Eyes Wide Shut – Unerbittlich intensiv

Traumwandlerische Tour de Force: Mit «Eyes Wide Shut» ergründet Stanley Kubrick die menschlichen Lüste.

Von Peter Hossli

Sex verkauft. Erst recht, wenn zwei schöne Stars zur Sache gehen. Zuhauf druckten deswegen bunte Magazine monatelang wildeste Gerüchte von bizarrer Erotik. Die würde alsbald Kinoleinwände erfassen und das Publikum masslos erregen. Von Porno war im Internet die Rede.

Krude besorge es All-American-Boy Tom Cruise («Top Gun») seiner Gattin, der australischen Schauspielerin Nicole Kidman, im Kinofilm «Eyes Wide Shut». Die Kamera äuge unaufhörlich. Bedient vom grandiosen US-Regisseur, dem Rätsel Stanley Kubrick. Berichte vom endlosen und skandalumwitterten Dreh in London heizten die überspitzte Geheimnistuerei zusätzlich an. Gewisse Einstellungen drehte der Perfektionist sechzigmal. Nicht wie vorgesehen fünf, sondern achtzehn Monate dauerte die Filmerei. Im Magen von Hauptdarsteller Cruise wucherte stressbedingt ein dickes Geschwür. Obendrein starb Kubrick im März einen sagenumwobenen Tod – Tage nachdem er den Film fertig gestellt hatte. Das perfekte Mysterium.

Letzte Woche gelangte «Eyes Wide Shut» in die US-Kinos. Gelüftet wird Geheimnisvolles, entblösst werden Falschmeldungen. Sex in Nahaufnahme gibts kaum. Stattdessen dominiert protestantisch kalte Erotik vom perfekten ersten Bild bis zur umwerfenden letzten Dialogzeile. Ein brillanter Cruise agiert neben einer koketten Kidman. Kühn, komplex und auf allen kinematografischen Ebenen ausgefeilt, ergründet Kubricks traumwandlerische Tour de Force die menschlichen Lüste. So intensiv er in «Full Metal Jacket» Krieg oder in «A Clockwork Orange» Gewalt erforschte, so unerbittlich studiert er in seinem intimsten, berührendsten wie autobiografischsten Film ein weites, bis anhin im Kino unbeschrittenes Feld: ausserehelichen Sex innerhalb einer guten Ehe. Wie stets bei Kubrick überlappt dabei das Unbegreifliche die Vernunft.

Tom Cruise spielt Bill Harford, einen wohlhabenden New-Yorker Arzt. Er liebt seine Frau Alice (Kidman), eine arbeitslose Galeristin. Die Beziehung des sexuell experimentierfreudigen Paars scheint befreit von Konventionen. Er schaut in den Spiegel, dahinter sitzt sie auf dem Klo und pinkelt. An der Weihnachtsparty eines reichen Freundes flirtet Bill mit aufreizenden Models, Alice betört beim Walzer den ungarischen Charmeur.

Nach der Fete, der Joint im Schlafzimmer macht duselig, bläut Alice ihrem Bill ein, heimlich Lust für einen Seemann zu empfinden. Überdies wüssten Männer nichts über weibliche Treue. Bill erzürnt. Irre vor Eifersucht, begibt er sich auf eine Odysee durch Greenwich Village. Er will, wonach Alice gelüstet: Sex mit Fremden.

Traumartig fängt Kubrick diese männliche Gier ein. Sie führt den aufgedonnerten Doktor zur gutmütigen Hure, zum Nymphchen, dann in einen orgiastischen, von maskierten Gestalten betriebenen Geheimkult ausserhalb der Stadt.

Körperliche Befriedigung findet allerdings die Daheimgebliebene. Bill bleibt Voyeur. Sex hat er keinen. Alice hingegen träumt im Bett von unvergleichlichen Erregungen und grenzenlosen Orgien.

Die Erkenntnis der unterschiedlichen Untreue: Die Wirklichkeit einer einzigen Nacht kann den Lauf der Dinge eines Lebens nicht umkrempeln. Und ein Traum ist nicht mehr nur ein Traum. Kubrick und Drehbuchautor Frederic Raphael übernahmen diesen Trapezakt fast wörtlich vom Wiener Autor Arthur Schnitzler. Der Freund von Sigmund Freud erzählte 1925 in der «Traumnovelle» von der traumhaften Wirklichkeit des Arztes und dem wirklichkeitsnahen Traum seiner Frau. In Schnitzlers Fin-de-Siècle-Wien heisst das frivole Paar Fridolin und Albertine. Und es ist jüdisch. Bei Kubrick, dem Juden aus der Bronx, fällt im Fin-de-Siècle-New-York hundert Jahre später das Jüdische weg. Kubrick wollte keine jüdische Anspielungen. Das lenke vom Thema ab.

Der detailversessene Filmer inszenierte, wie Schnitzler schrieb: kühl, stringent und präzise. Jede Sequenz unterlegt er vieldeutig. So dekorierte er die Wohnung von Bill und Alice mit eigenen Möbeln und Bildern seiner Frau, der Malerin Christiane Kubrick. Tom Cruise, dem zuweilen Homosexualität nachgesagt wird, lässt er in der einzig erotischen Szene mit dem schwulen Hotelportier schäkern.

Kubrick hasste es, seine Filme zu deuten. Offen lässt er, ob der vieldeutige manipulative Thriller als Traum zu verstehen ist. Denn der bedächtige Rhythmus und die exakte Farbtönung – rot, weiss, blau – erinnern an den Polen Krysztof Kieslowski und den Amerikaner Quentin Tarantino. Beide Filmer bewunderte Kubrick.

Im Gegensatz zum Rest der Welt läuft in den USA eine verstümmelte Version. Schwarze, digital eingefügte Figuren verdecken bei einer Orgie kopulierende Körper. Der US-Verleiher bestand da-rauf. Kritiker verteufelten den Eingriff. Kubrick selbst ordnete ihn an. Sein Film schildert eine verklemmte Gesellschaft, in der nur wenige Zugang zur Lust erhalten. Mit dem Kniff bezichtigt er Amerika der sexuellen Unreife.

Schuldig bleibt Kubrick seine Meinung zum Ehebruch. Denn moralische Lektionen gibts in seinen brüchigen Kunstwelten nie. Weder im Krieg noch beim Wett- rüsten, nicht mal beim Lolita-Sex. Statt dessen löst er das vermeintlich Skandalöse – hier den Ehebruch – meist aberwitzig auf. Kubrick akzeptierte nur einen Skandal: den Holocaust. Darüber drehte er keine Filme. Alles andere ist für ihn menschlich und irgendwie legitim.