionsartig steigenden Mieten in der City nicht mehr zahlen konnten, zogen sie aus. Williamsburg bot ihnen weit billigere Räume in hellen Fabriken.

Henry Ward hat es geschafft, eine Galerie in Manhattan zeigt zurzeit eine Serie seiner Porträts. Hier bleiben will er trotzdem. In einer Nudelfabrik bewohnt er hundert lichtdurchflutete Quadratmeter. 625 Dollar zahlt er dafür pro Monat. Oft malt er 18 Stunden nonstop. Eine Toilette fehlt, also bastelte er sich ein Handurinal. Das entleert er zwei Stockwerke tiefer ins Klosett. Eine Suppe brodelt auf dem Elektroherd. Das abgedroschene Bild vom hungernden Künstler passt. Die Atmosphäre, sagt Ward, sei «schon etwas romantisch».

Auf dem Dach schweift der Blick über ein umwerfendes Panorama. Südlich, ennet der 1903 errichteten Williamsburg Bridge, lebt die weltweit grösste chassidische Gemeinde. Den orthodoxen Juden gehören zahlreiche Gebäude in Williamsburg, Brauereien, Giessereien und Lagerhallen, in denen Kunst entsteht. Im Norden leben Polen, im Osten Italiener, im Süden Puertoricaner. Der Brooklyn-Queens-Expressway führt als Schneise durch die pittoreske Industriekulisse, die Fotografen und Filmer so mögen.

Zwischen Manhattan und Williamsburg liegt, als seis eine Mauer, der breite Fluss. Williamsburg, 1664 als Bauerndorf gegründet und seit 1898 Teil New Yorks, half in den letzten Jahren die nicht nur von Woody Allen geäusserte Angst der New-Yorker abzubauen, Manhattan zu verlassen. Lange Zeit war die snobistische Kunstszene überzeugt, ausserhalb Manhattans sei Einöde. Nur die Quartiere SoHo und Chelsea sowie die noblen Galerien an der 57. Strasse nahm man ernst. Dank Williamsburg ist nun auch das New York ausserhalb Manhattans salonfähig geworden. Kunstschaffende, trendige Nightclubs, Restaurants und rund fünfzehn professionelle Galerien locken Besucher über den Fluss.

Darüber hinaus beginnt der Kunstmarkt auch in Williamsburg zu spielen – wegen einer brillanten Idee des kalifornischen Malers Joe Amrhein. Der kaufte 1994 an der North 9th Street ein Atelier mit Galerieraum. Dort baut er ein Archiv auf, das auch als Verkaufsladen dient. Amrhein nannte die Galerie Pierogi 2000, in Anlehnung an die einst vorwiegend polnische Nachbarschaft und den bevorstehenden Jahrtausendwechsel.

Hunderte von nummerierten und mit Namen versehenen Mappen liegen auf dem Fussboden. In diesen «flat files», flachen Registern, lagern acht bis zehn Originale und die Lebensläufe von 400 Künstlern. Er hüte «das künstlerische Gedächtnis von Williamsburg», sagt Amrhein, der Kontakte zu den Kunstszenen in Moskau, London und Berlin pflegt. Von überall her besuchen ihn Sammlerinnen, Händler und Ausstellungsmacher in der begründeten Hoffnung, etwas zu entdecken und günstig zu erstehen.

Heute durchstöbert die kanadische Kunststudentin Judy Schulich die Mappen von jungen Fotografen. Für ihre Abschlussarbeit organisiert sie in Manhattan eine Ausstellung mit Fotos, die architektonische Motive verwenden. Zeigen will sie «kaum Gesehenes und trotzdem Hochwertiges», sagt Schulich. «Pierogi ist der beste Ort dafür.»

Bewusst setzt Amrhein die Preise tief an. Für durchschnittlich 300 Dollar kann man bei ihm erlesene Kunst kaufen. Er nimmt vom Preis zwanzig Prozent, üblich sind im Kunsthandel fünfzig. Kunstkäufer, die nicht primär eine Investition planen, sondern Freude an Farben und Formen haben, schauen vorbei. Junge Künstler ohne Galerievertrag finden ein Publikum. Zuweilen übergeben selbst Etablierte ihre Werke dem ungewöhnlichen Galeristen – um einen neuen Personenkreis zu erschliessen. Amrhein glaubt, Williamsburg stehe am Anfang einer «weit reichenden Entwicklung».

Pessimisten hingegen warnen, der vormalige Geheimtipp verliere an Cachet. Die Preise steigen, genauso der Hang zum Hype. Tatsächlich serviert das schickste Restaurant am Platz mediterranes Essen, ein anderes thailändisches. Im «L-Café» neben der U-Bahn-Station nippen Frauen in kurzen Röcken Espresso. Sie hoffen, in Manhattan hoch bezahlte Model-Verträge zu ergattern. Als seis Europa, rauchen die meisten filterlose Zigaretten. Man sieht Zürcher Frei-tagtaschen. Der polnischen Wursterei auf der Bedford Avenue wird nostalgisch gehuldigt. Eine andere Metzgerei wich einem Bioladen. Die Brooklyn Brewery kredenzt samstags Freibier. Billigen Wohnraum findet nur noch, wer Glück und gute Beziehungen hat. Abends locken schummrige, gestylte Bars zum Umtrunk, an Vernissagen trifft sich jene Klientel, deren flippigen Kleiderstile die Modemagazine Monate später preisen.

Der Wilde Westen ist zahm geworden.

Mehr als nur ein bisschen Manhattan sei nach Brooklyn vorgedrungen, beklagt sich Porträtmaler Ward. Saubere Kleider sehe man häufiger als mit Farbe verschmierte Hosen. Wohl deshalb trugen Sprayer nachts Graffiti auf, die lakonisch fordern: «Yuppie go home.»

Vehement wehren sich die Williamsburger gegen die Unterstellung, ihre Kolonie hätte sich zu sehr dem Monstrum Manhattan angeglichen. Sie wollen nichts mit dem arroganten und kommerziellen Stadtteil zu tun haben. «Disneyland», nennen viele die Insel.

Hier ist man stolz, weder Armani- Anzüge noch Hawaii-Hemden zu sehen. Touristen mangelts an Souvernierläden und Schnellimbissbuden. Stattdessen restaurierten innovative Wirte wie And-rew Tarlow und Mark Firth ein stau- biges Diner, das sie «Diner» nennen. Dort gibts Steak und Frites, Bier und Wein. Ein Wochenmagazin pries den Ort als «avantgardistischstes Restaurant der Stadt». Zuvor servierten die beiden Beizer in Manhattan. Sie gingen aus Langeweile. «New York City hat Drive eingebüsst», sagt Tarlow.

Frühmorgens karren vor dem «Diner» Fischhändler Krabben und Kabeljau von Kühlhäusern in Lieferwagen. In der ehemaligen Nudelfabrik neben der Williamsburg Bridge, die knapp hundert Künstler beherbergt, kochen Chinesen täglich frische Teigwaren. Die grösste Zuckerraffinerie der Ostküste produziert direkt am Fluss. Lastwagen prägen das Strassenbild, nicht gelbe Taxis.

Die Mischung aus Industrie, Handel, Wohnbezirk und Kunstmekka ist für New York einmalig geworden. Zur Freude der Filmer Hollywoods. Die finden jenes verruchte und gleichzeitig stereotype New York, das das Multiplexpublikum gerne sieht, das in Manhattan jedoch abgeschliffen ist und verloren ging. Permanent werden auf den Strassen Williamsburgs Szenen gedreht. Hier wirkten Al Pacino als Mafioso in «Donnie Brasco», Denzel Washington als Polizist in «The Siege», Harvey Keitel als Zigarrenhändler in «Smoke». Gespannt schauen Alteingsessene einem Dreh zu. Sie sprechen Jiddisch, Spanisch, Polnisch. Das Englische führte erst die «Bohemia» ein. Zuvor lebte hier die Arbeiterklasse.

Die schrillen Neuankömmlinge sind nicht nur willkommen. Zwar beleben sie die Geschäfte. Gleichzeitig treiben sie die Mietpreise in die Höhe. Eine Flasche Cola, einst halb so teuer wie in Manhattan, kostet nun genauso viel wie drüben. Auf die Frage zweier Fotografen, ob das Fabrikgebäude an der Wyeth Street zu haben sei, antwortet ein schwarzer Garagist: «Go back to Manhattan.»

Dort liegt trotz des Booms in Williamsburg das Epizentrum des Kunstmarktes. Objekte im Wert von schätzungsweise vier Milliarden Dollar wechseln jährlich die Hand. Die Citibank und bald auch die UBS betreiben Abteilungen, die sich ausschliesslich um An- und Verkauf von Bildern, Skulpturen oder Antiquitäten kümmern. Wie in jeder anderen Industrie bestimmen vornehmlich fabrizierte Trends den Handel. Die müssen Galerien in Chelsea jeden Herbst neu aushecken. Allerdings: Sie machen das mittlerweile ohne Künstler – die leben in Williamsburg. Die geo- grafische Trennung zwischen Produktion und Verkauf ist in der New-Yorker Kunstwelt neu.

Noch während der Siebzigerjahre veräusserten Galerien in SoHo, dem Carré südlich der Houston Street, meist in denselben Häusern, in denen Maler malten. Herstellung und Handel waren eng verquickt. In den Achtzigerjahren stiegen die Preise, die Galerien zogen nach Chelsea, die Künstler nach TriBeCa. Inzwischen leben und arbeiten die meisten in Williamsburg. SoHo ist passé. Ronald Reagan und der Börsenboom der Achtziger verwandelten es in ein his- torisch anmutendes Einkaufszentrum. Boutiquen von Modeschöpfern statt Galerien prägen das Quartier. Über Chelsea rümpfen viele die Nase, weil dort Kunst ähnlich aggressiv vermarktet werde wie in Hollywood Knall-und-Fall-Filme.

Von dem «verdammten Kommerz» nichts wissen will Ür. Der französische Skulpteur, Maler und Aktionskünstler gehört zu den innovativeren Schaffern Williamsburgs. Er posiert vor einem seiner Schattenbilder. Aus dünnem Draht flechtet er Figuren, die er mit Licht bestrahlt. Das wirft dunkle Umrisse auf weisse Wände. Künftig will er mit der ausgefeilten Technik auch Animationsfilme fertigen. Mühe bekundet Ür mit dem Dilemma, Geld verdienen zu müssen, ohne sich an Trendjäger zu verkaufen. «C’est de la merde», sagt er, Mist sei das.

Ür stellt im Williamsburg Art & Historical Center aus. Die japanische Malerin Yuko Nii hat es vor drei Jahren in einer ehemaligen Bank nahe der Brücke eröffnet. Kunstschaffenden stellt sie Ausstellungsräume zur Verfügung, führt Theaterstücke und Tanzdarbietungen auf, organisiert Lesungen. Ihr Ziel: alte und junge Künstler zusammenzuführen. Williamsburg habe mehr zu bieten als Avantgarde. «Es gibt 80-jährige Künstler, die lebten 80 Jahre hier.»

Nii fügte ihrem Zentrum das Attribut «historisch» an, da von Williamsburg aus die USA besiedelt wurden, der Ort auf eine reiche Geschichte zurückblicke. So hat ein Zehntel des amerikanischen Vermögens hier seinen Ursprung. Die US-Zuckerindustrie begann einst in Williamsburg, genauso der Schiffsbau, der Viagra-Mischer Pfizer Pharma und der multinationale Ölgigant Standard Oil.

Yuko Nii kam vor vierzehn Jahren, «als sich die Leute auf offener Strasse Kugeln ins Gesicht schossen». Direkt vor ihrem Haus hätte die Mafia reinstes Kokain und Heroin verkauft. Süchtige und Dealer reisten von Manhattan, New Jersey oder Philadelphia an und wurden high. «Es war gefährlich, dunkel, dreckig, es roch nach Urin, nach Blut und Dreck.»

Dann sah Nii zu, wie Williamsburg aufblühte und dieselbe Entwicklung in Gang kam wie in vielen Künstlerorten: Ein heruntergewirtschaftetes Quartier wird von Künstlern entdeckt und aufgepäppelt. Galeristen folgen, dann Bars, schliesslich Boutiquen und Yuppies, am Schluss nationale Ladenketten. «Wir sind bei den Bars angelangt», sagt sie. Und zuversichtlich: «Dabei bleibts.»